Angst und Urteil
Ich bin immer wieder erstaunt, wie friedlich es hier im JC zugeht. Da finden sich in den unermesslichen Weiten des Webs doch ganz andere Schauplätze von echten blutigen Hahnenkämpfen ....
Wieviel Konfrontation ich aushalten kann, ohne mit emotional gesteuerten Tiefschlägen zu reagieren, ist eine Frage meines Selbstbewusstseins und meiner Charakterstärke.
Die meisten Menschen haben noch nicht verstanden, dass
einzig und allein sie selbst es sind, die bestimmen, wer sie verletzten kann und wer nicht.
Wer sich hier also durch ein Posting eines anderen verletzt oder angegriffen fühlt, hat ein Bedürfnis, sich angegriffen zu fühlen.
Schriebe ein Schreiber hier in unsere schwarze Ecke: "Ihr BDSMler seid doch alle pervers und krank!" - sofort würden manche von uns, einem computergesteuerten Automaten gleich, aufjaulen. Ist uns bewusst, wie
unfrei wir uns selbst machen, wenn wir uns von anderen solche reflexhaften Verhaltensweisen aufzwingen lassen, die zudem zu nichts ausser gegenseitigen Beschimpfungen und Vorwürfen führen?
Viele von uns BDSMler fühlen den missionarischen Drang in sich, allen in ihren Augen verfehlten Urteilen sofort entgegentreten zu müssen. Warum? Dringend nötige Aufklärungsarbeit gelingt nicht mittels Konfrontation, gelingt nicht damit, einem anderen sein schwachsinniges unreflektiertes Denken vor den Latz zu knallen. Aufklärungsarbeit gelingt nur, wenn man den
Grund für unreflektierte Urteile durchschaut: Verunsicherung und Angst.
Niemand würde BDSMler für "pervers" halten, würde er sich nicht von den eigenen Gefühlen, die der Gedanke an BDSM in ihm auslöst, verunsichert und bedroht fühlen. Ihn ernst zu nehmen hiesse für uns, vorsichtig zu versuchen, ihm seine Ängste zu nehmen, die im Übringen mit uns nichts zu tun haben, für die er aber unser Treiben verantwortlich macht.
BDSM verängstigt viele Menschen, weil es sie an manche ihrer eigenen unterdrückten Lüste und an ihre Unfreiheit gegenüber ihrer eigenen Sexualität erinnert. Aber es fasziniert sie gleichzeitig, weshalb wiederum Fernsehsender mit dem Wort "Domina" auf dem Programmzettel ihre Einschaltquoten um zehn Prozent steigern können.
Es sind Mechanismen wie bei dem Nachbarn, der jeden Abend mit dem Fernglas die Wohnung gegenüber beobachtet, in der sich die junge Dame bei offenen Vorhängen im Negligé räkelt, und sich heftig bei allen über die verlotternden Sitten der Menschen beklagt. Seine Klage drückt seinen Schmerz aus, sich selbst solche lustvollen Freiheiten nicht zuzutrauen.
Schliesslich gibt es solche Situationen, in denen ein Gegenüber sich so sehr in seine Verbohrtheit hinein gesteigert hat, dass jedes Wort an die Wand gesprochen wäre. Geschieht so etwas in einem Forum, wäre die angemessenste Reaktion, zu
schweigen.
stephensson
art_of_pain