Part II - Vergeltung
Anja hatte keine Höhle gefunden, in die sie sich für die Nacht verkriechen konnte, es war eher eine schmale Felsspalte, in die sie gerade so hinein passte. Sie war hundemüde, hungrig und durstig, sie blutete an der Schläfe und ihr taten alle Knochen weh.
Dazu kam die Ungewissheit, wo sie sich befand. Die nächtlichen Geräusche im Wald machten ihr als Stadtkind Angst.
Geboren in Berlin-Charlottenburg, jetzt wohnhaft in Wilmersdorf.
Das Jaulen – waren das Kojoten oder Wölfe? Okay, Wölfe gab es inzwischen auch wieder in Sachsen und Brandenburg und nach allem was sie wusste, mieden sie den Menschen.
Aber wussten das auch die Wölfe in den USA? Waren die vielleicht anders drauf?
Es gab doch diese Horrorgeschichten vom Schriftsteller Jack London, dass Wolfsrudel tagelang einen Menschen verfolgten, weil sie Hunger hatten.
Anja tröstete sich damit, dass sich dies vor über hundert Jahren in Alaska zugetragen hatte.
Beim ersten Sonnenstrahl des neuen Morgens suchte sie sich einen klaren Bach, um sich zu waschen und vor allem, um zu trinken.
Frühstück würde es nicht geben, die Beeren an den Sträuchern würden erst in zwei, drei Monaten reif sein, stellte sie resignierend fest.
Ungeachtet der Schmerzen im ganzen Körper lief sie weiter durch den dichten Wald, orientierte sich nach Süden, in der Hoffnung, irgendwann auf eine Straße nach Denver oder Breckenridge zu stoßen.
Anja machte am Mittag Rast, streckte sich aus und hoffte auf einen See, in dem sie endlich ihre schmutzstarrenden Klamotten waschen konnte.
Sie sah Zweige, die sich bewegten, hörte ein merkwürdiges Brummen und erstarrte zur Salzsäule wie einst Lot’s Weib.
Was war das?
Es war so riesig, dass man es für einen Elefanten halten konnte.
Aber freilebende Elefanten gab es hier in diesem Teil der Welt definitiv nicht. Was war es dann?
Ihr blieb nur die Chance, sich wieder einmal tot zu stellen und darauf zu hoffen, dass dieses Untier auf den Trick herein fiel.
Es war etwas anderes, Abenteuergeschichten von Jack London oder Karl May zu Hause im Sessel vor dem Kamin zu lesen, oder live in Amerika zu erleben.
Durch das Gebüsch brach ein riesiger Bär, tappte zum Bach, trank, beäugte die reglos daliegende Anja.
Dann stellte der Bär fest, dass von diesem Lebewesen keine Gefahr ausging und er trollte sich zurück in den Wald.
Anja hatte die Luft angehalten. Das größte Landraubtier, zumindest in diesem Teil der Welt, ein Grizzly!
Der hatte offenbar gut gefrühstückt – ansonsten wäre hier Ende Gelände gewesen!
Wie bei den beiden Folterknechten des FBI blieb sie regungslos liegen, bis sie sicher war, der Bär wäre weit weg.
Sie konnte nicht die Richtung beibehalten, die sie morgens eingeschlagen hatte, denn in Richtung Süden war der Grizzly gelaufen.
Anja entschloss sich, ein Stück nach Osten zu marschieren, überlegte es sich dann wieder anders.
Es war ein Fehler, denn nach einigen Kilometern wäre sie auf die Straße 191 gestoßen – was sie nicht wissen konnte, sie wähnte sich ganz woanders.
Julia hörte einen Schrei aus der anderen Höhle. Man hielt sie von den männlichen Geiseln getrennt.
Irgendetwas musste passiert sein! Vielleicht durfte sie ja bald zu Hasan und der würde sie aufklären…
Der Chef von ISAF ließ alles für einen neuen Video-Dreh vorbereiten, diesmal ohne Julia.
„Ich habe eine betrübliche Nachricht für alle Fans der Rockband The Shadowmen! Die Band ist jetzt kopflos – im wahrsten Sinne des Wortes!“
Hasan hielt den abgeschlagenen Kopf mit spitzen Fingern, als ob er sich ekelte, von sich gestreckt in die Höhe.
Die Kamera zoomte darauf. Ganz Amerika würde entsetzt sein und sich bestätigt fühlen in der Annahme, sie wären keinen Deut besser als die IS-Milizen in Syrien und im Irak.
„Es tut mir leid, aber dieser Frank Doneghan hat wiederholt den Propheten beleidigt! Bleiben noch zwei, die den Untergang der Westhälfte der USA verhindern können…“
In Breckenridge hatte man längst die Sachen gepackt und man siedelte in die Ortschaft West Yellowstone über.
Jürgen war der Meinung, dort wäre man Julia am nächsten.
Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis man die Terroristen dort orten würde und alle drei Männer hofften, Julia wäre dann noch am Leben.
„Was hälst du von der Sache mit dem Kernsprengkopf, Jürgen?“ fragte Markus besorgt.
„Halte ich für einen Bluff. Niemand ist so irre und verkauft so etwas. Wenn es zurück verfolgt wird, dann bedeutet es für Nordkorea das Verschwinden von der Landkarte und im Falle Russlands heißt das 3. Weltkrieg…Kann aber gut sein, dass die irgendwo eine genügend große Menge TNT platziert haben, was in Anbetracht der sensiblen geologischen Gegebenheiten im Yellowstone Park auch zu einer Katastrophe führen könnte!“
„Danke, Dr. Bergener! Hoffen wir mal, dass alles gut geht!“ sagte Markus.
Er hatte natürlich auch beim FBI angerufen, um sich nach dem Verbleib von Anja zu erkundigen, aber niemand fühlte sich zuständig.
Wenn sie irgendwo in U-Haft saß, hätte man es ihnen doch sagen können, damit er einen Anwalt beauftragen konnte.
Markus – selbst Jurist – fühlte sich verschaukelt, gab aber nicht auf.
Egal, was Anja getan hatte, sie war seine Mitarbeiterin, verdammt!
Im Krisenstab in Washington, an dem erstmals auch der Präsident der Vereinigten Staaten teil nahm, kam man zu der gleichen Auffassung.
Man hatte Experten der NSA hinzugezogen, um bei der Ortung der Terroristen weiter zu kommen, die aber betrübt die Köpfe schüttelten.
Die würden drahtlos ins Internet gehen, nutzten Server auf dem ganzen Erdball.
Unstrittig war, dass man im Yellowstone Park suchen müsse – ein Gelände von 9000 km² Größe.
Ein Geologie-Professor hielt einen Vortrag darüber, wie plausibel ein Weltuntergangs-Szenario wäre.
wird fortgesetzt...