klassisches Tantra
EmyEtLaVie, danke für den zuvorigen Beitrag, einiges sehe ich doch ganz ähnlich...
Danke auch für die ganze Diskussion hier, hat es mich jetzt doch auch inspiriert, einmal meinen Senf hinzugeben und gewissermaßen eine Lanze für das historische, klassische Tantra zu brechen, denn dieses tauchte in der Diskussion meines Erachtens nach sehr wenig auf... sicherlich auch, weil es vielleicht schlichtweg nicht so effekthaschend ist, wie Tantra bei uns im Westen häufig wiedergegeben wird... und es zudem einiges an Tiefe und Disziplin abverlangt...
Die hierzulande vermarktete Erscheinungsform des Neo-Tantra betont häufig völlig scheuklappenmäßig alleine jene oft abstrus-anmutenden Praktiken, die im klassischen Tantra e-i-n-e Methode unter unendlich vielen anderen Methoden darstellten. Doch leider wird diese furchtbar einseitige „Gebütsmühle“ häufig unentwegt weitergedreht, stets geht es dann um „göttlichen Sex, Tabubrüche, Revolte, etc...“. Damit decken sich diese Inhalte dann recht gut mit denen der Boulevardblätter am Kiosk oder der nachmittäglichen Volksverdummungs-Sendungen im TV. Es erregt eben sofort Aufmerksamkeit, es verkauft sich einfach gut, ganz egal was daran stimmt oder nicht...
Zwar gehe ich hoffnungsvoll davon aus, dass es durchaus auch Anbieter von neo-tantrischen Seminaren gibt, die eine wirklich gute und wertvolle Schulung anbieten (den genannten Anbieter und die Autorin will ich dabei in keinster Weise beurteilen, denn ich kenne sie schlichtweg nicht persönlich...), doch leider reicht das wohl nicht aus, denn die generelle Meinung über „Tantra“ erscheint mir immer wieder völlig verdreht...
Sehr vereinfacht ausgedrückt geht es in den historischen, klassischen tantrischen Schulen (über die verschiedenen Religionen hinweg, denn Tantra war zu Beginn vermutlich eine lose Bewegung, die sich außerhalb von religiösen Institutionen entwickelte, doch dann v.a. im 8. – 12. Jahrhundert verschiedenste indische Religionen selbst in ihren institutionalisierten Formen sehr stark beeinflusste – es wurde so vereinzelt gar „Staatsreligion“ in diversen kleinen Königreichen...) darum, das eigene Leben grundsätzlich zu hinterfragen. Es geht darum, mehr und mehr aus dem Netz von ton-angebenden Gedanken und einengenden Gewohnheiten auszusteigen, um den Geschmack eines vollkommen freien Geistes zu erfahren. Hierbei ist ein tantrisches Leitmotiv, dass ein derartig rundum freier Geist an sich bereits nach tiefem Glück „schmeckt“, ohne dass irgendetwas hinzugefügt werden müsste. Im Laufe der Jahrhunderte wurden nun eine unüberschaubare Anzahl von Methoden entwickelt, mit denen man diesem freien und freudvollen „Naturzustand“ auf die Schliche kommen könne. Bei den meisten tantrischen Methoden steht dabei der Fokus auf den reinen Sinneswahrnehmungen im Vordergrund. Dies liegt nahe, denn generell empfinden viele von uns z.B. auch beim "alltäglichem Sex" bereits eine wertvolle Auszeit von den üblichen Gedankenspielen und Alltagssorgen, da unser Geist in diesen Momenten quasi wie von Sinneseindrücken geflutet wird. Doch ziehen wir aus klassisch tantrischer Sicht einen falschen Schluss, wenn wir nun annehmen, die tatsächliche Ursache für diese Freude und Freiheit sei der Sex gewesen. Vielmehr stellt Sex ein mögliches und sehr kräftiges Sinnes-Tor dar, durch das wir erfahren können, was wir im tiefsten Kern bereits unentwegt sind – d.h. wenn wir die Gedanken einmal ziehen lassen und in der gesamten Kraft unseres Wesens einfach völlig präsent gesammelt sind. Dabei ist eine tantrische Grundaussage, dass jegliche Sinneswahrnehmung in ihrem allerersten (und damit noch freien) Moment nach tiefer Freude schmeckt. Stark vereinfacht dargestellt trifft in diesem ersten Moment pure Energie auf unser noch unvoreingenommenes, offenes Bewusstsein, es ist der „pure Sex“, der „erste Kontakt“ an sich. Dieser Moment ist jedoch so flüchtig, dass wir ihn gewöhnlich kaum je im Leben erfahren, denn stets verstricken wir uns unmittelbar in Bewertungen, Gedanken, Wünschen, Folgeemotionen etc...
