Blindfolded Dinner (7) Im Dunkel der Nacht
Die Nacht hatte sich über die Stadt gelegt. Neblig trübes Licht aus Straßenlaternen, Schaufensterbeleuchtungen, Autoscheinwerfern und anderen, diffusen Leuchtmitteln verlor sich im unbestimmten Ganzen. Mochten sie dem Stadtbewohner noch annähernd das Dunkel erhellen, Fußgängern den Weg in ein nahegelegenes Lokal erleuchten, die U-Bahnstation kennzeichnen und ein Kino oder Theater illuminieren, den Mann im 36. Stock des neuen Hochhauses erreichte es nicht.
Bewegungslos stand M. am Fenster seines Büros, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und blickte hinunter auf die Stadt. Erkennen konnte er nichts. Fast düster war der Februarabend, fast dunkel war auch der Raum. Ein Büro, dass es offiziell noch gar nicht gab, denn weder sein Arbeitsplatz noch das Gebäude selbst waren bislang eröffnet worden. Es lag im Ostend, in der Sonnemannstraße, in einem der hohen Zwillingstürme der EZB, der Europäischen Zentralbank.
Der Mann im schwarzen Anzug verschmolz mit der Dunkelheit. Lediglich ein paar Konturen wären sichtbar gewesen, denn außer dem aufgeklappten Laptop beleuchtete ein einsamer Strahler einer Designerlampe seinen schwarzen Edelholzschreibtisch. Ein Lächeln zuckte über seine Lippen, der Mann war mitnichten in der Betrachtung der Stadt Frankfurt von oben vertieft, sondern in Gedanken versunken.
In drei Wochen würde die offizielle Eröffnung der EZB stattfinden. Man rechnete mit Demonstrationen, sogar erheblichen Ausmaßes, die Reihen der Kritiker waren stark und dicht besetzt, doch letztendlich würden auch sie nur Peanuts bedeuten, ein Wimpernschlag in der Geschichte des Geldes. Ein Aufzucken, ein Auflodern, mehr nicht. Und doch … der 11. September hatte sich auch in das Bewusstsein von M. tief eingegraben. Denn M. befand sich im Zentrum dieser Macht, war ein Teil von ihr. Lebte mit ihr und führte sie mit aus. Letztendlich auch nur ein Rädchen, ein Angestellter, der einen Ehrenkodex abgelegt hatte, kein Insiderwissen zu vermitteln. Ein Teil dieser Macht lief durch seine Hände, seine Position war nicht unbedeutend, er war einer der Vielen, die im Hintergrund mithalfen, die Fäden zu ziehen. Diskret, unbekannt und in keinem Branchenbuch zu finden. Ein Bankangestellter, wie es sie zu tausenden gab.
Traf man ihn auf der Straße oder in einem Restaurant, erkannte der Betrachter in ihm einen eleganten, gutaussehenden und gepflegten Herrn. Das dunkle Haar war kurz geschnitten, silbriggraue Seiten deuteten auf ein gewisses Alter hin. Das Gesicht markant, die Nase ausgeprägt und die Augen hellwach und klar. Seine Erscheinung war dezent unaufdringlich. Bei näherer Betrachtung jedoch erkannte das modebewusste Auge, dass M. sich ausschließlich mit Kleidungswaren italienischer Herkunft umgab, und dies konsequent vom Kragen bis zur Sohle. Mit Artikeln, die nicht in sehr großer Stückzahl hergestellt wurden, wie M. sich in seinem speziellen Freundeskreis auszudrücken pflegte.
Und doch, bei aller Elegance, stand M. niemals vor einer Kamera, kein einziges Statement, kein Interview, keine Talkshow oder andere große Bühne. Man entdeckte ihn weder im Handelsblatt, noch in regionalen Zeitungen. Auch Online wurde er nie zitiert, war in keinem einzigen sozialen Netzwerk oder Forum angemeldet, noch verfasste er Fachartikel oder Kommentare. Er war der Mann im Hintergrund, diskret und unerkannt. Kompetent und mit hohem, messerscharfen Sachverstand gesegnet, zog er hier und da ein wenig an den Strippen mit, wie er im privaten Umfeld bei einem Glas Malt Whisky schon verlauten ließ. Nicht ohne beizufügen:
„Völlig Belangloses, im Grunde.“
Sein Lächeln vertiefte sich. Auch wenn Stellas PC noch am ersten Tag seiner Kontaktaufnahme gehackt worden wäre, hätte auch der beste Spezialist nicht zurückverfolgen können, woher M.s Email gekommen war, und wer der Absender ist. Dass er Stellas PC mit an das System der EZB gekoppelt hatte, würde ebenfalls nie jemandem auffallen. Ohne dass sie es wusste, war ihr Rechner nun so sicher wie kein zweiter Privatcomputer. Geschützt durch die Firewall der Europäischen Zentralbank! Ein System, an dem vor dem Umzug in das Ostend ein Heer von IT-Spezialisten drei Jahre gearbeitet hatte, um den bestmöglichen Schutz zu bieten und gleichzeitig auch unererkannt Daten und Informationen aus Ressourcen zu schöpfen und zu ziehen, die heikel waren, geheim. Die Macht des Geldes kannte keine Grenzen. Und noch weniger kannte sie Moral, fügte M. in Gedanken hinzu.
