Das Vorstellungsgespräch II
"Mein Name ist Kim Möglich ... ich bin aufgrund Ihrer Anzeige im Stadtmagazin hier ... diese Tätigkeiten, die Sie dort erwähnen, die kann ich alle." Damit eröffnete Kim das Gespräch so kühn wie möglich und ließ sich dann dankbar in den zweiten Bürostuhl sinken, den ihr die Chefin anbot. "Natalie Ivanova" versetzte diese und erklärte dann akzentfrei: "Das hier ist mein kleiner Laden. Es gibt kein großes Unternehmen hinter mir, sondern nur diese Räume, zwei Computer, mich und zwei Verkäuferinnen." Sie lehnte sich zurück, wobei ihr Lederkostüm leise raschelte. "Es müssen aber dennoch weitere Arbeiten gemacht werden, für die die großen Boutiquen Spezialisten haben: Webmaster, Fotografen, Schaufenstergestalterinnen, Bürokräfte mit Englischkenntnissen. Ich kann aber dafür nicht vier Personen einstellen und es gibt nicht einmal genug zu tun, um eine Person Vollzeit zu beschäftigen. Pro Woche fällt aber etwa 15 Stunden Arbeit in diesen Bereichen an, und ich habe genug zu tun mit den Geschäften und meine Verkäuferinnen können das nicht. Es ist schwierig, gute Leute zu finden, die für so wenig Zeit arbeiten und vor allem jemanden, der das alles kann."
Kim legte ihr vorsichtig ihre Papiere auf den Tisch. "15 Stunden pro Woche wären perfekt für mich, denn ich schreibe gerade meine Doktorarbeit und sollte daran 25 Stunden pro Woche sitzen. Meine Literatur dafür ist komplett auf Englisch, ich habe an einer Webseite, hm ... im politischen Kontext, mitprogrammiert und ich fotografiere hobbiemäßig, habe aber keine gute Kamera." Als Frau Ivanova mit ihren langen roten Krallen nach den Zetteln griff, knarrte ihre Lederjacke wieder leise. Sie überflog Kims Unterlagen offenbar nur, und hinter den Zetteln sah man wieder eine Augenbraue hochgehen. "Eine gute Kamera habe ich, und ich brauche auch keinen Profi-Webmaster, nur eine repräsentative Frau, die das alles kann und flexibel vor Ort arbeitet, also zum Beispiel direkt, wenn neue Teile eintreffen, eine der Verkäuferinnen darin fotografiert und das Bild sofort auf unsere Webseite setzt ... 'Foto-Dokumentation von Castor-Blokaden und Queer-Demonstrationen im Netz' steht hier - ganz schön verwegen, so was in den Lebenslauf zu setzen, aber genau so jemanden brauche ich!"
Die Chefin lächelte sie herausfordernd an, und Kim musste auch lächeln. "Nur habe ich noch nie in einer Boutique gearbeitet, geschweige denn überhaupt eine betreten." Frau Ivanova legte Kims Zettel zu ihren Unterlagen. "Das sieht man, und so wie du aussiehst, wirst du das auch nicht tun können." Sie wies auf ihr rotes Lederkostüm. "Schau mich an, ich trage jeden Tag meine Ware und meine Verkäuferinnen tun dies auch. Aber nicht so wie bei den großen Ketten, wo die Verkäuferinnen das reduziert kaufen müssen. Ich bekomme bei jeder Kollektion Promotionsware, und die wird für Fotoshootings, Schaufenster und für uns genommen. Wir repräsentieren die Boutique NANA."
Kim starrte auf das enge rote Leder, dachte zusätzlich an Nikkis silbernen Po und musste schlucken. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Allein der Gedanke, überhaupt in einer Boutique zu arbeiten, war ihr so absurd vorgekommen, dass sie offenbar völlig verdrängt hatte, dass dort nicht nur Verkäuferinnen, sondern auch "Multitalente" eine Kleiderordnung zu befolgen hatten. Und sie führte noch aus einem anderen Grunde das Gespräch zunächst nicht weiter. Sie fragte sich nämlich, warum sie diese Geschäftsfrau, diese Modetussi erregte. Sie stand doch eigentlich auf toughe Lesben in Lederjacken ... "Verflixt - tough ist diese Frau, eine Lederjacke trägt sie auch, und sie sieht verdammt gut aus. Vielleicht doch nicht so verwunderlich." ... Außerdem, waren diese Bedingungen perfekt: Zeitlich passend, flexibel, abwechslungsreich, sogar kreativ, und ihre politische und sexuelle Ausrichtung schreckten die Frau nicht ab.
"15 Euro pro Stunde biete ich dir an," Kim hatte so lange geschwiegen, dass die Chefin weitergesprochen hatte, "meine Verkäuferinnen bekommen deutlich weniger." Kim schwieg immer noch, denn sie rechnete kurz nach. "Das würde reichen im Monat", dachte sie, und dann wurde ihr klar, dass sie die Phase des Informierens längst hinter sich gelassen hatte, und gerade überraschend und plötzlich einen Job angeboten bekommen hat. "Meinen Sie ..." fragte sie ungewollt leise und krächzend "... dass ich eine Probewoche machen könnte?" Natalie Ivanova lehnte sich zurück und grinste breit. "Das meine ich, denn ein langes Gespräch kann nicht herausfinden, ob du zu uns passt." Sie lehnte sich wieder nach vorn und streckte die Hand aus. "Also Kimberly, ich bin Natalie und was sagst du zu drei Tagen in der Woche a fünf Stunden?" - "Kim ... ist keine Abkürzung von Kimberly, ich heiße einfach Kim," antwortete diese und nahm die Hand an. "und ich könnte ab Samstag beginnen. Ich habe nur noch Mittwoch und Freitag Uni, und arbeite die meiste Zeit zu Hause an meiner Arbeit, bin also Montag, Dienstag, Donnerstag und Samstag flexibel." Frau Ivanova hielt ihre Hand recht lang fest. "Sehr gut. So eine Flexibilität habe ich mir erhofft. Dann kommst du am Samstag von zehn bis drei, und Montag und Dienstag auch, und Ende nächster Woche entscheiden wir, wie es weitergeht, in Ordnung?"