Mal anders ausgedrückt: Letztendlich geht es im klassischen Tantra darum, das gesamte Leben frei und freudvoll „zu tanzen“. Egal was sich auch im Leben ereignet, alles kann als "Melodie" erfahren werden, die uns zu einem "Tanzschritt" einlädt, der uns spontan beglückt... Wenn ich das jetzt mal ganz bildlich aufgreife:
Ich gehe montagsmorgen, 7:00 Uhr, aus dem Haus und nach nur ein paar Metern sehe ich einen dicken Hundehaufen vor mir auf dem Gehweg liegen. Wie könnten 3 mögliche Reaktionen (unter unzähligen anderen Möglichkeiten) aussehen?
A/ Ich rege mich furchtbar auf, denn es ist Montag, ich bin sowieso schon genervt und unausgeschlafen und jetzt hat „
Nachbar XY auch wieder seinen Scheißköter auf den Gehweg kacken lassen! ...“. Nach diesem Tagesbeginn wird vermutlich auch der weitere Montag ziemlich Kacke verlaufen..., oder:
B/ Ich sehe den Hundehaufen… und tanze ganz spontan einfach den Salsa-Tanzschritt, den ich vergangenes Wochenende gelernt habe, um den Hundehaufen herum. ...wunderbar leicht und unbekümmert ziehe ich von dannen...(und dies wäre wohl die „tantrischste“ unter den genannten 3 Reaktionen hier...die jedoch auch völlig anders aussehen könnte...), oder:
C/ ich bin überzeugt, dass es im „Tantra“ stets um Tabubrüche geht und deswegen trete ich voller Absicht mit meinem Schuh direkt in den Hundehaufen hinein und zeige dies auch noch voll stolzer Erhabenheit dem angewiderten Passanten neben mir...
Super Aktion!... jedem das seine...
Zwar stimmt es, dass sich Tantra historisch gesehen vermutlich erst einmal als eine Revolte gegenüber dem „Establishment“ entwickelte. Doch die Frage ist, welches Establishment ist damit im Kern eigentlich gemeint? Im Grunde ist es das „Establishment“, das
ich selbst in mir erschaffen habe (z.B. meine starren Überzeugungen, Sorgen, Ängste, beklemmenden Wunschphantasien, etc.) und mit dem ich mir tagtäglich selbst verhindere, mein Leben frei und unbekümmert zu erfahren (wenngleich dies zu Beginn auch sehr riskant erscheint... aber das ist das Leben nunmal, es ist immer riskant, denn es wird eines Tages enden...).
Ein Tabubruch ist im Kern keine Revolte gegenüber der Außenwelt, sondern vollzieht sich tief im Inneren, wenn ich meine eigenen Ketten sprenge und so das Tor öffne, mich freier zu entfalten und dem gesamten Leben offener zu begegnen. Damit im Einklang lebte ein Großteil der bedeutendsten tantrischen Meisterinnen und Meister über die Jahrhunderte hinweg auch völlig unerkannt inmitten der Gesellschaften um sie herum. Denn wenn alle Energie in ihrem freien Kern die gleiche Freude in sich trägt, gibt es einfach keinerlei bestimmte Form, die man als
die beste ansehen kann oder die gar zu vermarkten wäre. Es gibt einfach keinen Drang mehr, sich hervorzutun, aufzufallen oder den Revoluzzer verkörpern zu
müssen…