Schloss Hohenschnee / 4
„Ich glaube, es dürfte dir schwer fallen, meinen Körper in Wassermoleküle aufzulösen und zu verformen, wie du willst“, zumindest hoffte Helena das. Irgendwie war dieses Formwechseln eine Erfahrung, die sie sich sehr ungesund vorstellte.
Nachdenklich legte die Nymphe den Kopf schief. „Ich vermute“, überlegte sie laut, „solange es ein Menschenkörper ist, klappt das tatsächlich nicht. Aber…“, und an der Stelle leuchteten ihre Augen mit einer Intensität auf, die Helena unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ, „stell dir vor, es wäre kein Menschenkörper mehr! Wenn ich ihn mit meiner Magie ganz durchdringen würde, wenn er nur noch aus Wasser bestehen würde, wenn er ganz mein werden würde, dann könnte das tatsächlich möglich sein! Wie mächtig wir wären!“
„Und wenn wir dann den See verlassen oder er trocknet aus…dann sind wir Geschichte“. Helena machte eine Pause. „Was auch immer dir gerade durch den Kopf geht, meine Antwort ist nein.“
Langsam redete das Wasserwesen sich selbst in Begeisterung: „Aber überleg dir doch all diese Möglichkeiten! Mein magisches Können und deine Art zu denken. Wir könnten etwas erschaffen, das so noch nie existiert hat“.
Helena seufzte. „Gäbe es dann überhaupt noch ein ‚wir‘?“, fragte sie und fühlte sich plötzlich sehr müde.
Dieser Tag dauerte einfach schon zu lange. Sie war erschöpft und wollte endlich schlafen und sich nicht auch noch mit dem unerwarteten Fanatismus dieses Fantasiewesens herumschlagen.
Diese Frage bremste die Nymphe etwas aus. „Wahrscheinlich nicht“, nuschelte sie, „es gäbe keine von uns beiden mehr. Wir wären eins. Trotzdem wäre mir diese Art der Existenz lieber, als hier in deinem Haus vor mich hin zu tröpfeln“.
Zu gerne hätte Helena sie in den Arm genommen, aber sie erinnerte sich noch lebhaft, wie eigentümlich sich der letzte Hautkontakt mit dem Wasserwesen angefühlt hatte, also ließ sie es bleiben.
„Schau“, redete sie auf sie ein, „wir werden eine Lösung finden, die uns beide zufrieden stellt. Das habe ich dir schließlich versprochen.“
Die Nymphe schloss die Perlenkette, die als Beweis dieses Versprechens um ihren Hals hing, fest in ihre Hand. „Ich weiß“, meinte sie, „aber magst du nicht wenigstens diese Möglichkeit in Betracht ziehen, bis wir eine andere finden?“
Schweren Herzens und vor allem, um endlich ihre Ruhe zu haben, nickte Helena. „In Ordnung. Aber sag Sinthoras vorerst lieber nichts davon. Wenn er wieder zu Hause ist, werde ich ihn fragen, ob er mich in seinen Bücherregalen stöbern lässt, vielleicht finde ich ja ein paar alte Texte, die uns weiterhelfen können.“
„Ich kann dir suchen helfen!“
Bücher und Wasser? Irgendwie befürchtete Helena, dass das keine so gute Idee war. „Lieber nicht. Nach deinem unpassenden Verhalten heute mit Sinthoras überlege ich mir sowieso, ob ich dir meinen Körper so schnell noch einmal überlassen sollte. Du hast mein Vertrauen missbraucht und das weißt du.“
Die Nymphe starrte angestrengt zu Boden, als würde sie sich plötzlich brennend für ihre Riemchenschuhe interessieren. Ganz langsam schmolz sie in sich zusammen, bis von ihr nichts weiter als eine Pfütze zu Helenas Füßen übrig war. Es war dasselbe Verhalten, dass sie gezeigt hatte, nachdem sie Helenas inneres Haus verwüstet hatte.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich und warf eine kleine Welle.
„Schon gut.“
„Ehrlich?“
„Ja. Und jetzt werde ich dich verlassen, wir reden morgen weiter“, Helena drehte sich um und suchte nach der Tür, durch die sie den Raum verlassen konnte, aber diese war noch immer verschwunden, „bitte, mach die Tür auf“, fügte sie genervt hinzu.
„Okay. Hast ja Recht, lass die arme Nymphe nur allein. Niemand spielt mit mir, niemand mag mich“, ihre Stimme wurde immer leiser, als würde sie sich entfernen. Misstrauisch warf Helena einen Blick aus den Augenwinkeln hinter sich, als vor ihr die Tür erschien. Die kleine Pfütze glitt schnell auf den See zu, vereinte sich mit ihm und wurde binnen Sekunden zu einer riesigen Flutwelle, die sich hoch über der Menschenfrau auftürmte. Sie riss die Augen auf und hastete dem Ausgang entgegen. Sofort brach die Welle in sich zusammen. „Wie soll ich dich denn erschrecken, wenn du mir dabei zuschaust?“, hörte sie das Wasserwesen noch rufen, dann hatte sie das Haus der Nymphe verlassen.
Als Helena wieder zurück in ihrem Körper war, herrschte pechschwarze Dunkelheit in ihrem Turmzimmer. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war.
May! fiel ihr ein. Angestrengt horchte sie in sich hinein und tatsächlich, sie konnte Mays Präsenz spüren. Um der Thai zu zeigen, dass sie in Gedanken bei ihr war, spreizte sie ganz vorsichtig ihre Finger über dem Zauberring auseinander und schloss sie dann wieder. Nach dieser kleinen Geste der Aufmerksamkeit legte sie den Zeigefinger mitten auf den Ring und wartete ab. Ganz weit entfernt spürte sie, wie Mays Erregung sprunghaft anstieg.
