@libre: Versuch einer Antwort
Zunächst ein bekanntes Beispiel:
Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch unterwegs kommen ihm Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht´s mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er "Guten Tag" sagen kann, schreit ihn unser Mann an: "Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel".
Wieder in seiner Wohnung sitzt er da mit seinem Bild in der Hand – enttäuscht und verzweifelt über seine Mitmenschen. Und er beschließt ganz fest: "Nie wieder sprech ich einen an!"
(Aus: Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein)
Hieraus lernen wir, daß wir unser eigenes Unglück nach bestem Wissen und Gewissen selbst zurechtzimmern ;-).
Der Mann im Beispiel hat erstaunliches geleistet: Innerhalb kürzester Zeit hat er sich davon überzeugt, dass der Nachbar ein höchst unangenehmer Zeitgenosse ist, dem nicht zu trauen ist und der nur Böses im Sinn hat. Ob dem jetzt tatsächlich so ist, oder nicht, spielt keine Rolle.
Als Konstruktivist gehe ich davon aus, dass es keine Objektivität im strengen Sinn gibt - es gibt keine allgemein verbindliche Wirklichkeit. Wir können uns unserer eigenen Wahrnehmung nie sicher sein. Die Welt findet nur in unserem Kopf statt. Zumindest der grösste Teil. Eben durch die Bewertungen, die wir über Situationen und Systeme vornehmen. Beeinflusst von Erfahrung, Präferenzen und allgemeiner Gemütsverfassung.
Der Mensch bewegt sich sozusagen im 'Trial-And-Error'-Verfahren durch die Welt und konstruiert sich dabei eine Vorstellung wie die Welt aussehen muss. Seine Vorstellung wird immer feiner und ausgefeilter, er wird immer weniger 'Errors' erleben, da er sich auf seine gemachten Erfahrungen stützen kann. Allerdings hat er nie die Gewissheit, alle möglichen (gangbaren/viablen) Wege durch die Welt gefunden zu haben. Zudem kann er nicht darauf schliessen, daß seine konstruierte Welt ein Abbild der ontologischen Wirklichkeit ist. Ziel von Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissenschaft ist also nicht eine möglichst 'wahrheitsgetreue' Vorstellung der ontologischen Welt, sondern das Erfinden einer Welt, die viabel, bzw. brauchbar für zielstrebiges Handeln ist.
Daraus folgt aber nicht, daß der Begriff der Objektivität nun gänzlich gestrichen wäre:
Wie gezeigt, konstruiert sich der Mensch aus den Eindrücken von aussen eine eigene, kohärente Wirklichkeit. Gleichzeitig konstruiert er sich selbst. Er distanziert sich von der geschaffenen äusseren Wirklichkeit und schreibt sich selbst bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten und Funktionen zu.
Tritt ein anderer Mensch auf, unterschiebt der erlebende Mensch automatisch sein eigenes Handeln und Denken dem anderen. Er nimmt an, dass der andere in ähnlicher Art und Weise handelt. Dabei prüft er kontinuierlich, ob seine konstruierte Wirklichkeit noch kohärent ist und passt sie gegebenenfalls an (Viabilität). So helfen die Bestätigung eines eigenen Erlebnisses durch sprachliche Interaktionen mit einem anderen und die erfolgreiche Interpretation der Handlungen anderer mit Hilfe eigener kognitiver Strukturen, die Vorstellung der 'Wirklichkeit' zu erhärten.
Und da kommt die Objektivität wieder ins Spiel: Wenn die Begriffe und Vorstellungen eines Menschen sich auch in den Modellen anderer Menschen als viabel erweisen, dann geniessen sie eine Gültigkeit, die als 'objektiv' bezeichnet werden kann.
Objektiv nach konstruktivistischer Auffassung sind also schlicht jene Meinungen und Vorstellungen, die von möglichst vielen Menschen geteilt werden.
Damit sind wir jetzt in der Lage, unserem Unglück zu begegnen:
"So wie ich die Lage sah, war es ein Problem; nun sehe ich sie anders, und es ist kein Problem mehr."
Von dieser Äusserung läßt sich einerseits sagen, dass sie die Quintessenz eines Wandels darstellt; andererseits könnte man sehr wohl einwenden, dass sich nichts 'wirklich' verändert habe - ausser bestenfalls etwas so Subjektives wie eine 'Ansicht' oder eine 'Einschätzung'.
Die Wahrnehmung der Wirklichkeit kann sich also ändern, ohne dass sich in der ontologischen Wirklichkeit etwas verändert, weil der Mensch eben nur die konstruierte Wirklichkeit angepasst hat. Und dies als Reaktion auf eine veränderte Wahrnehmung, bzw. weil ein 'Error' aufgetaucht ist und ein neuer Weg gefunden werden muss, um die geschaffene Wirklichkeit kohärent halten zu können.
Auf real vorkommende "Missetaten" eines anderen hat das leider keinen Einfluß :-(.