Die Wasserburg
Linda unterbrach den Wortschwall mit einer Handbewegung.
„Ich habe mich in den letzten Tagen ein wenig mit BDSM beschäftigt“, Linda fiel es immer noch schwer, diese englische Abkürzung zu verwenden, „und versuche, Sie zu verstehen, Frau Berger! Schildern Sie mir doch bitte, warum Sie sich hier beworben haben, obwohl Sie für die Stelle eigentlich überqualifiziert sind!“
Linda nahm einen Schluck Kaffee, den Jenny gebraut hatte und der gut schmeckte.
„Ich spürte schon immer den Wunsch nach Unterwerfung in mir und als meine Freundin Sunny anrief …“
„Sunny?“, wurde sie von Linda unterbrochen.
„Sandra Langner, auf der Burg Anne genannt. Sandra rief mich an, eine Stelle wäre frei und ich kam sofort tags darauf zum Vorstellungsgespräch. Na, ja, es endete damit, dass Walter, also Herr von Beckstein, Strip-Quiz mit mir spielte. Ich musste dann auch den Slip abstreifen, weil ich nicht mehr wusste, in welchem Fluss Kaiser Friedrich Barbarossa ertrunken war …“
„Wollen Sie damit andeuten, dass Sie bereits beim Vorstellungsgespräch beziehungsweise unmittelbar danach Sex mit Herrn von Beckstein hatten?“
Linda hatte sich vorgenommen, sich über nichts mehr zu wundern, aber in diesem Brandenburg war alles anders – und vor allem auf dieser Burg!
„Ja!“ Das immer noch vorhandene Rouge auf ihren Wangen überdeckte das erneute Rotwerden bei Lena.
Linda beugte sich ein wenig vor, senkte die Stimme.
„Darf ich eine sehr direkte, indiskrete Frage stellen? Haben Sie diesen Mann wirklich geliebt?“
Lena beugte sich auch nach vorn – Linda achtete wieder auf jedes Detail der Körpersprache.
„Ja, habe ich, auch wenn mir das keiner glaubt! Ich war sogar bereit, diesem nicht mehr ganz jungen Mann ein Kind zu schenken, er hatte es sich gewünscht! Wir waren untröstlich, als ich ins Krankenhaus musste, Unterleib-OP, keine Kinder mehr!“
Lena hatte jetzt Tränen in den Augen, die Euphorie nach der Session mit Kurt war verflogen.
Linda sah keine Anzeichen von Schauspielerei – das wirkte echt.
Die Frau war wirklich verzweifelt, denn auch mit einem neuen, jüngeren Partner würde sie keine Kinder haben.
„Übrigens kann ich Sie auch verstehen, Frau Behrends, Sie müssen das fragen! Junge Frau angelt sich 70-jährigen Mann, um alles zu erben! Um die Wartezeit zu verkürzen, habe ich den Mann …Nein, Frau Behrends, habe ich nicht! Bevor Sie weiter fragen – ich war bei Walter im Büro, gegen 15:00 Uhr, da war er noch sehr lebendig. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht mal in das bunte Treiben unten eintauchen wolle, statt sich alles nur an Bildschirmen anzusehen …“
Lena tupfte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen von den Wangen.
Wenn sie das spielte, dann hätte sie einen Academy Award, einen Oscar, verdient, da war sich Linda sicher.
Es gab nur ein Problem: Sie redete mehr, als die Frage her gab.
Wollte sie damit etwas verschleiern?
Lena weinte immer noch, weil sie einen Mann verloren hatte, den sie liebte und weil sie keine Babies mehr bekommen konnte.
Aber das Bild einer trauernden Witwe war nur schwer in Einklang zu bringen mit dem, was Linda vorhin im Folterkeller gesehen hatte.
Linda gab ihrem Impuls nach, stand auf, ging um den Schreibtisch und nahm die fast gleichaltrige Frau kurz in den Arm.
„Mein aufrichtiges Beileid, Lena! Wenn es dir hilft – ich bin geneigt, dir zu glauben!“
„Danke, Linda!“, schluchzte die neue Burgherrin.
Unbewusst waren beide auf das „Du“ gekommen, weil sie beide nur wenige Monate an Lebenserfahrung trennte.
Linda hatte für heute eigentlich genug von der Burg und den emotionalen Abgründen, die sich da auftaten, dabei hatte sie nur wenige Verdächtige interviewen können.
„Frau Kreuzer …“
„Jenny …nennen Sie mich Jenny, wir sind doch fast im gleichen Alter!“
„Okay, Jenny, du hast doch den besten Überblick! Wer von den Bewohnern dieser Burg ist zur Zeit unterwegs, den ich bei anderer Gelegenheit befragen müsste?“
„Herr Brunner ist bei seinem Vater, kommt heute Abend wieder. Frau Langner ist ausgezogen, wohnt jetzt woanders und Frau Ina Lehnigk …“
„Moment mal, wer ist Ina Lehnigk?“
„Die neue Partnerin von Herrn Friedrichs! Sie ist in Berlin und holt ihre Sachen, zieht hier morgen ein.“
Jenny rollte ihre grau-blauen Augen, schien kein großer Fan von Frau Lehnigk zu sein.
„Danke, Jenny, der Kaffee hat ausgezeichnet geschmeckt!“
Linda eilte nach draußen, stieß dort beinahe mit Kurt Friedrichs zusammen.
Wenn der schon mal hier war, konnte sie den auch gleich noch befragen.
„Ich möchte ein Statement abgeben, Frau Behrends! Ich weiß, Sie schnüffeln hier nicht herum wie die anderen Kripo-Beamten, Sie wollen tiefer blicken, haben einen anderen Ansatz.“
„Ich höre, Herr Friedrichs!“, sagte Linda, die fast geneigt war, den aus den Kreis der Verdächtigen auszuschließen.
Er war sehr kooperativ gewesen, hatte Klaus und Rolf alles geliefert, was sie wollten.
Oder war das nur ein Trick, um von sich abzulenken?
„Die bizarre Situation vorhin …In der Südsee haben sich einst die Ureinwohner bei einem Abschied von einem geliebten Menschen mit Kämmen aus Haifischzähnen oder Knochen die Kopfhaut zerkratzt als Zeichen der Trauer bis Blut floss. Bevor Lena es aussprach, habe ich diese Bitte in ihren Augen gesehen. Sie wollte das auch – ihr Leid durch körperliches Leiden nicht bekämpfen, sondern verarbeiten. Ich weiß, es klingt bekloppt …“
„Ich habe das gerade mit Lena besprochen und beginne, Verständnis dafür zu entwickeln“, sagte Linda.
„He, nicht dass Sie auch noch auf den Trip kommen!“
wird fortgesetzt ...