Des Notstands zweiter Teil
Bickelmann schüttelte es auf der zugigen Treppe des Pfarrhauses. Er spielte gerade mit dem Gedanken, sich von der Schwarzbachtalbrücke zu stürzen, als hinter ihm im Dunkeln leise die Haustür aufgeschlossen wurde.„…und bis zum nächsten Mal bleibt dein kleiner Freund eingeschlossen“, sagte Anke Flöter streng, während sie offenbar einen schmalen Briefkastenschlüssel an einer Kette um ihren Zeigefinger kreisen ließ. „Ein bisschen Keuschheit steht deiner Profession wohl an.“
„Ganz wie sie befehlen, Madame“, antwortete die demütige Stimme des Pfarrers aus dem Dunkel des Hausflurs.
Herbert drehte sich langsam und träge um. Er war nicht sicher, ob sein Alkoholpegel ihm einen Streich spielte. „Ähhh…“ Er hob den Zeigefinger und versuchte den Tränen umflorten Blick klar zu bekommen. „Herr Parre, bisch du das?“, lallte er mit schwerer Zunge. Das erschrockene Schweigen, ein paar Treppenstufen höher, registrierte er nicht.
Anke erfasste die Situation als Erste und reagierte auf ihre Art. „…und vielen Dank, Herr Pfarrer, dass sie auch zu so später Stunde immer noch ein offenes Ohr für ihre Schäfchen haben. Man weiß ja sonst gar nicht wohin mit seinen Sorgen. Gute Nacht.“ Sie tat so als, bemerkte sie den besoffenen Bickelmann erst jetzt.
„Herbert, was machst du denn hier mitten in der Nacht und noch dazu völlig betrunken, schämst du dich überhaupt nicht?“, blaffte sie Bickelmann an. Der Pfarrer stand schockstarr im dusteren Hausflur.
„Isch bin auch ein Schäfschen und isch will sofort das annere Ohr vun dem Parre, weil isch im Notstand bin und schwere Sorgen hape. Wenn der Kerl noch wach isch, kanner sisch aach um mich kimmere, weil schunsch bring isch mich nämlich um un hibbe vun da Brigg“, nuschelte Herbert im weinerlichen Tonfall eines Besoffenen, aber so laut, dass Anke fürchtete, gleich werde das halbe Dorf zusammen laufen. „Un du, Anke, bisch jo aa im Notstand weil de Karlfried widder fort is Bauschäde besichtische. Hasche beschdimmd aa e bissel Zuschpruch gebraucht, odder? Alla, un jeze bin ich draan. Mach Platz! Hopp!“
„Der Pfarrer wird sich sicher morgen um dich kümmern, Herbert…“, versuchte Anke abzuwiegeln. Der Kümmerer winkte derweil verzweifelt aus dem Flur, als wolle er sagen: Halt mir den um Gottes Willen vom Hals.
„Nixdo“, krakeelte Herbert „jezd sofort un uff da Stell. Das ist ein Notstand!“ Er kämpfte sich mühsam auf allen Vieren die Treppenstufen nach oben, richtete sich auf, rülpste noch zweimal lautstark und kotzte dem Pfarrer in würgendem Strahl auf den schwarz glänzenden Latexanzug.
Daraufhin fiel er dem angeekelten Seelenhirten schwer in die Arme, rutschte langsam an ihm herab und brabbelte: „Das isch ein Notstand!“ Dann schlief er ein.
Der Pfarrer und Anke schleppten den völlig eingesauten und stinkenden Bickelmann zunächst einmal ins Bad und ließen ihn auf dem Boden liegen. Schleicher stellte sich samt seinem Anzug flugs unter die Dusche. Bickelmann, diese Sau, dachte er, um im gleichen Atemzug festzustellen, dass so ein Anzug eine feine Sache sei, der nicht nur den unterwürfigen Sklaven würdig kleidete, sondern sich auch bei Bedarf einfach und flugs reinigen ließ.
