Das Eigene und das Fremde
Hank42 schrieb in seinem nachdenkenswerten Beitrag:
"Mich verblüfft immer wieder, wie sehr die Suche nach dem eigenen Weg von Fremdsteuerung beeinflusst wird."
Ich versuchte zu spüren, ob ich diese Verblüffung nachvollziehen kann. Ich entdeckte genau das Gegenteil: es würde mich verblüffen, wenn es
nicht so wäre.
Wir Menschen sind keine Individuen (was übersetzt "Unteilbare" heisst), sondern immer nur
in Bezug zu anderen und Anderem. Unser Leben beginnt bereits so: wir sind als Säuglinge nichts ausserhalb des Bezugs zur Mutter. Später beginnen wir, ein Bild von uns zu entwickeln, und diese Entwicklung geht parallel zur Entwicklung unseres Sprachvermögens. Sprache aber lernen wir wiederum
in einem Bezug zu anderen – deshalb heisst sie auch "Muttersprache".
Und wenn wir zwölf, dreizehn Jahre alt sind, ist alles, was wir von uns denken, fühlen oder wissen, hervorgebracht durch unsere Auseinandersetzung mit anderen. Alles, was wir keimhaft-dunkel in unserem Wesen ursprünglich getragen haben, formt sich in seiner bestimmten sichtbaren Gestalt nur in der Auseinandersetzung mit anderen, mit der Gesellschaft im allgemeinen, aus.
Später dann mögen wir entdecken, dass unser Selbstbild gar nicht von uns selbst hervorgebracht wurde, sondern dass es bestimmt ist durch Glaubenssätze und Wertvorstellung anderer. Wenn wir dann an dieser Enge zu leiden beginnen, stellen wir uns die Frage,
wer wir selbst eigentlich sind – und diese Frage kann der auslösende Impuls zur Suche nach unserem eigenen Weg werden.
Was Hank für den Bereich des BDSM beschreibt, gilt für das menschliche Leben allgemein: die Suche nach dem eigenen Weg begleitet unser Leben. Das Abstreifen von Fremdbestimmung, das Loslassen von fremden Wertmassstäben und die Hinwendung zu mir selbst, zur Frage: was will
ich selbst denn eigentlich?, gehört zum geistigen Reifeprozess des Menschen. Menschen sind da sehr verschieden: Manche sterben, ohne sich jemals Gedanken über das gemacht zu haben, was sie selbst eigentlich wollen, andere wiederum setzen sich genau dies als höchstes Ziel.
Aber selbst wenn wir uns fragen, was wir denn selbst wollen, sind wir bezogen auf die Angebotspalette von Verhaltensmöglichkeiten, die unsere Welt uns zur Verfügung stellt. Immer orientieren wir uns an dem, was "geht", was andere tun oder lassen. Wir fühlen uns von etwas angesprochen, unser Inneres kommt damit in Resonanz, und wir beginnen, es für uns anzueignen.
Auch das "ganz eigene BDSM" ist niemals "ganz eigen", sondern vielfach geprägt durch das, was wir an anderen erlebt oder von und über andere gelesen oder geschaut oder gehört haben. Und selbst wenn wir uns am Ende von allen Vorstellungen des "Perversen" befreit haben, wenn wir alle Ängste, ob unseres Verlangens "dumm angeschaut" zu werden, fallen gelassen haben, bleibt das "ganz Eigene" doch auf den Partner bezogen, dem es ja mit unseren Lüsten gut gehen soll. Deshalb spricht Hank auch zu Recht von BDSM-
Beziehung. Der Partner ist die letzte Schranke des Selbstsein-Könnens.
Ich kann mich auch von dieser Schranke befreien – in der Folge werde ich frei, aber einsam sein.
Die Suche nach meinem "eigenen Weg" wird also mindestens von der Fremdsteuerung durch meinen Partner beeinflusst. Im Unterschied zu Hank würde es mich eher verblüffen, wenn ich einen Menschen träfe, der sich auch noch von dieser Fremdsteuerung befreit hat.
Ich lese Hanks Gedanken so, dass zwei Menschen, die in einer Partnerschaft ihr Glück suchen, die Leitlinien ihres Handelns aus ihren eigenen Bedürfnissen und nicht aus äusseren Wertmassstäben gewinnen müssen, soll denn ihre Suche nach Glück erfolgreich sein.
