Liebe Amazone,
ich bin eine ebenfalls Betroffene, Sandra42 hat bereits etwas über mich erzählt.
Gut, dass Du den Schritt gewagt hast, Dich zu öffnen und darüber zu reden/schreiben, das ist aktive Trauerarbeit. Auch ich habe von Anfang an darüber geredet, im Freundeskreis, im engeren Kollegenkreis, mit dem (damaligen) Partner. Es ist wichtig, sich im Gegenüber zu spiegeln, in Gesprächen ein neues Selbstbild zu finden, das durch diesen radikalen Einschnitt in Dein Leben, in Deinen Körper so sehr angekratzt worden ist. Es wird Zeit brauchen, den Verlust zu verarbeiten. Du trauerst. Das braucht Zeit. Nimm sie Dir.
In der akuten Phase nach der Krebsdiagnose und in dem Chaos von Wut, Ablehnung, Verzweiflung und Angst gab es letztendlich zwei wunderbare Menschen, die sich mir stellten und mir, indem sie einfach nur DA waren und mich und mein Chaos aushielten, zwei Schlüssel-Einsichten brachten und die mir halfen, bei alldem nicht verrückt zu werden:
Als erstes meine Schwester, die auf meine immer wieder vorwurfsvoll geäußerte, verzweifelte Frage "warum ICH???" mir irgendwann einmal antwortete: "warum NICHT DU???" und mir so vermittelte, dass es jeden treffen kann, dass Krebs keine Strafe für eine Schuld ist, sondern dass es einfach passiert, weil es passiert. Diese Erkenntis half mir, mich aus dieser sich bildenden Abwärtsspirale zu befreien. Danke, liebste Schwester
Und heute, zurückblickend auf zwei Jahre Berg- und Talbahn, Quälkram, Schmerz, Wut und Verzweiflung, aber zunehmend und letztendlich auch: Wahrheit, Klarheit, wahre Freundschaft, erfahrene Liebe, wiedergefundene Stärke und Kraft, meine ich die Antwort auf meine Frage: "Warum ICH???" zu kennen. Heute, zurückblickend, gebe ich mir darauf selbst die Antwort: "Weil ich es KANN" ... Das jedoch konnte ich damals noch nicht ahnen ...
Und dann der Schlüsselsatz, als die Krebsdiagnose mein Leben komplett auf den Kopf stellte und nichts mehr war wie vorher, geäussert von meiner wunderbaren Tochter, die nach der Schreckensminute der Diagnose durch die Ärzte ganz pragmatisch meinte: "Mama, sei doch froh, daß es BRUST-Krebs ist. Brüste kann man abschneiden." Diese weisen Worte aus dem Mund einer Vierzehnjährigen waren fortan die Flügel, die mich durch die ganze Behandlung trugen, die die Amputation der krebsdurchsetzten Brust nicht ausschließlich als Verlust und Schrecken, sondern auch irgendwie als Geschenk des Schicksals aussehen liessen. Es ist NUR eine Brust, ein relativ unwichtiges Anhängsel des Körpers. Mit ihrer Amputation kann man das Übel entfernen. Ein JA zum Leben. Der Rest des Körpers bleibt verschont. Das ist dieses Opfer wert. Es hätte schlimmer kommen können.
Danke, mein Kind.
(Nicht nur) in solchen lebensbedrohlichen Situationen halte ich es für entscheidend, wie die eigene Sicht auf die Dinge des Lebens ist: ist Dein Glas halb voll oder halb leer? Deine Polung, Dein Denken entscheidet, ob Du die Realität als bunt oder grau empfindest, ob Du die positiven Seiten siehst oder Dich von den negativen Seiten runterziehen lässt. Ich hab mich seinerzeit für Farbe entschieden
auch nach der Diagnose Brustkrebs. Und damit auch dafür, mich nicht wegzusperren, sondern Step für Step wieder ins Leben zurückzukehren. Den Faden da wieder aufzunehmen, wo er mir aus der Hand gerissen wurde, aber auch Korrekturen vorzunehmen.
Und so ging ich ziemlich bald wieder in die Sauna, in meinen Lieblings-Swingerclub (Swinger nehmen ja für sich in Anspruch, besonders tolerant zu sein). Mein Herz klopfte dabei bis zum Hals. Aber ich merkte schnell, dass ICH eigentlich diejenige war, die (noch) am meisten Probleme damit hatte. Und dass, je selbstsicherer ich mit meiner fehlenden Brust umging, die Leute auch sicherer im Umgang mit mir wurden, es irgendwann einfach zweitrangig war. Ja, ich erinnere mich gern an die Erfahrung, die Sandra42 beschrieben hat
... eine großartige, bestärkende Reaktion des Mannes, die mir nachhaltig einen Schub Selbstsicherheit gab. Aber es gab und gibt auch irritierte Reaktionen von Menschen, wenn sie sich meiner Amputation gegenüber sehen. Abwenden, Meiden, Ausweichen. Gut, diese Menschen haben sich wohl noch nicht mit diesem Thema auseinandergesetzt, mit ihrer Angst vor der Krankheit, mit Angst um ihre eigene Unversehrtheit, mit Angst vor einem Handicap und dass sie damit aus der breiten Masse herausstechen und sich somit nicht mehr hinter Uniformität und "den anderen" in eine Form der Anonymität zurückziehen können. Das ist IHRE Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen, oder auch nicht. Es ist nicht mein Problem.
