Bittesehr. Diskutieren Sie stringent, oder eben gar nicht. Alles andere führt zu der komischen Situation "Sandburg mit ohne Sand".
Es geht hier auch nicht darum, sich Lügen schön zu lügen, sondern um eine klare Handlungsmaxime. Weil's vielleicht etwas schnell ging, jetzt in Stop-Motion.
Wir leben in einer Gesellschaft und haben uns, um das Zusammenleben tragbar zu gestalten, Ordnung geschaffen. Grundlage dieser Ordnung ist das Anerkenntnis gewisser Werte. Nennen wir mal als prominentes Beispiel die Würde des Menschen. Ist zwar rechtsdogmatisch ein Grundrecht, also in der Beziehung Staat-Individuum verankert, gilt allerdings mittelbar auch zwischen den Ottonormalbügerlicheren. Ausdruck dessen ist es, daß wir das Gegenüber achten und respektieren, seine Würde also anerkennen.
Diese Achtung der abstrakten Würde setzt sich konsequent fort in der Achtung der Bedürfnisse der Person. Solche Bedürfnisse können sein, nicht mit der Unwahrheit konfrontiert zu werden, oder auch sonst nicht verletzt zu werden. Im Verhältnis der Individuen untereinander erwächst daher das Wertegefüge als Parallelität von Ansprüchen auf Achtung der Würde durch Achtung der Bedürfnisse und der korrespondierenden Pflicht auf Erfüllung.
Unter ökonomischen Gesichtspunkten bildet sich hier ein Gleichgewicht heraus, das den Nutzen optimiert. Die einzelnen Bedürfnisse werden einander so quantitativ wie qualitativ begrenzen, das Prinzip praktischer Konkordanz. Jedes Bedürfnis soll grundlegend verwirklicht werden dürfen, kein Bedürfnis darf im Kern berührt werden, es wird der unterschiedlichen Wichtigkeit der einzelnen Bedürfnisse Rechnung getragen.
Für die Gemeinschaft besonders wichtige Bedürfnisse verdienen danach besonderen Schutz. So wird etwa das Interesse an der Unversehrtheit der Ehre unter Strafandrohung bei Verletzung geschützt. Diesen Teil der Werteordnung bildet die Rechtsordnung. Ergibt also ein Abgleich einer Handlung oder eines Handlungserfolges mit dieser Rechtsordnung, daß die herausragend schützenswerten Bedürfnisse durch eine Handlung verletzt worden sind, dann wird die vorgeschriebene Sanktion verhängt.
Das führt zu zwei Feststellungen. Einmal gibt es verschiedene Wichtigkeiten/Wertigkeiten von Bedürfnissen, und es findet eine Bewertung statt. Und zwar die Bewertung einer Handlung.
Wenn eine Handlung der Bewertung zugänglich ist, darf man sie als aus sich heraus neutral ansehen. Den verkörperten Unwert erhält man erst anhand der Bewertung nach Maßgabe der in der Wertordnung normierten Verhältnisse der Bedürfnisse und Werte.
Liegt hiernach aber der strafbegründende soziale Unwert nicht vor, ist nicht zu strafen. Nehmen wir der einfacheren Darstellung geschuldet an, das liegt an mangelnder Erheblichkeit der "Rechtsgutsverletzung"; das Bedürfnis wird einfach sozial als zu gering bewertet. Es ist entweder nicht das strafrechtlich geschützte Gut Ehre betroffen, sondern "nur" ein Randbereich, oder der Eingriff ist nicht intensiv genug, oder gerechtfertigt.
Die Frage stellt sich nun, ob das Handeln trotzdessen zu missbilligen ist. Missbilligung wäre ein negatives Werturteil und um dahin zu gelangen, müssten wir begrifflich logisch eine Abwägung vorgenommen haben, als deren Ergebnis besagtes Urteil steht.
Das Prinzip der "einfachen" Ethik (also nicht der rechtsordentlichen) gründet nun, wie bereits dargestellt darauf, daß wir uns untereinander gewisse Werte zugestehen. Unter der Schwelle der Straferheblichkeit könnte also in Frage stehen das Bedürfnis nach Wahrheit der der Person entgegengebrachten Aussage.
Betrachtet man das nun punktuell, steht dem zunächst nichts entgegen, der Wert ist uneingeschränkt zuzuerkennen.
Nun hat es die Werteordnung aber so an sich, daß sie ein feines Gebilde der verschiedensten Werte ist. So möchte man nun neben dem Interesse, die Wahrheit gesagt zu bekommen, das Interesse des Aussagenden sehen, gerade nicht die Wahrheit sagen zu müssen.
Um diese Interessen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, ist die Bewertung der Interessen notwendig, um die Wertigkeit zu bestimmen. Auch diese Bewertung ist beim Werturteil objektiv anhand der objektiven Werteordnung auszumachen.