Moral … der Mann im Hintergrund, der Unauffällige, hatte sich angewöhnt, ein Doppelleben zu führen, führen zu müssen, wollte er seine Privatgelüste frönen und leben. Diese Gelüste reichten in andere Sphären, als sie gemeinhin als bürgerliches Sexleben bezeichnet wurden. Sie auszuleben hatte sich ein Kreis von Gleichgesinnten gefunden, allesamt Menschen, die sich es sich nicht leisten konnten, in den Fokus der Öffentlichkeit zu geraten, zumal sie sich eines gemeinsamen Nenners verschrieben hatten. Der Ausschweifung! Der Wollust!
Nein, M. konnte sich keinen einzigen skandalträchtigen Fehler erlauben. Keinen Einzigen. Das Risiko war immens hoch. Für ihn galt es, seine Unantastbarkeit zu wahren.
Nutten waren kein Thema für ihn, noch nie gewesen. Auch den diskreten Escortservice mied er, kam nicht für ihn in Frage. Seine Gelüste befriedigte er ausschließlich im privaten Rahmen. Diskret, geschützt, geheim. Im Kreise eines äußerst bedachten Zirkels von Gleichgesinnten, von Männern und Frauen, die sich in ähnlich hoher Stellung befanden wie er, und das Extravagante liebten.
Stella … M.s Gedanken galten ihr.
Es hätte ihn 20 Sekunden gekostet, das Fotomodell bis auf die Unterwäsche auszuscannen, doch M. verzichtete darauf, seine Möglichkeiten auszunutzen und tief in ihr Privatleben einzudringen. Schnell erkannte er, dass Stella ihm in gewisser Weise ähnelte. Auch sie war in keinem sozialen Netzwerk tätig, noch nicht einmal bei Facebook, was höchst ungewöhnlich war für ein Fotomodell. Auch kein WhatsApp war installiert! Paybackkarten besaß sie keine, und ihre goldene Kreditkarte nutzte sie nur selten. Dabei nannte sie ein Iphone mit 64 GB ihr Eigen. Sollte Stella eines jener seltenen Exemplare sein, die sorgsam mit ihren Daten umging?
Es war genau dieser Aspekt gewesen, der M. veranlasste, Stella sich näher zu betrachten, als er damit begonnen hatte, sich eine Frau für sich auszuwählen, die seinen Anforderungen und Wünschen entsprach. Eine Frau mit Charisma. Dutzende von Modellsetcards war er durchgegangen, hatte seine Prämissen gesetzt, und sich strikt an seine eigenen Kriterien und Vorgaben gehalten, unabhängig davon, wie gut ein Modell auch aussah. Hatte in viele Gesichter geschaut, versucht, die Augen zu ergründen, war seiner Intuition gefolgt, hatte die Möglichkeiten eingekreist. 14 Damen waren in seine engere Wahl gekommen, die er anschließend mit den Möglicheiten seines Arbeitsplatzes ausgespäht hatte. Eine nach der anderen verabschiedete sich auf Grund von Fakten des Lebenswandels aus dem Zentrum seines Interesses. Doch Stella blieb. Je öfter er sie anklickte, desto intensiver strahlten ihn ihre Augen an. Im Grunde wusste er es schon frühzeitig, dass Stella es ist, die ihn berührte, in ihn eindrang und die er wollte.
Ihre Fotos waren auf eine unbestimmte Weise rein, sauber, fast ein wenig unschuldig, trotz aller Erotik, die sie zweifelsfrei ausstrahlten. Diese Frau gab sich nicht jedem Mann hin. Sie bevorzugte das Außergewöhnliche, das Besondere. Stella war eine starke Frau! Kein Püppchen und auch kein Dummchen. Und erst Recht kein Sternchen auf der Suche nach dem schnellen Geld. Stella hatte Prinzipien, auf sie war Verlass!
M.s Augen verengten sich, als er nickte, lächelte und murmelte:
„DU bist es! Stella! Dich will ich! Dich und keine andere!“
M. bewegte sich auf internationalem Parkett. Er wusste, wie er sich einer Frau anzunähern hatte, kannte die Spielregeln und befolgte sie. Unternehmensleiterin, Vorstandsvorsitzende, Chefin, Regierungsbeamtin, Präsidentin … jede Frau, egal wie hoch ihr Rang auch sein mochte, trägt unter ihrem hochgeschlossenem Designerhosenanzug auch ein süßes kleines Höschen, das beiseitegeschoben werden konnte.
