Vor Gericht
Ich hörte, wie die Tür zu dem Gang, durch den wir gekommen waren, wieder geschlossen wurde. Ein Schlüssel bewegte sich, und langsam schob sich ein schwerer Querriegel auseinander und glitt hinter die ins Mauerwerk eingelassenen eisernen Halterungen. Inzwischen hatte der Scharfrichter seine Unterhaltung mit dem mittleren Mönch beendet, der, wenn es sich bei den drei Männern denn um das Oberste Gericht dieser seltsamen Gilde handelte, wohl so etwas wie der Vorsitzende Richter sein musste. Jedenfalls schien er wichtig zu sein, denn auch der Henker hatte sich vor ihm verneigt, bevor er danach hinter den Tisch ins Halbdunkel zurückgetreten war. Der Richtermönch stand auf und wandte sich ohne Umschweife direkt an mich. „Du bist uns überstellt worden“, sagte er mit einer wohlklingend sonoren Stimme, die mühelos die große Halle füllte, „damit wir untersuchen und beurteilen mögen, ob Du trotz all der Verfehlungen und Vergehen, derer die Anklage Dich bezichtigt, eine gehorsame Dienerin bist, so wie Dein Herr es uns versichert hat.“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause und kam um den Tisch herum aus dem Dunkel ins Licht. Wie alle anderen, mit denen ich es bisher zu tun hatte, trug auch er eine schlichte Silbermaske, die allerdings edler gearbeitet war als die, die ich in den letzten Minuten zu Gesicht bekommen hatte.
„Also“, fuhr der Mönch fort, „wirst Du vor diesem Gericht die Gelegenheit erhalten, auf die Anklagepunkte und auf unsere Fragen zu antworten und uns Deine Sicht der Dinge darzulegen. Du solltest Dir stets bewusst sein, dass uns, um den Wahrheitsgehalt Deiner Antworten und Aussagen zu prüfen, gewisse Mittel zur Verfügung stehen, die wir ohne Zögern auch einsetzen werden, sollten wir Zweifel an Deinen Worten hegen. Ich rate Dir also, wohl zu überlegen, was Du sagst und wie Du es sagst.“
Erneut unterbrach sich der Richter und trat noch einen Schritt auf mich zu. Ich spürte die ungeheure Kraft und die geradezu einschüchternde Dominanz, die von ihm ausging, beinahe schmerzhaft körperlich. Dieser Mann wusste nicht nur genau, was er sagte, sondern ganz bestimmt auch, was er tat oder tun musste. Genauso wie er um seine Ausstrahlung und um seine Wirkung auf andere wusste.
„Wenn Du es denn wünschst“, erklärte er weiter, „wird Dir zu Deiner Verteidigung jemand aus der Gilde zur Seite gestellt, den Du auch selbst auswählen kannst. Du darfst jedes Mitglied zu Deinem Anwalt bestellen, sei es eine Hohe Dame oder ein Hoher Herr, mit Ausnahme Deines eigenen Herrn. Bevor wir nun also in Kürze das Verfahren eröffnen und mit der Verlesung der Anklageschrift beginnen, wird Dir jetzt - und zwar letztmalig für die Dauer des Prozesses - die Gunst zuteil, mit Deinem Herrn zu sprechen. Also nutze Deine Zeit gut, Sklavin!“
Damit verneigte er sich zusammen mit seinen beiden Richterkollegen, die während seines Monologs neben ihn getreten waren und mich die ganze Zeit über genauestens beobachtet, vor mir und zog sich sodann mit seinen Beisitzern ebenfalls wieder in die Dunkelheit der großen Halle zurück.
Wie vom Donner gerührt, stand ich da. Nie hattest Du mir erzählt, dass Du dieser Gilde der Hohen Damen und Herren überhaupt angehörtest. Und natürlich hatte ich auch nicht den leisesten Hauch von Ahnung, was diese Gemeinschaft repräsentierte, wofür sie stand, was sie von ihren Mitgliedern erwartete oder was von mir. Sicher, ich hatte schon einmal etwas von der Vereinigung OSD/s und ihren Zielen und Idealen gehört, nach den so alten und dennoch zeitlos-unvergänglichen Werten wie Respekt und Anstand, Gehorsam und Disziplin zu leben. Deren Regelwerk hatten wir uns vor Monaten auch einmal genauer angesehen und es eigentlich ganz gut gefunden.
