Blindfolded Dinner
Stella erwachte früh an diesem Morgen. Unruhig hatte sie geschlafen, und doch trieb es sie mit dem ersten Weckerton aus dem Bett. Denn der erste Gedanke war gleichzeitig der, was heute passieren würde. Augenblicklich war sie hellwach! Wie üblich war ihr erster Gang in die Küche, die Espressomaschine starten. Es würde eine kurze Zeit benötigen, bis der Automat gebrauchsfertig war, Zeit für die Toilette. Cappuccino am Morgen musste sein, dazu unabdingbar eine Zigarette. Eine von wenigen, über den Tag und den Abend verteilt. Sie hatte es geschafft, den Nikotinkonsum drastisch zu reduzieren, ohne auf die modern gewordene E-Dampferei umzusteigen.
Ja, Stella rauchte. Ein Umstand, der nicht jedem in ihrem Umfeld gefiel, doch sie konnte damit umgehen, belästigte niemanden und hielt sich selber streng zurück. Jedoch gehörten bestimmte Rituale für sie mit zum Leben und zum Wohlfühlen dazu. So auch das französische Frühstück. Stellas Art, den neuen Tag zu begrüßen und sich im Groben schon die Erledigungen und Tagesarbeiten in das noch müde Gedächtnis zu rufen.
Dieser Tag heute würde ein besonderer Tag werden. Ein ganz besonderer Tag sogar. Nur … der Gedanke an das Bevorstehende ließ sie wieder unruhig werden. Genau so unruhig wie an dem Tag, als sie zum ersten Mal von ihm erfuhr. Ja, von ihm. Völlig unvorbereitet und wie aus heiterem Himmel war er in ihr Leben getreten. Plötzlich und unerwartet. Nicht in Gestalt eines attraktiven Mannes, sondern in Form einer Email. Einer außergewöhnlichen und höchst erstaunlichen Email.
Stella war es gewohnt, merkwürdige Emails zu erhalten. Zumeist von Fotografen, die ihr Fotoshootings anboten, denn Stella war eine von vielen tausend Fotomodells. Ihre Setcard war online einzusehen und in der Datei der Agentur natürlich mit weiteren und vertiefenden Einzelheiten, Details und Informationen für interessierte Kunden verfügbar. Portraits, Wäsche- und Bademoden waren ihr bevorzugtes Einsatzgebiet, dazu gut bezahlte Produktwerbung. Aktaufnahmen oder gar Ponartbilder lehnte sie strikt ab. Einige größere Aufträge hatte sie erfolgreich erledigt, war in drei Modemagazinen erschienen, doch was unabdingbar mit ihrem Job verbunden war, dass alle, die mit der Branche zu tun hatten, insbesondere die Fotografen, eines von ihr wollten: Ihre Muschi! Mit ihr ins Bett, sie flachlegen.
Ständig wurde sie in den unterschiedlichsten Versuchen angemacht, meist sogar sehr deutlich, doch Stella lehnte ab. Zumindest fast. In acht von zehn Fällen sagte sie nein, mit zwei von zehn stieg sie ins Bett. Denn Stella war durchaus eine lustvolle Frau. Sie stand auf Männer, auf harte Schwänze, ließ sich rannehmen und gelegentlich auch gerne hart durchvögeln, wenn es denn der Typ war, den auch sie wollte, der sie erregte. Stella war wählerisch, keine Frage, und kaum einer hatte eine Chance bei ihr. Immer waren es ähnliche Methoden, um sie anzubaggern. Bei den Fotografen zumeist erste Berührungen, hier und da ein Zupfen am Ausschnitt ihrer Bluse, um den Kragen zu richten, eine Falte zu glätten, oder um die Naht ihrer Strümpfe zu korrigieren. Wenn dann noch der Idiotensatz zum Einsatz kam: „Ich kann dir weiterhelfen auf deinem Weg nach ganz oben …“, wusste sie, wohin der Hase lief. Und der Typ hatte verloren.
„Falscher Satz!“, pflegte sie in solchen Momenten dann nur zu sagen, und der Blick ihrer blauen Augen gefror zu Eis. Nicht minder schlimm und nervig die Kleinmanager, die ihr die Welt versprachen, sie bräuchte dafür nur ein paar Kleinigkeiten zu tun …
„Ganz schlechte Idee!“, war Stellas Antwort, erneut der Eisessblick.