E ist jedoch ein allgemeiner Reflex von uns Menschen, dass wir immer dann, wenn unser Partner unsere Bedürfnisse nicht erfüllt, wir versuchen, ihn dazu zu zwingen, indem wir auf andere, auf Allgemeines verweisen ("Schau mal, jene Sub hält doch auch locker fünfzig Hiebe aus – warum zickst du da so herum?"). Der Blick nach den Anderen, nach dem "man", geschieht also immer dann, wenn wir verunsichert sind, wenn unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden. All diese Mechanismen gelten nicht nur für BDSM, sondern sind dem Leben im Allgemeinen inhärent. Denn kaum etwas ist schwerer als ein unerfülltes oder unerfüllbares Bedürfnis aufrechtzuerhalten, das von
niemandem ausser mir geteilt wird. Die hierfür notwendige Stärke – Souveränität – aufzubringen, fällt den meisten Menschen schwer. Deshalb flüchten sie sich in die Orientierung an das, was andere tun – etwa hier im JC.
Die von Hank kritisch beäugte "Fremdsteuerung" ist so fremd nicht. "Klar", schreibt Hank, "wir haben alle Techniken und Sessions von anderen ab- und angeschaut. Das ist aber nur Handwerk." Ist es wirklich "nur" Handwerk? Ist es nicht vielmehr so, dass das "Anschauen" oft in uns erst unser geheimes Verlangen an die Oberfläche gebracht hat? Ist es nicht so, dass genau das Anschauen anderer in uns die Lust hervorbringt: genau das will ich auch erleben oder mit meinem Partner anstellen? Wird so die Fremdsteuerung nicht zur Eigensteuerung?
Die Frage etwa: "Bin ich als Sub belastbar genug?" lässt sich nicht nur als Selbstaufgabe und Fremdsteuerung deuten. Sie reagiert zunächst auf eine Erwartungshaltung des Dom, der eine belastbare Sub (schreckliches Wort) will. Sub hat Angst, seine Zuneigung zu verlieren, wenn sie nicht belastbar genug ist. Ihre Frage nennt ihren inneren Konflikt: Bleibe ich so unbelastbar, wie ich derzeit bin, verliere ich vielleicht die Zuneigung meines Herrn. Da mir aber an seiner Zuneigung viel liegt, will ich ihn nicht verlieren. Was soll ich tun?"
Der hier im JC oft gegebene gut gemeinte Hinweis: Bleib, wie du bist! hilft nicht weiter, denn dann verliert Sub womöglich die Zuneigung des Herrn. Es
könnte sein, dass der Hinweis: "Die guten Subs sind viel belastbarer als du – also übe deine Belastbarkeit!" viel hilfreicher ist. Sub wäre motiviert, sich mit dem Aushalten stärkerer Schmerzen auseinander zu setzen, würde ihre Fortschritte bemerken, würde selbstzufriedener mit sich. Es
könnte sein, dass die "Fremdsteuerung" positiv ist. Es
könnte aber auch genau das Gegenteil eintreten: Sub würde sich einem ihr nicht gemässen Leistungsdruck unterwerfen, sich quälen, völlig unglücklich sein, dass sie den "fremden" Massstäben nicht genügen kann. Sie wird dann, wenn die Selbstqual gross genug ist, auf eine andersartige "Fremdsteuerung" zurückgreifen: "Höre auf dich selbst, schaue, was dir gut tut, knicke dein Verlangen nach der Zuneigung deines Doms und gehe deine eigenen Wege!". Solcherlei "Fremdsteuerung" setzen wir uns aus, wenn wir vom JC-Forum zu einem Selbstfindungsforum wechseln.
Wer von uns masst sich an, sagen zu können, welcher Weg für diese (imaginierte) Sub der richtige ist?
Das, was wir glauben, selbst zu sein, kann immer nur in Reaktion auf, Anlehnung an und Abhebung von Anderem, "Fremden" geschehen. Es ist ein Prozess, der nicht nur unser Leben begleitet, sondern unser Leben ausmacht. Alles andere würde mich verblüffen.
stephensson
art_of_pain