M. lächelte. Frauen, die ebenso wie er die hemmungslose Versautheit liebten, und Tags darauf wieder hinter ihrem Schreibtisch saßen und mit strengem Blick ihre Anweisungen gaben. Oh ja, nickte M., die gibt es!
Er hatte ein Gespür entwickelt, sie zu erkennen. Sein untrügbarer Blick kam einem Instinkt nahe, ein kurzer Moment nur, ein bestimmtes Funkeln in den Augen der Dame, etwas verriet sie immer. M. brauchte nur genau zu beobachten. Eine Kleinigkeit war es zumeist. Ein verträumtes, abwesendes Spielen mit einer Haarlocke, ein Rutschen auf dem Sessel, ein Augenaufschlag.
Nein, solche Frauen verführt man nicht an den Bars der großen Hotels, um sie mit aufs Zimmer zu nehmen, solchen Frauen begegnet der dominante Mann inmitten ihres eigenen Spielfeldes, innerhalb ihres Imperiums, dort, wo sie sich sicher fühlt.
Er zeigte sich und erweckte ihre Neugierde. Mehr veranstaltete er nicht. Kein Baggern, kein Angraben und erst recht keinen Spruch. SIE sendete das Signal, und er war ein feinfühliger Empfänger.
Stella war die Richtige! Er hatte den Weg der klaren und offenen Worte gewählt, die Taktik des Überraschungsangriffs. Offenes Visier. Kompromisslos. Hatte sie konfrontiert.
Um ihr zu verdeutlichen, warum er sie auserkoren hatte, ausgerechnet sie, Stella, hatte er zwei ihrer Gesichtsfotos ihrer Galerie ausgesucht, anhand derer er ihr seine Empfindungen mitteilte, was er in diesem Gesicht und vor allem … in ihren Augen las. Diese Augen, die sein Verlangen erweckten.
Dass aus Stellas Augen sein ureigenes Verlangen funkelte, verschwieg er ihr. Stattdessen sprach er ihr unaufdringliche Komplimente ob ihrer Attraktivität aus, lobte ihre Figur, ihr Aussehen, führte sie dezent weiter hinein in seine eigene Welt dessen, was ihn, M., ausmachte, wofür er stand, was er begehrte, was und wen er wollte. Er hatte Vabanque gespielt, alles auf eine Karte gesetzt, und gehofft, dass er sich nicht geirrt hatte, dass Stella genau dem Typ Frau entspricht, den er liebte und den er wollte.
M. blickte auf die Armbanduhr. 21:00 Uhr. Eine leichte Unruhe breitete sich doch in ihm aus, er war gespannt, ob Stella sich an seine Anweisung halten würde, sich einen Kerl zu angeln. Eine wahrlich dreiste und direkte Anweisung war es gewesen. Dessen war er sich bewusst. Ähnlich einer Kreditvergabe von 20 Milliarden Euro an ein Mitgliedsland der Währungsunion, über die er mit zu entscheiden hatte. Doch M. hatte auf einem ihrer Fotos diesen Blick erkannt. Diesen einen speziellen Blick, und ihn für sich gedeutet. Er hatte ihr großes Potenzial gesehen. Das entweder brach lag, weggesperrt war oder aus anderen Gründen keinen Platz in ihrem Leben hatte. M. musste sie hinführen in ihre eigene Lust. Und dies schnellstmöglich. Es galt, keine Zeit zu vergeuden, Stella musste dies mit einem anderen Mann erleben, um sich M. aus vollster, innerer Überzeugung und Begierde hinzugeben.
So gern er selbst sie getroffen hätte, er musste es aushalten, dass ein anderer sie erweckt. M. würde davon profitieren, davon war er überzeugt. Stellas Neugierde auf ihn war geweckt, dessen war er sich bereits sicher. Den Schritt hin zu ihrer eigenen Lust, musste sie allerdings selbst … entscheiden. Und dies würde sie tun! Und zwar heute Nacht, womöglich gar in diesem Augenblick. Der Gedanke daran erregte M.
Stella wollte mit auf das blindfolded Dinner, hatte sogar schon masturbiert in Gedanken daran. Sich die Maske bestellt, von ihm den schwarzen Seidenumhang erhalten. Die Freesien ... ihre Lieblingsblumen auf den Tisch in eine Vase gestellt. Ja, lächelte M. in die Dunkelheit hinein, sie war neugierig geworden, möglicherwise auch ein wenig beeindruckt, er hatte sie erreicht.
Ihre Ehrlichkeit beeindruckte ihn, und nicht nur das, er spürte das Verlangen in sich aufsteigen, spürte das Ziehen in der Beckengegend und wollte eines: Stella weiter hinführen, hin zu sich selbst, hin zu ihrer eigenen Gier!
M. starrte hinunter auf die Stadt, wippte kurz auf den Zehenspitzen, richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau seiner Begierde.
„Stella … was machst du in genau diesem Moment?“