Na dann ... "Studentenjob"
Ich bin Jan Mersik, studiere im sechsten Semester Wirtschaftsinformatik und bin seit einigen Tagen wieder Single. In der kalten Jahreszeit wimmelten die Frauen und Mädchen in Stiefeln und Strumpfhosen durch die Uni und ich fragte mich, ob es nicht noch mehr gibt als Jeans und Pullover ausziehen und ins Bett hüpfen. Anika stellte sich diese Frage nie, und als ich es tat, bedeutete es das Ende unserer Beziehung.
Ich half mir über die Trennung hinweg, in dem ich wie ein Irrer für das nächste Seminar büffelte. Drei Tage später wirbelten Bilder von Studentinnen in Fetischklamotten, statistische Monstergleichungen und eine Dozentin, die mir meine ungenügenden Seminarergebnisse mit einer Peitsche in der behandschuhten Hand präsentierte, in meinem Kopf.
Heute begann Tag Vier, ich hatte das Gefühl, nichts zu wissen und Frustration und Stress machten mich spitz wie einen Apachenpfeil. Mit dieser Droge im Blut rannte ich die Steintreppe zum Verwaltungstrakt der Uni hinauf und stolperte auf dem letzten Treppenabsatz über die Schöße meines Nikolausmantels. Meine Hand verfehlte das Treppengeländer und fand als rettenden Halt eine Klinke. Ich polterte ins Heiligtum von Frau Dr. Disser. Dahin wollte ich sowieso, allerdings nicht schnaufend wie eine Dampflok und mit wild rudernden Armen.
»Starker Auftritt, Herr Mersik! Gewöhnlich klopfen Studenten bei mir an und treten nach meiner Aufforderung etwas leiser ein.«
Astrid Disser, achtundvierzig, Dozentin für Wirtschaftsrecht, hob eine feingezeichnete Augenbraue und betrachtete mich mit einem Blick, der mir nicht zum ersten Mal klar machte, dass ich zu einer niederen Spezies gehörte.
Meine zwei Meter geraten nur bei seltenen Gelegenheiten ins Schlottern und eine davon ist der Blick dieser Frau mit der Pagenfrisur. Spätestens, wenn das Eisblau ihrer Augen in meine Richtung schwenkt, marschiert mein Puls in den roten Bereich. Astrid Disser lehrt Wirtschaftswissenschaften und mich das Träumen. Das, obwohl sie nur lacht, wenn die Toilettenspülung ihre Stimme dabei übertönt und noch niemand sie hier in der Uni in einem Rock gesehen hat. Ich kannte sie nur bis zum Hals zugeknöpft und das galt nicht nur für ihre Blusen und ihren schwarzen Ledermantel.
Trotzdem brachte etwas alle männlichen Studenten dazu, sich um die Plätze in der ersten Reihe des Hörsaals zu schlagen, wenn sie eine Vorlesung hielt. Dabei drohte dort nur eine Blamage nach der anderen, denn sie machte sich einen Spaß daraus, jeden Studenten, der den Mut besaß, eine eigene Meinung zu haben, vor allen anderen auseinanderzunehmen.
Den Fehler beging ich nur selten. Meistens saß ich so, dass ich auf ihre Beine schauen konnte. In der kalten Jahreszeit wärmte dass, was ich von ihren Stiefeln mit den hohen Absätzen sehen konnte, nicht nur mein Herz. Schwarz, glatt, ohne jede Verzierung, vermutlich Lack oder auf Hochglanz poliertes Leder. Der Gegensatz zwischen ihrem eiskalten Auftreten, ihrem Zugeknöpftsein und diesen Stiefeln brachte meine Phantasie auf Hochtouren. Leider nur meine, denn wenn sie mich als Opfer auserkor, geschah das, um mein mangelndes Wissen ergötzlich vor allen anderen auseinanderzunehmen, gnadenlos und ohne jedes Lächeln in ihrem immer perfekt geschminkten Gesicht. Trotzdem verpasste ich keine Vorlesung von ihr. Sie zog mich an wie eine Schwarze Witwe ihr Begattungsopfer.