„Ohne ficken läuft hier nichts!“, erzürnte sich so mancher. „Eingebildete Kuh! Was meinst du wohl, wer du bist? Mit der Einstellung kommst du über den C&A-Katalog nicht hinaus!“
„Das mag wohl stimmen, mein Lieber“, entgegnete Stella kühl. “Aber meine Möse kriegst DU nicht! Haben wir uns da verstanden? Noch nicht mal antatschen darfst du mich. Und jetzt mach gute Fotos, sonst bist du nämlich deinen Job los!“
Ja, Stella war selbstbewusst und energisch. Sie sah gut aus. Ihre Maße waren ein Traum, ihre Brüste mittelgroß, doch prall, ebenso ihr Po. Dazu ihre Beine. Gut trainiert, schlank und fest. Stella war nicht groß gewachsen für ihre Branche, gerade 1,70 Meter und ihr war schon früh klar, dass sie es nicht auf den Catwalk schaffen wird. Für Modemagazine hingegen, und auch weil sich der Wandel weg vom Hungerhakenmodell hin zur Weiblichkeit vollzog, hatte sie gute Chancen. Denn Stella besaß eine Topfigur und ein schönes Gesicht. In gewisser Weise markant, denn ihre blauen Augen zogen jeden in den Bann, dem sie begegnete. Dazu die halblangen dunkelbraunen, fast schwarzen Haare. Schwarze Augenbrauen und die naturlangen dunklen Wimpern verliehen ihr etwas Raubkatzenartiges. Die hohen Wagenknochen vertieften diesen Eindruck noch. Lediglich ihr Mund, die vollen Lippen passten nicht ganz ins Bild des Vamps. Stella konnte überraschend den perfekten Schmollmund ziehen, einem unschuldigen Mädchen gleich, doch gleichzeitig mit den Augen feurige Blitze schießen. Stella besaß eine Wandelbarkeit, die ihr Umfeld immer wieder aufs Neue verblüffte und auch entzückte. Stella-Fotos lebten ganz entscheidend von ihren tausendfach unterschiedlichen Gesichtsausdrücken, ihrer Mimik und vor allem auch durch ihr Lachen.
Sie wusste zu posieren, ihren Körper aufreizend in Szene zu setzen. Sie wusste um ihr Aussehen und um ihre erotische Ausstrahlung. Doch Stella hatte schon sehr früh gelernt, nein zu sagen, auf sich aufzupassen und sich erst die Jungs, später dann die Männer vom Hals zu halten. Erpressen oder drohen konnte ihr niemand, sie war nicht auf den Mund gefallen, vor allem aber konnte sie sich ausdrücken. Hellwach und intelligent brachte sie manch einen Kerl aus dem Konzept und mehr noch … aus dem Macho-Gleichgewicht.
Der abendliche Blick in ihr Emailaccount brachte nur selten überraschende und positive Nachrichten, zumeist waren es Datinggesuche und plumpe Anmachen irgendwelcher Typen aus ihrem Metier. Zumeist Fotografen, die ihr eine Bilderbuchkarriere versprachen.
An jenem Abend saß sie frischgebadet im flauschig-weichen Bademantel auf dem Sofa, die Füße mit den grauen Wollsocken auf der Kante des Glastisches aufgestellt und übersah IHN fast. Emails selektieren und ungelesen löschen war Alltag für sie, jedoch die wirklich wichtigen filterte sie mit traumhafter Sicherheit heraus.
„Auserkoren“ stand in der Überschrift. Hätte dort „auserwählt“ gestanden, hätte sie sofort weggeklickt. Wie oft schon war sie auserwählt worden, um einen Preis zu gewinnen. Machenschaften, um auf eine Firma oder ein neues Produkt aufmerksam zu machen. Auserkoren klang anders für Stella, und leicht gereizt öffnete sie doch das Mail. Wollte sie die Zeilen zunächst unwirsch überfliegen, stockte ihr überrascht schon nach dem ersten Absatz der Atem.
Ein solches oder vergleichbares Email hatte sie im Leben noch nicht erhalten. Einerseits ein wenig unmoralisch, anderseits aber doch faszinierend. Unterschrieben war das Mail nur mit einem Buchstaben. Statt wie üblich „Viele Grüße … „ stand nur: „M.“ dort. Mehr nicht. Kein Name, nichts.
Stellas erster Impuls war, kurz, harsch und abweisend zu antworten. In etwa so:
„M.? Wofür steht das? Für Monster? Danke, kein Interesse!“
Doch etwas hielt sie zurück, ihrem Impuls zu folgen. Sie ließ den Laptop aufgeklappt und ging an das Weinregal, sich eine Flasche Rotwein zu öffnen. Plötzlich wieder hellwach und gar nicht mehr dösig und abgespannt, wollte sie diese merkwürdige Nachricht und Kontaktaufnahme noch einmal lesen, und dies mit Ruhe und aller Aufmerksamkeit. Denn trotz des recht unverschämten Ansinnens, waren es die Worte des Unbekannten, sein Schreibstil und die Schlüsselreize, die ihr aus bislang nicht gekannten Gründen eine leichte Gänsehaut verursachten und … zusagten. Und ein voreiliges Löschen verhinderte. Denn zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie ein untrügliches Ziehen in ihrer Bauchgegend bemerkt. Ein Ziehen, das sie sehr gut kannte und ihr ein Kribbeln auf der Kopfhaut verursachte.
