Making Movies
Julia hielt sich für experimentierfreudig. Aber das hier ging eindeutig zu weit! Was hatten sich die Veranstalter des Speed Datings nur dabei gedacht? Und dann dieses Wortungetüm: „Blind Semi Nude Touch Dating“?
Wer sich das ausgedacht hatte, gehörte in die Klapper, also eine Nervenheilanstalt!
Zwar sollte dieses widerliche Abtasten erst stattfinden, wenn sich einige Paare im Gespräch näher gekommen waren – und zwar zivilisiert und anständig gekleidet bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Mineralwasser – aber sie hoffte, nahezu alle würden auf dem Fragebogen „Nein“ ankreuzen – so wie sie es gerade tat. Sie drückte den Kugelschreiber fest auf.
Julia hatte prinzipiell nichts dagegen, wenn Männerhände sie abtasteten – aber bitte erst, wenn man sich bei einigen Treffen ganz klassisch im Restaurant oder Kino näher gekommen war. Sie schickte den Online-Fragebogen ab. Teilnehmen würde sie, vielleicht kreuzten da ja wider Erwarten doch ein paar interessante, gutaussehende Männer auf, wer weiß…
In den nächsten Tagen experimentierte sie nach Feierabend an ihrem Outfit herum, beriet sich mit Freundinnen – entweder in einem Café oder per übermittelter Fotos.
Zu ihrer eigenen Überraschung machte bei der Frisur die Variante das Rennen, in der sie zwei Strähnen ihres langen hellbraunen Haares zu Zöpfen flocht und um den Kopf wickelte.
Julia fand, sie könne mit der Frisur in einem UFA-Film aus dem Jahre 1940 mitspielen – aber eine ihrer Freundinnen war Friseurin – vielleicht war das ja schon wieder in Mode.
Bei der Kleidung ließ sie sich weniger rein reden. Jeans und Oberteil, Sommerkleid, Business-Kostüm oder enganliegendes „Kleines Schwarzes“?
Julia versuchte, sich im Spiegel mit den Augen eines Mannes zu sehen. Sie ahnte mehr als sie in ihren jungen Jahren wissen konnte, wie diese anderen Wesen tickten.
Variante Eins und Drei schieden damit wohl aus. Das kleine Schwarze wirkte für eine Nachmittagsveranstaltung fast schon zu verrucht, wie sie fand. Zwar nicht direkt nuttig, aber doch so, dass ein Mann zu der Auffassung kommen könnte, sie am gleichen Abend im Bett zu haben.
Draußen war Sommer – warum also nicht ein schwingendes, buntes Sommerkleid?
Sie konnte das tragen wie sie fand mit ihren schmalen Taille und außerdem wirkte sie damit mädchenhaft. Julia drehte sich einmal, und zwar so schnell, dass sich das Kleid hob und ihre langen Oberschenkel entblößte.
Natürlich war sie mit noch nicht zufrieden, obwohl sie sich selbst nicht unansehnlich fand und bereits damals auf dem Schulhof so etwas wie ein Blickfang für die größeren Jungs gewesen war.
Sie betonte ihre großen, haselnuss-braunen Augen mit dezentem Lidschatten, tuschte die langen Wimpern und trug Lippenstift Rouge auf.
In der U-Bahn registrierte sie wieder einmal die verstohlenen Blicke der Männer.
Warum eigentlich dieses Speed Dating? Jeden zweiten Tag wurde sie von Männern angequatscht, manchmal aufdringlich und unbeholfen, aber auch gelegentlich höflich, originell und mit Stil.
Es war die vage Aussicht, ihr langweiliges Leben gegen ein aufregenderes einzutauschen.
Und es war wie beim Lotto: Die Chance war zwar verschwindend gering, aber wenn man es nicht versuchte, konnte man auch nicht gewinnen.
Dem Paar mit den meisten Übereinstimmungen winkte ein Casting bei einer Werbeagentur.
Wurde man dort angenommen hatte man die Aussicht auf eine Traumreise zu Zweit…
Für Julia’s Geschmack zu viele Wenn und Aber – aber siehe Lottospiel…
Das Speed Dating fand in einem Saal eines Hotels in Berlin-Mitte statt. Sie bekam ein Kärtchen mit ihrem Vornamen, das sie sich anheften musste und setzte sich an einen Bistro-Tisch. Ein Mitarbeiter des Veranstalters fragte, ob alles in Ordnung sei, was sie bejahte und ein Kellner fragte nach ihren Wünschen. Julia ließ sich einen Cappuccino bringen.
Vorn schnappte sich ein Moderator ein Mikrofon und erklärte noch einmal, dass jeder Mann zwei Minuten Zeit habe, die Dame am Tisch im Gespräch kennen zu lernen, dann würde gewechselt. Am Ende dürften sich die Damen dann für einen Herrn entscheiden.
Julia hörte gar nicht mehr richtig zu, nippte an ihrem Cappuccino. Wahrscheinlich hatte sie jetzt einen Milchschaumbart! Bloß nicht! Sie kramte in ihrer Handtasche nach Papiertaschentüchern – dabei entging ihr, wie der Veranstalter vorn erklärte, die Paare, die sich gefunden hatten, müssten noch ein Quiz überstehen.
Das Paar des Tages würde von einer Agentur eingeladen, bei einem Werbedreh agieren mit entsprechender fünfstelliger Vergütung und eine Traumreise antreten.
Ein Raunen ging durch den Saal. Julia tupfte sich den Milchbart von der Oberlippe. Hatte sie etwas verpasst?
Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken, zu dem hatte sie ja auch alles gelesen, was auf der Webseite stand und in den Kommentaren zu ihrer Anmeldung.
Es ging los!
Der erste Mann war ein zotteliger Öko-Freak, studierte bereits im zehnten Semester, wie er auf ihre Zwischenfrage zugeben musste, war intellektuell auf Augenhöhe, aber als Mann – na, ja. Weiter…
Der Zweite war ein Klempner mit großen, aber zu diesem Anlass gepflegten Händen, nicht unsympathisch, zurück haltend, ja sogar nett. Julia stellte ihrerseits Fragen, sie fand ihn interessanter als den ersten. Leider nur Hauptschul-Niveau. Alles Gute ist eben selten beisammen. Wieder zwei Minuten rum…
Der Dritte war einer, der auf Lehramt studierte, sehr kultiviert mit Sacko und Krawatte und mit geschliffener Rede. Leider machte er den Fehler, sie nicht zu Wort kommen zu lassen.
Der Klempner hatte wenigstens nach ihren Hobbies und ihrem Job gefragt.
Julia wollte schon resignieren. Adé du Werbedreh, tschüß, Traumreise…
Dann hatte sie eine Erscheinung: Ihre Knie wurden zu Pudding – zum Glück saß sie.
Ähnlich musste es Maria Magdalena vor 2000 Jahren gegangen sein…
‚Krieg dich wieder ein, dumme Gans!‘schalt sie sich selbst.
Wie durch Watte hörte sie: „Bist du noch bei mir, Julia?“
Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen und hauchte „Ja!“
wird fortgesetzt...