»Ich ...», ich verfluchte im Stillen meine Stimme. Warum fühlte ich mich im Zimmer dieser Frau immer wie ein kleiner Junge? »Ich wollte nur meine Seminarunterlagen abholen, Frau Disser. Bitte um Entschuldigung, ich bin auf der Treppe gestolpert.«
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort und betrachtete meinen Nikolausmantel mit gekräuselten Lippen. »Vielleicht sollten sie das nächste Mal vorher ins Fitnessstudio gehen. Ihr Vorgänger in diesem Mantel scheint Bud Spencer gewesen zu sein. Sie arbeiten noch immer für den Partyservice?«
Ich nickte und erinnerte mich daran, dass Frau Disser mir vor zwei Jahren aus unerfindlichen Gründen diesen Tipp gegeben hatte. »Ja. Heute darf ich den Nikolaus geben.« Ich versuchte, zu grinsen.
»Da wäre ich bestimmt nicht drauf gekommen. Gut, das sie mir das sagen.« Mein Grinsen verschwand.
»Haben sie denn auch eine Rute dabei?«
Jede normale Frau stellt diese Frage dem Nikolaus mit einem Lächeln, aber nicht Astrid Disser. Sie blickte mich an, als hätte sie nach der Lösung einer Studienaufgabe gefragt und wie fast in jedem Seminar blieb ich ihr die mündliche Antwort schuldig. Für dich wäre meine Rute extragroß, dachte ich und mein rotes Gesicht sprach Bände. Zuckte da etwa ihr Mundwinkel? Glitzerte etwas in ihren Augen? Ich hatte mich bestimmt verguckt.
»Sehr gesprächig waren sie ja noch nie bei mir. Ich will für sie hoffen, dass sie mit Computersprachen und meinen männlichen Kollegen besser klarkommen. Hier sind ihre Unterlagen.« Sie griff nach dem letzten Umschlag auf ihrem Schreibtisch und hielt ihn in die Höhe.
Ich machte einen Schritt nach vorne und wäre dabei fast wieder über meinen Mantel gestolpert. Hastig griff ich nach den Papieren und berührte dabei ungewollt ihre Hand. »Danke, Frau Disser.« Auf dem Gang holte ich tief Luft. Die Hand der der Frau aus Eis war warm gewesen, weich und zart.
*
Während ich an der Straßenbahnhaltestelle wartete, studierte ich die Liste, die mir Andrea heute Morgen mit einem grummeligen »Sei pünktlich bei den Leuten« in die Hand gedrückt hatte. Sie hätte die Tochter von Astrid Disser sein können. Immer perfekt gekleidet und ich hoffte für sie, dass ihr irgendjemand mal beibrachte, wie das mit dem Lachen funktioniert. Mir war es egal, sie zahlte pünktlich und der Job in ihrem Partyservice hielt einen armen Studenten wie mich am Leben. Die Aufträge lagen nicht weit auseinander und es sah aus, als würde ich einen frühen Feierabend haben. Der erste meiner drei Jobs führte mich in ein Bürohaus. Glas, Chrom und mittendrin die Weihnachtsfeier einer Werbeagentur mit Familie. Ich war nicht bestellt worden, um den Nikolaus zu spielen, sondern um Prellbock für dumme Sprüche, schlechte Umsätze und die Laune der Mitarbeiter zu sein. Knecht Ruprecht hätte hier seinen Vorrat an Ruten aufbrauchen können.
Zwei Stunden später schüttelte ich den Kopf vor der Tür. Hoffentlich war der nächste Auftrag nicht genauso mies. Zeit für eine vorgezogene Zigarette. Ich zog mir den Kunstbart an seinem Gummiband aus dem Gesicht und atmete tief die frische Luft, die nach Schnee roch. Zwanzig Minuten später stieg ich vor einem Mehrfamilienhaus aus der Gründerzeit aus der Straßenbahn. Meine Nase hatte mich getäuscht. Statt Schnee fiel Regen und ich überlegte, wie wohl ein Nikolaus mit Regenschirm aussehen würde.
Erste Pfützen bildeten sich und ich war froh, meine alten Bikerstiefel angezogen zu haben. Die ausgelassen fröhliche Familie, die mich empfing, versöhnte mich mit der Werbeclique und ihrem bierbauchigen Chef. Am liebsten hätte ich meinen Nikolausmantel im Flur an die Garderobe gehängt, denn der Gegensatz zwischen der Nässe und Kälte auf der Straße und der heimeligen Wärme in der Wohnung nahm mir den Atem. Kerzen erleuchteten das Wohnzimmer und am Fenster standen vier blonde, blauäugige Mädchen, aufgereiht wie Orgelpfeifen. Ich zelebrierte meinen Job, fragte nach Artigkeiten und Unartigkeiten. Das Bravsein wurde einstimmig bejaht. Die Frage nach den Verfehlungen führte zu hellrosa Bäckchen und dazu, dass Kinderhände sich an Kleidersäumen zu Verlegenheitsfäusten ballten.