Dieses Email unterschied sich von allen Emails, die sie je erhalten hatte. Ein Mann der schreiben konnte? Der sich ausdrücken und artikulieren konnte? Einer, der sie nicht plump anmachte, sondern … ihr Interesse weckte?
Zwei Gläser Rotwein genehmigte sie sich, las das Mail viermal, achtete verstärkt auf einzelne Worte und entdeckte, dass er, der unbekannte M., sich zwar lobend über ihre attraktive Erscheinung äußerte, dies aber nicht im Überschwang oder gar geifernd, nein, er fesselte sie damit, dass er sich zwei Fotos ihrer Datei heraus gesucht hatte, und ihr genau beschrieb, was er in seinen Augen sah. Es waren Gesichtsbilder. Dass es – zufällig? – genau die beiden Bilder waren, die sie für sich ebenfalls als die gelungensten ansah, das konnte er nicht wissen. Nein, dachte sie, das konnte er nicht. Und doch hatte er genau die beiden Fotos heraus gesucht. Das war es, was sie am meisten beeindruckte. War sie hier einem Mann begegnet, der Empathie besaß, feinfühlig, aufmerksam war und chirurgisch gleich in ihren Kopf eindrang?
Denn das was er ihr schrieb, kam schon fast einer lustvollen, tiefenpsychologischen Diagnose gleich. Er sagte ihr auf den Kopf zu, was er in ihren Augen las, was er in ihrem Gesicht sah.
Dies aber ebenfalls nicht gierend oder besserwisserisch, sondern klar, präzise und auch mit Charme und einer Prise Humor versehen. Ja, seine Worte ließen sie mehr als einmal schmunzeln, und je öfter sie es las, um so lauter konnte sie bei einer bestimmten Passage auflachen.
Natürlich war Stella intelligent genug, um nicht auf irgendeine Psychomail hereinzufallen, und so blieb sie kritisch, versuchte herauszufinden, wie dieser M. tickte. Aber sie fand nichts Bedrohliches. Auch zwischen den Zeilen nicht. Im Gegenteil, sie entdeckte die Schlüsselwörter, die sie reizten, die ihrem Wesen und ihrer eigenen Lust entsprachen. So schrieb er von einem Rendezvous und nicht von einem Date. Das zeigte ihr, dass M. Stil besaß, Niveau und eher ein Mann der alten Schule war, als ein Kerl, der sich übermäßig im Cyberspace herum trieb. Auch die Wörter „Verlangen“, „Begierde“, „attraktiv“, „erregend“ waren sehr nach ihrem Geschmack. Stella mochte zwar gelegentlich auch dirty talk, dies aber erst in einem wesentlich späteren, intimeren Stadium.
Sie fand es süß, dass er hunderte von Setcards durchgesehen hatte, auf der Suche nach der EINEN Frau, die er wollte. Doch wofür wollte? Für ein Fotoshooting der besonderen Art? Für eine außergewöhnliche Produktwerbung? Nein, er suchte eine Frau als seine persönliche Begleitung für eine atemberaubende Party! Wie er es nannte. Aber eben nicht irgendeine Frau, sondern DIE Frau. Als Stella dies zum ersten Mal las, dachte sie noch, soll er sich doch eine vom Escort Service holen, 1.000 Euro hinblättern und fertig. Mit einem gewissen Widerwillen hatte sie dennoch weiter gelesen. Denn auch diese Party schien keine normale Party zu sein aber auch keine Einladung in einen Swingerclub oder dergleichen. Sondern etwas Elitäres, Diskretes, Außergewöhnliches.
Um was genau es sich handelte, schrieb er nicht. Dies wollte er morgen mittteilen. Morgen um Punkt 19:00 Uhr würde sie das nächste Mail in ihrem Posteingang vorfinden.
Soll ich antworten, dachte Stella, oder ihn wie all die anderen Bewerber ignorieren? Hier hat sich jemand sehr viel Mühe gegeben, das war ihr klar, und dies musste sie anerkennen. Immer wieder las sie einen bestimmten Absatz, in der er ihr ihre eigene Neugierde und erotisches Verlangen auf den Kopf zusagte, ja, ihr sogar eine leichte Feuchte im Schritt unterstellte. Was sie zunehmend erregte. So etwas hatte sich noch kein Kerl gewagt. Und plötzlich wurde es ihr bewusst. Verdammt, dachte sie, dieser Mann fickt meinen Kopf!
Bewusst lapidar und knapp hielt sie dann doch ihre Antwort:
„Hallo M.,
na dann … bin ich mal gespannt auf Morgen, 19:00 Uhr.
Gruß
Stella“