Die Wasserburg
Der Verteidiger von Jenny hoffte hingegen, die Zeugin habe eine dicke Frau in einem bunten Sommerkleid gesehen – dann konnte man den ganzen Fall neu aufrollen …„Wie gesagt, es ging rasend schnell und ich habe dem auch in diesem Augenblick keine Bedeutung beigemessen, aber es war eine schmale Silhouette, eine eher schlanke Frau und die knappe Kleidung eher dunkel.“
„Danke, Frau Berger, reicht mir schon! Die Angeklagte trug einen dunklen Slip und eine schwarze Korsage. Der Gedanke liegt nahe, die Zeugin habe Frau Kreuzer gesehen, wenn auch nur für einen Moment!“
„Einspruch, Herr Vorsitzender Richter!“ Der Verteidiger sprang auf. „Die Schlussfolgerung des Herrn Kollegen Staatsanwalt ist spekulativ! Die Zeugin sah nur einen Schatten davon huschen!“
„Stattgegeben!“, sagte Richter Körner. „Die Erinnerung an eine davon eilende Person ist kein Indiz dafür, dass die Zeugin Frau Kreuzer gesehen hat! Sie können den Zeugenstand verlassen, Frau Berger, vielen Dank! Ich rufe Frau Jenny Kreuzer zurück in den Zeugenstand!“
Jenny schritt erhobenen Hauptes zum Schafott. Sie hatte bereits alles gestanden – nur das Gericht und die Zuschauer im Saal wussten noch nicht, warum sie es überhaupt getan hatte.
Sie war blass und angespannt – denn jetzt ging es darum, ob sie lebenslänglich bekommen würde – oder eben nicht.
Sie hatte das alles mit ihrem Anwalt durchgesprochen, aber es hing allein von ihr ab …
„Darf ich eine Erklärung abgeben, Herr Vorsitzender Richter?“
„Bitte, Frau Kreuzer!“
„Ich war die Frau, welche die Zeugin Lena Berger gesehen hat! Ich habe mich sogar in einen Türeingang gedrückt, damit sie mich nicht erkennt. Darf ich gleich weiter aussagen?“
Richter Eberhard Körner nickte.
Jenny wollte es schnell hinter sich bringen. Sie hatte bereits jetzt Schweißperlen auf der Stirn.
„Ich verließ das Zelt von Herrn Brückner, um mich auf den Personaltoiletten in der Nähe des neuen Wellnessbereiches frisch zu machen. Es war ein heißer Sommertag und ich schwitzte. Nach dem ich mich gewaschen hatte, wollte ich ursprünglich zu den Imbiss-Ständen um ein Wasser oder eine Weinschorle zu trinken. Ich überlegte es mir anders. Ich hatte Walter seit der Eröffnung nicht mehr gesehen und wollte ihn fragen, ob es ihm gut ginge. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Herr Friedrichs bereits Lena Berger mit dieser Aufgabe betraut hatte. Ich weiß heute nicht mehr, warum ich mich nicht bemerkbar machte, sondern mich wie eine Katze anschlich …“
Im Gerichtssaal war es wieder so still, dass man die berühmte Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können.
„Ich hatte in diesem Moment keine finsteren Hintergedanken, die Ereignisse vom Sommer 2001 in Titisee-Neustadt waren weit weg. Mit meinen flachen Sandalen, die ich inzwischen trug, machte ich keine Geräusche und Walter bemerkte mich nicht. Was ich dann sah – es war ungeheuerlich!“
Jenny musste eine Pause machen, alles war wieder präsent.
Es war die Wahrheit – aber würde man ihr das auch abkaufen? Es gab keine Zeugen – obwohl, hätte es Lena nicht auch sehen müssen oder war sie so geräuschvoll herein gekommen, dass Walter …?
„Bitte, Frau Kreuzer, schildern Sie uns die Szenerie, die sich Ihnen bot!“, forderte der Richter sie auf.
„Walter von Beckstein schielte mit einem Auge auf ein Aktfoto von mir, aufgenommen im Sommer 2001. Mit dem rechten Auge betrachtete er auf einem Bildschirm die Badestelle, wo Sklavinnen und Sklaven nackt Beach-Volleyball spielten und badeten …“ Jenny musste schlucken.
„Er hatte … den Hosenschlitz geöffnet und onanierte … Plötzlich war alles wieder da, die beiden Nachmittage vor vierzehn Jahren, was man mir angetan hatte!“
Jenny sank auf dem Stuhl zusammen und auf den Zuschauerrängen fragten sich einige, ob die sich in Hollywood bewerben wolle, andere wieder hatten unendliches Mitleid mit der jungen Frau.
„Ich war entsetzt und außer mir, sah mich außerstande, Walter zur Rede zu stellen. Stattdessen rannte ich wie von Sinnen weg, ich weiß nicht, ob er mich bemerkt hatte. Ich griff im Ausstellungssaal mit den mittelalterlichen Waffen nach der erstbesten, die mir geeignet schien, ein verzierter Dolch mit langer Klinge. Ich lief zurück, immer noch wie in Trance, diesmal bemerkte mich Walter. Ich schrie: ‚Du bist nicht besser als die anderen beiden Schweine!‘, umklammerte den Griff des Dolches mit beiden Händen und stieß zu als hielte ich ein Schwert in der Hand. Es war die Enttäuschung darüber, weil sich Walter doch vor vierzehn Jahren beinahe fürsorglich gezeigt hatte, ich ihm verzeihen wollte – und dann das!“
Jenny verschränkte die Arme, versenkte das Gesicht darin und schluchzte.
„Sie haben tatsächlich Walter von Beckstein angerufen, Frau Kreuzer? Das ist juristisch relevant!“ Der Richter hakte unerbittlich nach.
Jenny hob den Kopf ein wenig. „Ja, sagte ich doch, ich habe ihn angeschrien …“
Der Vorsitzende Richter tuschelte mit seinen Beisitzern. Nur die Juristen im Saal ahnten, es ginge um die enge Definition von Mordmerkmalen.
Wenn die Täterin das Opfer auf sein Tun hingewiesen habe und zudem in einem emotionalen Ausnahmezustand handelte, stand die Anklage der Staatsanwaltschaft auf wackligen Beinen.
„Geht es wieder, Frau Kreuzer? Wir würden gern noch erfahren, was Sie unternommen haben, um die Tat zu vertuschen.“
wird fortgesetzt ...