Jedes Päckchen von mir gab es nach einem Weihnachtsgedicht, und als ich alle vier verteilt hatte, bekam ich zum Dank eine Gesangsvorführung. Auf eine Zugabe verzichtete ich. Die vier Kinder hatten nur das Aussehen dieses wunderbaren Musikinstrumentes. Als Entschädigung für meine malträtierten Ohren und als Zugabe zum Nikolaus-Salär drückte mir der Papa mit einem mitfühlenden Lächeln eine Flasche schottischen Malts in die Hand. Den würde ich morgen Abend nach dem bestandenen Seminar bei einem Universitätsdrachen namens Disser niedermachen. Lieber hätte ich ja den Drachen niedergemacht, aber durch die Rüstung dieser Frau wäre auch Siegfried mit seinem Schwert nicht gedrungen.
Ich stand an der Straßenbahnhaltestelle und rief Andrea an.
»Party- und Nikolausservice Donder« Ihre Stimme am anderen Ende klang danach, als hätte sie den Satz heute schon hundertmal gesagt.
»Andrea, hier ist Jan. Der Job ist erledigt und ich melde mich ab.« Die Straßenbahn rollte an.
»Gut, dass du anrufst. Ich habe noch einen Job für dich, in der Vogelsiedlung.«
Ich dachte, ich hätte mich verhört. Ich war so müde, dass ich nur noch in mein Bett wollte. Und wieso klang sie, als wenn sie lächelte? Andrea wusste doch gar nicht, wie das geht »Andrea, das geht nicht. Außerdem habe ich keine Geschenke mehr im Sack.«
Kühl klang es aus dem Hörer: »Du bist doch erst fünfundzwanzig. Wie kann da dein Sack schon leer sein?«
Wieso musste ich in vier Stunden zweimal auf Frauen treffen, die mir Bemerkungen um die Ohren hauten, die ein Einstieg zu einem deftigen Flirt waren - und die nicht mal wussten, wie sich dieses Wort schreibt? »Sehr witzig. Ich habe morgen ein wichtiges Seminar, bin hundemüde und bis zur Vogelsiedlung fahre ich eine halbe Stunde. Kann das kein anderer machen?«
»Nein, geht nicht. Ein Geschenk brauchst du nicht, das bekommst du von der Mutter vorher in die Hand gedrückt. Du brauchst nur klingeln. Ich schicke dir eine SMS mit der Adresse.« Prima. Der Boss hatte gesprochen und die Leitung war tot.
*
Als ich aus der Straßenbahn stieg, zeigte die Digitaluhr an der Haltestelle kurz vor neun und ich wusste, dass ich auch heute Abend nicht früh ins Bett kommen würde. Nach zehn Minuten Fußweg stand ich vor einem niedrigen Tor, das den Zugang zu einem hinter Bäumen versteckten Einfamilienhaus verwehrte. Ich hoffte nur, dass hier kein Hund auf dem Grundstück sein Unwesen trieb, als ich die Verriegelung öffnete und mich auf die Suche nach der Haustür machte.
Rumms! Aus zwei Meter Höhe scheint jedes Rosengatter für Zwerge gemacht und ich rieb mir wütend die Stirn. Die Blumenampel hatte ich in der Dunkelheit übersehen und meine Laune näherte sich dem Tiefpunkt, als ich vor der Eingangstür aus Glas und Aluminium stand. Warmes Licht drang durch die Scheibe und fröhliches Kinderlachen. Andrea hatte mir nur eine Hausnummer genannt, aber keinen Namen.
Neben der Tür fand ich ein Messingschild mit den Initialen »A.D.« Ich grinste und stellte mir vor, hier würde mein Universitätsdrache wohnen. Astrid Disser als Mutter? Unvorstellbar! Wenn sie ihren Kindern etwas beibrachte, dann war es wahrscheinlich der Glaube an die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft und nicht der an den Nikolaus. Abrupt verstummte das Lachen, die Tür ging auf und ich hörte eine Stimme, die mir bekannt vorkam: »Wird ja auch Zeit. Hoffentlich warst du bei den anderen Kindern nicht auch so unpünktlich!«
Ich hätte Andrea erwürgen können. So eine miese Masche!