Bei den gelegentlichen Begegnungen auf Veranstaltungen war uns dann aber aufgefallen, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht so zusammenpassten. Jedenfalls hatten wir das Verhalten mancher Herrschaft als ziemlich arrogant und das mancher Sklavin als unangenehm hochnäsig empfunden. Was Dich aber noch mehr gestört hatte und letztlich auch der Grund dafür gewesen war, dass wir zu dieser Vereinigung keinen Kontakt gesucht hatten, war, dass ich da als Sklavin zwar demütig zu sein hatte, aber nicht stolz sein zu durfte. Für Dich waren Stolz und Demut keine Gegensätze, sondern beide gehörten untrennbar zusammen, wie die berühmten zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Aber war die Gilde der Hohen Damen und Herren eine ähnliche Gemeinschaft? In meinem Kopf ging alles drunter und drüber. Ich war vollkommen durcheinander. Wie sollte ich denn da klar denken? Wie mich irgendwelchen Fragen stellen und sie zur Zufriedenheit gemäß irgendwelcher Vorschriften beantworten, die ich nicht einmal kannte? Und was wäre, wenn meine Antworten am Ende nicht zur Zufriedenheit ausfielen? Müsstest Du dann die Gilde wieder verlassen? Oder würde man von Dir verlangen, dass Du mich aufgibst? Und vor allem, was würde mich im Falle meines Scheiterns, eines Schuldspruchs und einer Verurteilung erwarten?
Erneut blickte ich mich hilfesuchend um. So beschissen wie gerade hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Dagegen waren Disputation und Rigorosum an der Universität ein locker-angenehmer Spaziergang und ein wahres Zuckerschlecken gewesen. Da hatte ich zwar auch auf dem Präsentierteller gestanden, aber nicht nackt in Ketten zwischen zwei Steinsäulen hängend und von einem gleißenden Flutlicht gnadenlos ausgeleuchtet. Und vor allem hatte ich damals gewusst, zu was ich befragt werden würde und wovon ich redete.
Unvermittelt spürte ich, wie sich von hinten zwei Hände sanft auf meine Schultern legten und zarte Lippen einen Kuss in meinen Nacken drückten. Sofort nahm ich den Geruch Deines Rasierwassers wahr. Endlich! Endlich warst Du da. Unendlich dankbar und erleichtert lehnte ich meinen Kopf zurück und entspannte sofort merklich.
„Was tust Du mir hier bloß an, Master?“ fragte ich leise und schluchzte mühsam beherrscht auf. „Und warum?“
„Damit Du diese Prüfung mit Bravour bestehst und wir einen weiteren Abschnitt Deiner Ausbildung erfolgreich abschließen können, kleine Serva“, erhielt ich ebenso leise die Antwort auf meine zweite Frage zuerst. Erneut spürte ich Deine Lippen auf meiner Haut. „Schau“, sagtest Du, nur um Dich sofort wieder zu unterbrechen und dann, achtsam über die zwischen meinem rechten Fußgelenk und der Säule gespannte Eisenkette steigend, zu mir nach vorne zu kommen. Ganz nah standst Du jetzt vor mir und nahmst mein Gesicht sanft in Deine starken Hände.
„Wir haben nicht viel Zeit zum Reden. Die Wächter der Gilde haben uns beide, insbesondere aber Dich, in den zurückliegenden Wochen beobachtet, sobald wir uns irgendwo gezeigt haben. Sei es in der Lounge, sei es auf Veranstaltung, an der wir teilgenommen haben, sei es in der Öffentlichkeit. Das ist die übliche Vorgehensweise, wenn sich ein neues Mitglied um Aufnahme in die Gilde der Hohen Damen und Herren bewirbt. Unseren Antrag habe ich vor über drei Monaten gestellt, nachdem mich Herrin Uriana eingeladen hatte, der Gilde beizutre…“
Meine Gedanken schweiften ab. Wir hatten Uriana das erste Mal in Hamburg getroffen und uns auf Anhieb gut verstanden. Von der Statur her war sie eine kleine und eher zierliche Person, aber sie steckte voller Energie und Kraft. Eine starke Persönlichkeit mit einem großen Herz einer Löwin. An dem Wochenende war zwar überhaupt nichts zwischen uns passiert, aber Uriana hatte uns während der gesamten Zeit, in der wir gemeinsam im Club waren, und auch schon davor und vor allem am nächsten Morgen nicht aus den Augen gelassen.
„… mir überhaupt zu, Sklavin?“ hörte ich Dich plötzlich mit einem leicht ungehaltenen Unterton fragen, als mir die Erinnerungen an Uriana ein unerwartetes Lächeln auf das Gesicht zauberten. „Ja, Herr, natürlich höre ich Dir zu!“ versicherte ich sofort pflichtschuldig und nickte zur Bekräftigung, ohne auch nur ansatzweise mitbekommen zu haben, wovon Du in den letzten Minuten gesprochen hattest.
tbc
© DieTraumweber, Mai 2015