•sechs• Geheimnisse (2/3)
Wenn das ein Spiel sein sollte, konnte sie gar nicht darüber lachen! Ivana starrte auf den Bogen Papier, als könnte sie ihm dadurch Informationen entreißen. Dann fiel ihr die Gabe ein - nun konzentriert berührte sie das Papier und den Umschlag - und lächelte. Sie sah Fearghas, das Kuvert in Händen, vor dem Türspalt zum Bad ...
Er hatte sie doch tatsächlich beim Duschen beobachtet. Das Geräusch, welches sie gehört hatte, war vermutlich das Klacken der Zimmertür, als er dieses wieder verließ.
Nur warum hatte er sich nicht bemerkbar gemacht?
Eine gemeinsame Dusche ...
Nein, jetzt nicht daran denken, befahl sie sich selber. Das roch alles zu sehr nach Geheimnissen und Aktivitäten, die sie nicht verstand. Wie sollte sie vertrauen? Sie kannte ihn kaum! Andererseits schickte er ihr sein sicher uraltes "Rittergelöbnis", und das hieß sicher, dass er sich daran gebunden fühlte.
Kein Hinweis auf ein Treffen, aber sie wusste, dass er ihr mit sehr eindeutigem Blick beim Duschen zugesehen hatte.
Was sollte sie tun?
"Gar nichts", sagte die innere Stimme, "schau dir lieber die Gegend an, wie du es ursprünglich vorhattest!"
Ja, das sollte sie wohl tun.
Ivana stand auf und erkundigte sich beim Bäcker nach einer Sightseeingtour zum Haus von Sir Walter Scott. Ein Blick auf die Zeit sagte ihr, dass sie für heute zu spät war, aber gleich morgen früh um 10.00 h würde sie dort sein.
Auf dem Rückweg zur Unterkunft kaufte Ivana noch einen "Guide", um sich einzulesen.
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Pünktlich zur Öffnung von Abbotsford House war sie eine der Ersten, die sich der Führung anschloss. Sie war die wenigen Kilometer mit dem Taxi gefahren, da sie keine Lust hatte auf eine Bustour.
Schon der Blick auf "Abbotsford House" war sensationell. Haus traf es auch nicht wirklich, denn das Gebäude sah eher aus wie ein Schloß!
Für ihre Begriffe riesig, mit kleinen Türmchen und Erkern, und so gebaut, als hätte jemand einen rechten Winkel angelegt.
Eine steinerne Mauer umfasste das Anwesen samt Garten, das inmitten von saftigen Wiesen und Wäldern mit Aussicht auf den Tweed River lag. Malerisch! Begeistert hatte Ivana die ersten Eindrücke dieses 200 Jahre alten Herrensitzes in sich aufgesaugt. Es gefiel ihr nur zu gut. Auf die Pracht, die sie drinnen erwartete, war sie kaum vorbereitet. Schon in der Eingangshalle ließ sich der Reichtum erahnen. Steif und ehern wirkten die blanken Rüstungen rechts und links neben der Tür. So viele Artefakte aus dem 18.Jahrhundert sah man sonst nur in Museen.
Sie hörte nur mit einem Ohr auf das was der Guide erzählte. Zu sehr war sie gefangen in dieser teils exzentrischen Ausstattung und Einrichtung des Herrensitzes. Alleine die Bibliothek war sagenhaft und ließ jedes Herz höher schlagen. Unfassbar! Uralte Bücher rundum in Regalen bis unter die Decke, über eine kleine Rundtreppe begehbar. In der Mitte ein wuchtiger Schreibtisch, der an den des amerikanischen Präsidenten erinnerte. Ein wundervoller Kamin mit einem Gemälde darüber. In einer Nische die schimmernde Marmorbüste des Sir Walter Scott.
Ivana ließ sich von alledem verzaubern und hätte sich am liebsten auf einen der antiken Stühle gesetzt, um die Atmosphäre dieses Raumes in sich aufzunehmen. Sie traute sich nicht, ihre Gabe hier einzusetzen und die Gegenstände zu berühren.
Auch das Bad faszinierte sie über die Maßen in seiner Schlichtheit. Ganz in weiß, mit vielen Fenstern und wenig Einrichtung, aber in der Mitte stand diese schöne Wanne auf vier Füßen und lud geradezu ein, sich zu entspannen in dem lichtdurchfluteten Raum.
Im Herrenzimmer schmückten unzählige alte Waffen die Wände, während kleine weiße, dämonisch schauende Skulpturen von oben auf die Besucher blickten.
Alle Räume waren so belassen worden, wie sie damals von Sir Walter Scott bewohnt wurden.
Sogar den Garten im Regency Stil hatte er als "seine Außenräume" selber entworfen und angelegt.
Über eine gotische Treppe gelangt man zu einer Wiese mit Aussicht auf den Rapunzelturm des Hauses.
Einfach märchenhaft!
Nach gefühlten Stunden quer durch das Haus und das Umfeld ließ Ivana sich auf eine der Bänke im Garten sinken. Die ganzen Bilder und Informationen musste sie erstmal sacken und wirken lassen. Zu gerne hätte sie sich dazu oben im Haus in Scotts Baldachinbett gelegt. Sie musste kichern bei dem Gedanken an das Gesicht des Guides bei solchen Verfehlungen.
Völlig versunken in die erblickten Herrlichkeiten des Hauses, hatte Ivana die Zeit total vergessen und war fast schockiert, als sie von einem Mitarbeiter zum Gehen aufgefordert wurde. Tatsächlich war es schon nach 17:00 h und Abbotsford House für Besucher geschlossen. Sie entschuldigte sich, was mit einem verständnisvollen Lächeln quittiert wurde.
Glücklicherweise stand noch ein Taxi in der Nähe, um Nachzügler aufzunehmen.
Bequem auf den Rücksitz gekuschelt, war es wieder da, das Gesicht, das sie seit zwei Tagen nicht mehr zur Ruhe kommen ließ.
Sie stellte sich vor, wie es wohl gewesen sein mochte zu der Zeit, als Sir Walter Scott dieses Herrenhaus bewohnte. Wie herrlich musste es sein dort zu leben, mit einem Fuß in der Vergangenheit. Dazu Fearghas an ihrer Seite. Ob er wohl in die Badewanne passte? Auch das Bett dürfte einiges größer sein - sinnierte sie leise glucksend. Der herrliche Wald lud geradezu dazu ein, sich "outdoor" zu vergnügen. Hach - ein wenig zu fantasieren sollte erlaubt sein.
Wieder in Melrose beschloß Ivana gleich, in ihrem Zimmer ein langes Bad zu nehmen. Dabei konnte sie dann nochmal alle Eindrücke genießen.
Vielleicht würde sie sogar nochmal dort hinfahren, denn der Garten und auch die 200 Jahre alten Bäume, die Sir Walter Scott selber gepflanzt hatte, luden zum ausführlichen Betrachten ein.
Mit diesen Überlegungen im Kopf öffnete Ivana die Zimmertür.....
Was dann passierte, ging so rasend schnell, dass sie es kaum realisieren, geschweige denn reagieren konnte!
@****ris
06/07/17