So möge etwa die Frage zwischen zwei Personen im Raum stehen, ob A dem B gefällt.
Es sind nun mehrere Szenarien denkbar. Gesetzt dem Fall, A gefällt dem B, könnte B die Wahrheit sagen oder lügen. Im Falle dessen, daß A dem B nicht gefällt, hat B wieder die beiden Handlungsalternativen.
Nehmen wir nun an, A gefällt dem B, dieser lügt nun aber und verneint die Frage. Das Bedürfnis der A, die Wahrheit gesagt zu bekommen, ist objektiv verletzt. Dem steht das Bedürfnis des B entgegen, lügen zu wollen. Die Bewertung ergibt, daß das Motiv der A war, sich einschätzen lassen zu wollen. Das Motiv des B, der ein notorischer Misanthrop und Soziopath ist, die A weinen zu sehen.
Die Bewertung ergibt nun, daß beide Bedürfnisse zunächst gleichauf stehen. Allerdings ist bei der Bewertung der Motivationslage des B zu berücksichtigen, daß er aufgrund seiner Handlung noch eine weitere Verletzung der A, nämlich an deren Selbstwertgefühl bezweckt. Die Verletzung anderer, um sich an deren Leid zu erfreuen, wird von der Werteordnung, die die Erreichung von positiven Gefühlen zwar grundsätzlich billigt, in dieser Form gerade nicht hingenommen. Das Interesse der A muß also das des B überwiegen. Seine Handlung ist ethisch zu missbilligen.
Nun könnten wir dagegen annehmen, die A gefällt dem B nicht. Sagt B die Wahrheit, verletzt er nicht das Bedürfnis nach wahren Aussagen der A. Die Aussage wäre unter dem Aspekt einwandfrei. Jedoch kommt nun hinzu, daß unter dem Ansehen des Sekundärkriteriums der Selbstwertverletzung aus dem ersten Beispiel, aus diesem nun ein Primärkriterium wird. Die Aussage persönlichen Nichtgefallens, Ablehnung, erzeugt nun ein Trauma, da der generelle Wunsch des Individuums nach Anerkennung mit der Wirklichkeit konfligiert. Dies jedoch vor dem Hintergrund einer formal einwandfreien Interessenlage.
Wenn man nun aber sieht, daß das System der Werteordnung skaleninvariant sein muß, um Allgemeingültigkeit zu erlangen, also nicht nur im Bezug auf die einzelnen Abwägungen verhältnismäßig in der konkreten Wertekollision, sondern darüber hinaus auch für das Individuum das verhältnismäßigste Mittel zu sein hat, dann ist das gefundene Ergebnis an sich selbst zu messen.
Wirklich billigenswertes Ergebnis kann also nur das sein, das unter Erreichung des formal "richtigen" Erfolges am wenigsten traumatisierend ist; die geringste Verletzung bei vollständig verbleibendem Bedeutungsgehalt der Aussage.
Und dabei muß man nicht so weit gehen, Extreme zu finden, und A eine Beinamputierte sein zu lassen, der B wahrheitsgemäß antwortet, daß ihm von dem Anblick schlecht wird. Es sei zu denken an den Fall, daß der höchstmöglich zu erhaltende Wert nicht ebenfalls nur das Selbstwertgefühl ist, sondern etwa eine etwaige Aufwendung Beachtung zu finden hat. A möge für B etwa auch sehr teure Lebensmittel eingekauft und mühevoll zubereitet haben. Das Mahl ist wenig gelungen.
Fragt A nun B nach dem Gefallen zur Person oder dem Essen wird B der Werteordnung auch mit der Aussage gerecht werden können, sie sei nicht sein Typ und das Essen sei nicht nach seinem Geschmack. Und das obwohl B dem Bedürfnis nach Wahrheit eigentlich nur mit den Hinweisen auf "Hässlichkeit" und "Brechmittelqualitäten" gerecht zu werden vermag.
Es geht im Endeffekt also nicht darum, daß immer gelogen werden muß, sondern darum, daß in einem bestimmten Rahmen dergestalt gelogen werden darf, daß die Handlung nach der Wertanschauung keinem negativen Werturteil zugänglich ist.
So, das zur Argumentation. Und nun noch ein paar Ergänzungen zum Drumherum:
Das mag, Caballito, ja verführerisch sein, mit unsauberer Argumentation die Hebelwirkung eigener Aussagen zu bestärken. Allerdings haben wir nicht die Behauptung aufgestellt, daß
1) Lügen stets zwingend sein müssen, oder
2) "vorher" irgendwer zugesagt hat.
3) Wenn wir objektive Hässlichkeit schreiben, dann meinen wir das auch so.