Was Sinthoras wohl machte? Burg Hohenschnee… Sie war schon sehr gespannt auf dieses Gebäude. Wie es dort aussehen mochte? Ob da noch immer Schnee lag? Ein verwirrendes Bild tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, eigenartig klar und doch nur schwer greifbar: Der Albae stand in ein schwingendes, schwarzes Gewand gehüllt barfuß in weichem Pulverschnee. Die Luft um ihn herum war elektrisiert vor Magie, es schneite. Große Schneeflocken segelten vom Himmel, wenn sie seine Haut berührten, schmolzen sie sofort. Mit kräftiger Stimme sang der Dämon Worte in einer fremden Sprache, worauf hin sich die Schneeflocken in schwarze Federn verwandelten, die erst anfingen zu glühen und dann in Flammen aufgingen.
Feuer der Lust. Er streckte die Arme gen Himmel, vollführte einige merkwürdige Gesten.
May krümmte sich in ihrem Zimmer zusammen, während sie sich ganz dem Vergnügen mit sich selbst hingab und dabei den Höhepunkt erreichte. Deutlich spürte Helena ihre Empfindungen und während die Federn auf sie herab regneten, schlief sie erschöpft ein.
Am nächsten Morgen erinnerte sie sich nicht an den Traum.
Die ersten Sonnenstrahlen weckten Helena.
Nach einer Nacht tiefen Schlafs fühlte sie sich wie neu geboren. Sie streckte sich genussvoll, gähnte und stand dann auf, um sich anzusehen, was ihr Kleiderschrank so zu bieten hatte.
Zehn Minuten später wühlte sie sich noch immer durch die Fächer und Schubladen, konnte ihr Glück kaum fassen. Dafür, dass sie in einem Haus lebte, wo es verboten war, sich anzuziehen, besaß sie nun eine riesige, geschmackvolle neue Garderobe. Was sollte sie nur anziehen?
In dem Wissen, dass sie nicht noch sehr viel länger brauchen durfte, da Margret auf sie wartete, wählte sie am Ende ein sommerliches, wadenlanges Chiffonkleid aus, dessen Schnitt ihre schlanke Figur sehr vorteilhaft zur Geltung brachte. Seine unterschiedlichen Blautöne ließen es wie fließendes Wasser aussehen, wenn es beim Gehen um ihre Beine schwang. Der Nymphe würde es bestimmt gefallen.
‚Guten Morgen, Nymphe‘, grüßte sie das Wesen bei der Gelegenheit. Die Antwort bestand im gedanklichen Äquivalent eines Kissen-über-den-Kopf-Ziehens und eines genervten Murrens.
‚Sag bloß, du bist Langschläferin? ‘
Noch ungestümeres Murren.
Also ließ Helena die Nymphe Nymphe sein, eilte ins Bad um sich fertig zu machen und begab sich danach ausgeschlafen und glücklich auf den Weg um Margret zu suchen. Bis sie in der Küche war, taten ihr bereits die Füße weh und sie verfluchte Sinthoras aus tiefstem Herzen.
Margret saß mit einer Tasse Kaffee über der Zeitung und sah erst auf, als Helena sich räusperte. „Oh, du bist wach? Guten Morgen, meine Liebe. In der Kanne ist Kaffee, bediene dich ruhig, bevor wir losfahren. So viel Zeit muss sein.“
„Danke.“
Etwas später wartete Helena mit ihrer Handtasche bewaffnet vor der Haustür darauf, dass Margret mit dem Auto vorfuhr – sie war gespannt, was für einen Wagen die Köchin wohl haben würde. Der weiße, nagelneue BMW enttäuschte ihre Erwartungen nicht im Geringsten.
Sie stieg ein und war sofort fasziniert vom unaufdringlichen Luxus der weichen Sitzpolsterung und davon, wie lautlos der Wagen über die Straße glitt. Es war, als würden sie sich gar nicht bewegen.
Am Ende des langen Waldweges wollte Helena Margret noch die Richtung weisen, aber diese bog automatisch richtig ab.
„Du weißt, wohin?“
„Ja, sicher. Wir haben dich schließlich lange genug beobachtet. Ach Helena, Liebling? Sei so gut und greif mal auf die Rückbank, da muss eine kleine Dose liegen. Hast du sie? Ja, genau, die. Mach sie mal auf…“
In dem samtenen Döschen steckte ein geschliffener Rubin in einem Bett aus schwarzer Seide. Verwundert nahm Helena ihn heraus und drehte ihn, um zu bewundern, wie er im Licht funkelte.
„Wenn du diesen Stein gegen die Rubine auf deinen Schuhen drückst“, erklärte Margret, „dann verlieren sie für den Moment ihre magischen Eigenschaften. Sie werden zu ganz normalen Schuhen – so kannst du unseren kleinen Ausflug bestimmt besser genießen. Und wer weiß? Vielleicht willst du ja auch deine neue Kreditkarte ausprobieren und dir neue Schuhe kaufen? Irgendwann kannst du sie bestimmt tragen…“
Sofort folgte Helena der Anweisung. Die Edelsteine blitzen kurz auf und erloschen dann. Probehalber stemmte sie die Absetze ihrer Schuhe gegen die Fußmatte des BMW – nichts passierte.
‚Danke Sinthoras‘, dachte sie so intensiv sie konnte, ‚danke, dass du an alles gedacht hast‘, es war egal, dass er sie nicht hören konnte. Heute war alles egal. Sie würde diesen Ausflug zurück in die wirkliche Welt in vollen Zügen genießen.