Wer mich unverhüllt sieht, realisiert: Ich bin anders. Ich habe Ecken und Kanten. Ich habe Höhen und Tiefen gelebt. Ich habe eine Geschichte zu erzählen. Entweder willst Du Dich mit mir auseinandersetzen oder nicht, willst es lieber nicht wissen. Ich sehe bei vielen für einen Sekundenbruchteil den Kampf in den Augen, sich entscheiden zu müssen angesichts meiner fehlenden Brust, entweder offen und ehrlich damit um- und auf mich einzugehen oder lieber sich hinter Plattitüden zu verstecken und irgendwie aus der Konfrontationssituation möglichst glimpflich zu entkommen ... und ich gebe zu, es macht mir mitunter einen Heidenspaß, Reaktionen zu beobachten, gar zu provozieren ... zum Beispiel habe ich mir anlässlich einer Halloween-Party meine linke Körperhälfte und besonders die Amputations-Narbe zusätzlich mit Kunst-Narben und Kunst-Blut "geschmückt" und bin als Unfallopfer/Zombie barbusig auf einer Swinger-Party gewesen ... und muss sagen, es gab dort weitaus spektakulärere Verkleidungen und Masken ...
Die Konfrontationslust ließ also bald wieder nach.
Heute gehe ich ziemlich entspannt damit um, MUSS es nicht mehr jedem auf die Nase binden, erzähle meist nur ganz beiläufig davon, meist in einem anderen Zusammenhang, ich SUCHE dieses Thema nicht und spreeche es auch nicht gezielt an. Es ergibt sich meist irgendwann, irgendwie und wird dann meist einfach hingenommen. Wenn ich kein großes Thema draus mache, ist es auch kein großes Thema, auch nicht bei neuen Männerbekanntschaften. Ich habe mein (neues) Selbstbild irgendwie schon ganz gut gefunden. Nur eine Brust (noch) zu haben, ist nicht mehr zentrales Thema. Es ist, wie es ist. Ich bin, wie ich bin. Andere Themen sind wichtiger, die anstehende Führerscheinprüfung meiner Kinder z.B., meine Hobbies, meine Arbeit ... meine Person und Persönlichkeit macht soviel mehr aus als nur eine fehlende Brust ... wer meint, mich deswegen lieber nicht näher kennenlernen zu wollen (oder wegen meiner Pfunde, die ich zuviel auf den Rippen haben oder wegen meiner Angewohnheit, Dinge beim Namen zu nennen und auch unangenehme Fragen zu stellen und ehrliche Antworten zu erwarten, oder, oder, oder) der verpasst halt was
Mit denen, die sich mit mir auseinandersetzen wollen, hab ich jedenfalls einen Heidenspaß
Meine Beziehung ist kurz nach der Krebsdiagnose in die Brüche gegangen. Sie hat schlichtweg diese Belastung nicht ausgehalten, war (heute seh ich das) sowieso schon länger selbst krank. Angesichts meiner dazu kommenden Krankheit kamen zunehmend Wahrheiten an den Tag, die zu lange hinter Fassaden verborgen und gut versteckt gehalten wurden. Chemo IST nicht nur böse, sondern MACHT auch böse und darum hat sie nicht nur in meinem Körper aufgeräumt. Und mir war schnell klar: meine Kraftreserven reichen nur für eine Baustelle. Und dann habe ich mich ganz egoistisch für meine persönliche Baustelle entschieden. Immerhin gings um mein Leben. Heute weiß ich: eine sehr gute Entscheidung, die mein Leben geklärt hat. Und gerettet.
Dass Du Dir diesen Nickname "Amazone" ausgesucht hast und die Tatsache, dass Du offen diese Frage stellst, lässt mich vermuten, dass Du dabei bist, einen ähnlichen, offensiven Weg einzuschlagen. Wie ich finde, einen gesunden Weg. Wie auch immer, es wird DEIN Weg sein, den Du gehst. Ich wünsche Dir dabei genau die Erfahrungen, die Du brauchst, um ihn zu finden.
Alles erdenklich Liebe und Gute,
saralonde