Kästchen und Häkchen
Wir leben ja im Zeitalter, das vielleicht mal als die "Multple-Choice-Zeit" in die Geschichte eingehen wird. Selbst Arzt kann man heute werden, indem man bei den Uni-Examina nur die richtigen Häkchen in die richtigen Kästchen setzt.
Und Software – auch unser virtuelller JC-Treffpunkt besteht ja nur aus Programmcodezeilen – liebt Kästchen, weil sie klare Ja/Nein-Entscheidungen liefern, mit denen die Software gut umgehen kann, weil sie auch auf Ja/Nein-Zuständen basiert.
Die Häkchen in den Kästchen sollen als Filterfunktion dienen, uns unseren Traumpartner zu finden. "Klick dir dein Glück!" klingt ja auch irgendwie modern. Nun könnten Kästchen präzise Dienste leisten, wenn es um präzise beschreibbare gewünschte Attribute ginge. Bartträger ja/nein, Haare hüftlang ja/nein, Körbchengrösse A ja/nein, Juraexamen ja/nein. Die Option "egal" liesse sich natürlich ebenfalls noch anfügen.
Die JC-Kästchen dagegen beziehen sich auf
erotische Vorlieben, ähnlich wie bei einer Speisekarte: 30 Gerichte mit Kästchen davor. Gesetzt, die Speisekarte ist die eines Gourmet-Restaurants: wer würde nicht gerne Häkchen in alle Kästchen setzten? Ich würde als Nicht-Fleisch-Esser wohl ein paar Kästchen leer lassen; vielleicht sähe das dann so aus, als ob ich gute Speisen verschmähte. Und so ein Häkchen in einem Kästchen sagt ja noch lange nichts aus,
wie oft ich die angekreuzte Speise pro Jahr zu mir nehmen will, und es sagt zweitens nichts darüber aus, ob meine Geschmacksnerven gebildet genug sind, die Speise aus einer Haute Cuisine von der eines MacDonald's zu unterscheiden.
Aber Häkchen turnen das Kopfkino mächtig an. Bin ich völlig genervt gerade aus einer Beziehung mit einer Frau herausgestolpert, die immer das letzte Wort, ständig "Migräne" und in der Arbeit viel zu viel zu tun hatte und sich dann noch ständig über meine auf dem Fussboden herumliegenden Socken beschwerte, mag mein Testosteronspiegel beim Anblick des Häkchens im Kästchen "devot" schon Werte jenseits des Messbaren erklimmen. Dumm dann, wenn das Objekt meiner Begierde unter ihrer erotischen Vorliebe "devot" bloß versteht, dass sie sich zweimal im Jahr, nach einem heftigen Telefonat mit ihrer Mutter oder ihrer besten Freundin an meine starke Schulter anlehnen will, weil dieser Gedanke sie unten rum erregt,
Die JC-Macher werden uns nicht verraten, was sie sich bei ihrem Kästchen-Spiel gedacht oder auch nicht gedacht haben. Andere Foren gehen hier bessere Wege: etwa 25 Fragen zu stellen, die man mit ganzen, einigermassen deutschen Sätzen beantworten muss. Allerdings lässt sich bei einer solchen Herangehensweise keine Filterfunktion der Suche realisieren.
Tony, unser Threaderöffner, ist ja leider bisher noch nicht auf youwillfindme's Bitte eingegangen, uns seine Erfahrungen zu schildern, die ihn zu seiner Frage gebracht haben. Solange müssen wir davon ausgehen, dass er uns gerne beim Grundsatzdiskutieren zusieht.
Häkchen oder Selbstaussagen, die Begriffe wie "devot" ins Spiel bringen, entbehren notwendiger Weise jegliche Präzision. Denn Begriffe sind immer allgemein und treffen nie das Besondere des So-Seins eines Menschen, seines Seelenlebens, seiner erotischen Neigungen. Gäbe es ein Kästchen für "mutig", wette ich, dass neunzig Prozent der Profilinhaber ein Häkchen setzen würde. Würden wir aber dann mit Kletterseil, Steigeisen und Rucksack unter der Eiger-Nordwand stehen, würde die Mehrzahl dieser Menschen sofort ihr Häkchen wieder wegklicken. Und wir könnten eine Grundsatzdiskussion darüber beginnen, was eigentlich "mutig" bedeutet.
agondapaar meinten, es gehe "darum sich selber zu definieren." Das Dumme ist nur, dass wir das wiederum nur verbal, also mittels Begriffen, tun können. Wir kommen also um die Frage, was ein bestimmter Begriff meint, nicht drum rum. Gute Diskussionen beginnen meist mit einer Verständigung auf die Bedeutung der gebrauchten Begriffe. Umgekehrt wären viele Beziehungsdramen vermieden worden, klärten die beiden Beteiligten zunächst einmal, was sie unter den gebrauchten Begriffen verstehen. "Du liebst mich ja gar nicht!" – "Aber Schatz, ich habe doch gestern die Waschmaschine repariert!"
Dasselbe gilt für unseren Aufenthalt im JC. Gäbe es einen grösseren Konsens über die Bedeutung des Wortes "devot", würde das Wort präziser von den Mitspielern gebraucht und einige Dramen vermieden.
Tiefe Einblicke in unser Seelenleben lassen sich in diesem Thread gewinnen: wenn man sieht, wie Menschen das von ihnen definierte Bedeutungsfeld eines Wortes so verbissen verteidigen, als gälte es Haus und Hof und Kinder vor einer einrückenden Besatzungsarmee zu schützen. Wir sehen, wie wir unsere Identitäten, also unsere Selbstbilder, um bestimmte Begriffe, so wie wir sie verstehen, herum gebaut haben, und der Angriff auf die von uns definierte Bedeutungssphäre gleichzeitig als Angriff auf unser Selbstsein empfunden wird.
Das erinnert mich ein wenig an Fussballfans, die ihr Selbstsein daraus gewinnen, einem bestimten Club zuzujubeln, und die Fans anderer Clubs ebenfalls spontan als Angreifer auf ihr Selbstsein ausmachen und diesen mindestens zwei leere Bierflaschen über die Rübe ziehen müssen.
Selbstdefinition – "definiere" heisst "abgrenzen" - ist immer zugleich eben auch eine Definition der anderen. "Du darfst das nicht sein, was ich bin, weil ich sonst nicht sein kann!"
In der Schule gibt es die Möglichkeit, junge Menschen dazu zu zwingen, sich einer allgemeingültigen Definition eines Begriffs unterzuordnen – etwa dem eines gleichschenkligen Dreiecks. Der Zwang erfolgt unter Androhung von Sanktionen in Form schlechter Noten. Diese Möglichkeit haben wir – zum Glück – im JC nicht. Drehen wir's doch 'rum: freuen wir uns an der Buntheit der unterschiedlichen Auffassungen eines Begriffs, denn sie spiegeln die Buntheit des Lebens wider. Und basteln wir – durch unsere geliebten Grundsatzdiskussionen – an einer Begriffsbestimmung, die so sexy ist, dass immer mehr Menschen sich ihr anschliessen und den Begriff künftig im Rahmen dieser Bestimmung gebrauchen und ihr Kreuzchen an der richtigen Stelle setzen.
stephensson
art_of_pain