Anke verschwand derweil in des Pfarrers Arbeitszimmer und ließ die Peitschen, die Schweinemaske und diverse andere Utensilien in einem Karton verschwinden. Wer weiß, wann Bickelmann wieder zu sich kommt, dachte sie, und wer weiß, was er sich in seinem Zustand noch merken kann. Zurück im Bad schickte sie Schleicher los, sich umzuziehen und pellte Herbert aus seinem versifften Mantel, den sie achtlos in die Ecke warf. Sie wusch ihm in barmherziger Nächstenliebe mit einem Lappen das Gesicht und bettete ihn später mit Schleichers Hilfe in die Badewanne.
„So, hier kann er seinen Rausch ausschlafen. Vermutlich wird er morgen nicht mehr viel wissen. Für alle Fälle: ich war nie hier, mein kleiner Hirtenknabe, verstanden?“ Sie zog ihn mit der Linken am Ohr zu sich heran und gab ihm mit der Rechten eine Backpfeife. „Wir haben uns verstanden?“
„Jawohl, Madame. Danke, Madame. Ich bin sicher, ein seelsorgerisches Gespräch wird das räudige Schaf wieder auf den rechten Weg führen.“ Anke drehte sich lächelnd um und machte sich flugs auf den Heimweg, während Schleicher beim Anblick ihrer schwarzbestrumpften Beine unter dem kurzen Lederrock qualvoll an den Schlüssel dachte, den Madame inzwischen an einem Silberkettchen um den Hals trug.
Herbert hatte einen völligen Filmriss. Als er am Morgen mit steifen Gliedern in des Pfarrers Badewanne erwachte, erinnerte er sich an gar nichts mehr. Schleicher nutzte diesen Umstand sofort gnadenlos aus, indem er eine Strafpredigt hielt, die sich gewaschen hatte. Vom Saufteuf war da die Rede, von Liederlichkeit und Exzessen, den sieben Todsünden, dem Fegefeuer und der ewigen Verdammnis. Zum Schluss war Bickelmann ganz froh, in seinen stinkenden Klamotten vor die Tür gesetzt zu werden und schlich nach Hause. Eva öffnete ihm die Tür, musterte ihn voller Verachtung von oben bis unten und sagte nur: „Waad nua wenn mein Mudder widder do is…!“
Herbert wurde schlagartig klar, dass er an seinem Leben etwas ändern musste. Er schnappte sich die Gelben Seiten und suchte in der Rubrik Psychiater die Nummer des erstbesten heraus: Dr. E.F. Goldmilch-Schlieffenstein. Dann griff er beherzt zum Telefon.
Anke überraschte Ihren Karlfried am Morgen beim Frühstück mit einer Ankündigung: „Du, mir wird das auf die Dauer als Hausfrau zu langweilig. Ich will wieder arbeiten.“
„Eijoh, mei Sternsche, e guddie Idee“. Karlfried erkannte sofort wo für ihn die Vorteile dieses Arrangements lagen. „Was hasche da dann so voorgestellt, mei Haas.“
„Meine Freundin Doris ist ja sehr erfolgreich in der Erwachsenenbildung und Lebensberatung. Sie meint, ich hätte ein Händchen dafür. Wenn du einverstanden bist, Liebster, würde ich zunächst einmal einige Wochen Praktikum bei ihr machen. Das hat sie mir angeboten. So könnte ich herausfinden, wo meine besonderen Talente liegen, meint sie. Was hälst du davon, mein starker Held?“
„Koschd das was, das Praktikum do? Un wo issen das nochemol?“ Anke grinste innerlich.
„Doris wohnt in Geisenheim, das sind nur knapp eineinhalb Stunden von hier. Bei Bedarf könnte ich also schnell bei Dir sein, Liebster.“
„Ooch, das is ned needisch. Ich bin jo schon groß, mei Sternche.“ Flöter warf sich in die Brust.
„Ich habe aber ein ganz schlechtes Gewissen, dich für mehrere Wochen allein zu lassen. Wenn du mich brauchst rufst du an und ich komme sofort, ja?“ Sie strahlte Flöter an.
Einige Wochen Strohwitwer, dachte der voller Vorfreude. Was bin ich doch für ein Glückspilz. Da kann ich mich in Ruhe um die städtischen Bauschäden kümmern.