Die Kapelle
Deine Anweisungen waren klar und eindeutig. Wie immer, wenn Du mir Anweisungen erteiltest.„Komme um 20.00 Uhr in die Ruine der alten Kapelle. Du wirst gebadet, eingecremt und frisch rasiert sein. Du trägst das neue Sternenkorsett und den auberginefarbenen Rock der O. Keinerlei Wäsche, keine Strümpfe. Dazu die schwarzen Slingpumps. Darüber den bodenlangen weiten Mantel. An Schmuck nur Wolfsamulett und Ring. Plus Halsband, Hand- und Fußfesseln. Sei pünktlich!“
Ohne dass er mir aufgefallen war, hatte ich den Briefumschlag heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit zusammen mit den üblichen Werbeflyern für irgendwelche neuen Döner-, Sushi- und Thai-Food-Läden aus dem Postkasten gefischt und anschließend achtlos auf den Beifahrersitz geworfen. Endlich im Büro angekommen, hatte ich den ganzen Haufen schon ungelesen entsorgen wollen, als ich auf dem Umschlag plötzlich Dein Siegel erblickte.
Hektisch und mit zittrigen Fingern hatte ich ihn aufgerissen und ihm ein zweifach gefaltetes Blatt Deines schweren handgeschöpften Briefpapiers entnommen. Gelesen, was Du in Deiner ausdrucksstarken Handschrift geschrieben hattest. Den Bogen beiseitegelegt. Erneut gelesen. Wieder und immer wieder. Verwirrt. Verstört. Und gleichzeitig dennoch Anspannung und Erregung spürend.
Keine Anrede, kein Gruß am Ende. Nur diese kurzen Anweisungen. Zorn und Wut stieg in mir auf. Was bildetest Du Dir eigentlich ein? Seit zehn Tagen warst Du jetzt geschäftlich unterwegs. In China. Und während der ganzen Zeit hatten wir nur immer kurz über Skype chatten können. Und ein paar Mails ausgetauscht. Mehr war schon allein wegen des Zeitunterschieds einfach nicht drin gewesen. Aber so kurz diese Konversationen auch blieben, bleiben mussten, so voller Wärme und Liebe waren sie auch. Und jetzt dieser Brief und dieser harsche Befehlston, dessen Eiseskälte mich erneut erzittern ließ.
Du warst mir immer noch ein Rätsel. Auch nach über einem Jahr noch, das wir jetzt zusammen waren. Aber diese zwei Seiten übten natürlich auch immer noch den Reiz aus. Den Reiz, mit Dir zu leben. Es hatte mich von Anfang an fasziniert, wie schnell Du zwischen den Welten hin und her wechseln und aus der Rolle des zärtlichen, sanften und nahezu verschmusten Liebhabers in die des strengen und unnachgiebigen Doms schlüpfen konntest. Und das verrückteste daran war, dass Du beide Rollen authentisch ausfülltest. Da war nichts gespielt, nichts gekünstelt. Du warst einfach echt. Du warst Du. Mein Wolf. Mein Gefährte. Mein Master. Mein Freund.
Und ich? Anfangs hatte ich Dich dafür nur bewundert. Und mich über mich selbst gewundert. Dass ich mich auf Dich einlassen konnte. Dass ich mich bei Dir wohl fühlte. Dass ich endlich angekommen war. Die Bewunderung zu Beginn war über die Zeit nicht geringer geworden. Aber dann war Zuneigung hinzugekommen. Und mittlerweile Liebe. Bei Dir war ich zuhause. Ich wurde Dein Kätzchen. Deine Gefährtin. Deine kleine Serva. Deine Freundin. Ich war endlich ich, und Du hattest mich dazu gemacht. Und trotzdem…
„Mistkerl!“ schoss es mir durch den Kopf. „Der bringt mich noch total um den Verstand. Wie soll ich mich denn da einen ganzen Tag auf meine Arbeit konzentrieren, wenn ich ihn heute Abend endlich wiedersehe?“ Ich zerknüllte den Brief, stopfte ihn in meine Tasche und schaltete meinen PC ein.
Langsam trudelten die Kollegen ein, denn mittlerweile war es kurz vor neun an diesem trüben Herbsttag, der sich das Prädikat Indian Summer erst noch würde verdienen müssen. Immerhin waren die letzten Tage noch sonnig und warm gewesen, und so bestand wenigstens Anlass zur Hoffnung, dass es auch an diesem Freitag, meinem letzten Arbeitstag vor dem so lange herbeigesehnten Kurzurlaub, noch so werden könnte.
Vor mir lag eine ganze Woche ohne Stress, ohne Hektik. Keine Termine, keine Besprechungen, keine Protokolle. Stattdessen ausschlafen, herumtrödeln, spazieren gehen, vielleicht ein bisschen shoppen. Und das alles mit Dir, denn Du wolltest ja morgen mit dem Hainan-Direktflug aus Beijing zurückkommen und danach auch eine Woche frei machen. Oder warst Du vielleicht schon da?
Ich war verwirrt und bemerkte, wie ich immer mehr verspannte und die ersten Anzeichen von Kopfschmerzen vom Nacken heraufzogen. Unwillkürlich straffte ich meinen Körper, wie ich es in meiner Ausbildung zur O gelernt hatte, und dann ließ ich den Kopf langsam kreisen, um die Verspannungen zu lösen. Sabine, meine unentbehrliche und im ganzen Haus überaus beliebte Sekretärin, die mir gerade die übliche Tasse Weißen Tee zusammen mit der Post hereingebracht hatte, stellte die Teeschale ab, legte die Briefe und die Zeitungen neben meinem Laptop in den Eingangskorb und trat hinter mich. „Na, schon wieder verspannt, Chefin?“
Ihre Stimme bahnte sich langsam den Weg durch die Watte, die sich um meinen Kopf gelegt hatte. „Hmm“, antwortete ich und warf ihr einen kurzen Blick zu. „Bestimmt habe ich mir heute Nacht einen Zug geholt. Wenn Du so lieb wärst…“ „Aber sicher, das mach ich doch gerne“, sagte Sabine, legte ihre Hände in meinen Nacken und fing an, mich sanft zu massieren. „Du bist ein Schatz, Bine“, säuselte ich und überließ mich ihren schlanken und doch kräftigen Fingern.
Ich entspannte zusehends. „Du wärst bestimmt auch eine sehr gute Masseurin geworden, Bine. Aber zu meinem Glück hast Du Dich dann ja doch für einen Bürojob entschieden“, lobte ich sie. Sabine lachte auf. „Vielleicht wäre ich das. Aber hier gefällt es mir viel besser. Und seitdem Du unsere Chefin bist, sogar noch mehr als vorher. Hast Du eigentlich schon etwas von Deinem Wolf gehört? Der kommt doch morgen zurück, oder?“
„Wenn ich das so genau wüsste“, gab ich ihr zögernd zur Antwort…
tbc
© DieTraumweber, April 2015