Vollkommene Perfektion
Michael von Trout hatte auf einen Unterschied zwischen "Vollkommenheit" und "Perfektion" hingewiesen. Ich sehe bei den Worten keinen Unterschied. Vollkommenheit ist die Beschreibung von etwas, das vollkommen ist. Etwas ist voll-kommen, wenn es in die Vollendung gekommen ist. In die Vollendung kommt etwas, wenn es in die Fülle seines Wesens eingetreten ist. So ist ein Tisch dann vollkommen, wenn er nicht umkippt, wenn ich etwas darauf stelle, wenn ich meine Knie unter seiner Tischplatte unterbringen kann, und wenn er übermorgen nicht ikeahaft wegen Materialermüdung zusammengebrochen st.
Perfektion sagt genau dasselbe: das (lat.) per-ficere ist ein facere, ein Machen, ein Herstellen, das "per-", nämlich "durch"-gemacht ist – nämlich bis zum Ende, bis es nichts mehr an ihm zu machen, herzustellen gibt. Der perfekte Tisch ist also der vollendete Tisch.
Wenn beide Begriffe dasselbe bedeuten, muss der Japaner, mit dem Michael von Trout gesprochen hat, auf etwas anderes hinaus gewollt haben.
Klar ist – meine Vorrednerinnen und Vorredner hatten darauf hingewiesen - , dass es im menschlichen Bereich keine Perfektion gibt. Der Mensch ist das unperfekte Wesen, weil er nie "durchgemacht" sein kann, also bis zum Ende hergestellt. Dennoch leuchtet Perfektion (mit all den Facetten, die kyto genannt hat) wie eine helle Fackel vor unserem Tun her. Dabei ergibt sich aber ein Problem: solange wir nach Perfektion streben,
empfinden wir einen Mangel. Wir spüren uns als defizitär. Und wenn uns dann klar wird, dass wir die Perfektion nie erreichen können, wird das Mangelempfinden chronisch, Trauer greift um sich. Und noch ein Weiteres geschieht: indem wir unser Tun auf ein in der Zukunft liegendes (unerreichbares) Ziel ausrichten, verlieren wir dabei die
Gegenwart. Wir verlernen die Freude an dem, was ist, durch die Trauer über das, was noch nicht ist, über das, was zur Perfektion noch fehlt.
Ich weiss nicht, ob von Trouts Japaner eine asiatische Kampfsportart betrieben hat. In unseren Augen sieht das ständige Üben des Sports nach Streben nach Perfektion aus. Im asiatischen Denken wäre es genau dieses Streben, dieses "perfekt sein Wollen", dieser Drang des Egos, das für eine Millisekunde den harmonischen Schwung des Körpers und seiner Waffen stört – und damit dem Gegner die Chance zum (früher tödlichen) Stoss gibt.
Die Frage nach dem Streben nach Perfektion im Zusammenhang mit Sub-Sein ist tiefer aufgehängt. Wenn der Massstab dessen, was "Perfektion" heissen soll, von Dom gesetzt wird, und Sub nichts anderes tut, als diesem vorgegebenen Idealbild nachzuhecheln, wird es meist destruktiv. Die Gründe liegen – wie schon anklang – im Streben von Sub, Dom
es recht zu machen. Und warum? Weil Sub glaubt, so sich Doms Zuneigung versichern zu können. Sie gerät damit in den Teufelskreis, immer wieder ihre eigenen Bedürftigkeiten negieren zu müssen, was sie frustriert sein und die Unlust steigen lässt, Doms Bedürftigkeiten zu bedienen.
Positiv lässt sich das Streben nach Perfektion besetzen, wenn Sub den Ehrgeiz hat,
in einem bestimmten Licht zu erscheinen. Früher etwa gab es in höfischen Kreisen eine Etikette. Jemand, der als Diener in Diensten eines Fürsten war, konnte nach Perfektion streben: der "perfekte" Diener zu werden. Dies hieß nichts anderes, als dass er bestrebt war, die erwünschten Umgangsformen zu erlernen und im Schlaf zu beherrschen. Solche Umgangsformen waren der Willkür des einzelnen Fürsten entzogen – sie waren an den Höfen Europas verbindlich.
Einen ähnlichen Perfektionstrieb hätte man etwa entwickeln können, wenn man Hofdame war. Die Rolle einer Hofdame auszufüllen erforderte einiges an Kenntnissen von Umgangsformen und Verhaltensregeln (und französischer Sprache). Das Resultat war ein
Kunstwerk aus Stil.
Als drittes Beispiel nenne ich die japanische Geisha, die eine gewisse Nähe zu einer Sub hat.. Auch sie konnte nach Perfektion streben, weil es klare Regeln gab, die so differenziert waren, dass meist eine mehrjährige Ausbildung nötig war, um als Geisha akzeptiert zu werden.
Das Problem, ein solches Bild auf eine heutige Sub zu übertragen, ist natürlich dies, dass es keinen verbindlichen Katalog von Verhalten und Kenntnissen – also eine Art "Knigge" - für eine Sub gibt. Ohne verbindliche Rollenmuster läuft das Streben nach Perfektion ins Leere, da das Ziel der Perfektion nicht definiert ist.
Gäbe es eine verbindliche Rolle für Sub, bedingt diese allerdings eine ebensolche für Dom. Auch Dom müsste sich Regeln unterwerfen und hätte Anlass, nach Perfektion im Befolgen dieser Regeln zu streben.
Aber die Zeiten der Etikette, des Benimms und des Stils sind unwiederbringlich verloren. Denkbar ist es, dass ein Dom-Sub-Paar spielerisch und liebevoll
sich selbst Regeln gibt. Es gibt ja ein paar literarische Vorbilder, aus denen sich Ideen für solche Regeln schöpfen lassen.
stephensson
art_of_pain