»Mami ist das der Nikolaus?« Ein blonder Wuschelkopf lugte am Ende des Flurs um die Ecke.
»Ein unpünktlicher Nikolaus, Céline. Aber wahrscheinlich hat er bei den anderen Kindern so viel zu tun gehabt. Geh‘ in die Stube, er kommt gleich!« Der Wuschelkopf verschwand. Er hatte einen Befehl erhalten.
»Ich finde das nicht witzig!« Ich war jetzt richtig sauer.
Andrea verzog das Gesicht. Vielleicht hielt sie es für ein Lächeln. »Ach komm, wenn du schön brav bist, bekommst du vielleicht auch noch einen Glühwein.«
Ich biss mir auf die Lippen und bewahrte sie so vor einer Antwort, die mir die Kündigung eingebracht hätte. Sie trat zur Seite, damit ich vorbei konnte, und schloss die Tür hinter mir. Ich schaute mich im Flur um. In die Decke eingearbeitete Halogenspots beleuchteten dezent den in warmen Farben tapezierten Korridor. Nahe der Tür, auf einer roten Gummimatte, standen Stiefel. Zweimal Gummistiefel, vermutlich gehörten sie Goldlöckchen und Andrea. Das dritte Paar passte mit seiner glatten Schwärze da nicht hin. Es war fehl an diesem Platz und in diesem Haus. Es wäre in jedem Haus fehl gewesen, zumindest im Flur.
Andrea in oberschenkelhohen Stiefeln aus Lack, so eng, dass sie wie Strümpfe am Bein anliegen mussten und mit mehr als zehn Zentimeter hohen Absätzen? Ich schaute sie an - grauer Cashmerepullover, Designerjeans - so, wie ich sie auch aus dem Büro im Partyservice kannte. Wann - nein, für wen zog sie diese Waffen an?
Andrea tat so, als sei alles normal und hielt mir ein Päckchen hin. Nur in ihrem Mundwinkel zuckte etwas. Das gleiche Zucken hatte ich schon einmal gesehen, allerdings bei Astrid Disser. Verarschte mich jede Frau heute?
Ich nahm das Päckchen, dass Andrea mir hinhielt, steckte es in meinen Jutesack und folgte ihr.
»Oma hat der Nikolaus auch eine Rute mit?« Ich hörte die Stimme des blonden Mädchens durch die angelehnte Wohnstubentür. »Das will ich doch hoffen!« Es folgte eine Pause, in der wahrscheinlich die Augen des Kindes groß wurden und die Oma das Kind streng anschaute, dann kam noch ein Nachsatz: »Du warst ja schließlich nicht immer artig.« Die Stimme der Oma gefiel mir. Sie klang sanft und liebvoll, mit einem Timbre, wie sie eine gute Sopranistin hat. Ich hatte sie schon einmal gehört, heute ...
Ich riss die Tür zum Wohnzimmer auf. Das goldlockige Mädchen saß auf dem Schoss ihrer Oma, hatte ihr die Ärmchen um den Hals geschlungen und schaute mich verschämt an. Die Oma trug einen halblangen, schwarzen Seidenrock, eine weiße Bluse und hatte eine Pagenkopffrisur. Es war der Moment, in dem ich meine Hand nach dem Türrahmen ausstreckte, um mich festzuhalten.
Die Frau hob den Kopf, schaute mich an und statt des üblichen Blicks von ihr, bei dem auch flüssiges Helium einen Gefrierschock bekommen hätte, erblühte ein Lächeln auf dem Gesicht von Astrid Disser.
»Das ..., dass ...« Ich brachte keinen Satz zustande.
»Na, ein stotternder Nikolaus ist ja mal etwas Neues. Das hatten wir aber schon mal heute, oder, lieber Nikolaus?«
Die heimelige Stube mit dem prasselnden Kaminfeuer verwandelte sich schlagartig in das Büro in der Uni und ich mich in eine mit den Knien zitternde Bohnenstange. Nur wusste ich nicht genau, ob es Furcht oder Wut war, was da in mir tobte.
Die nächsten zwanzig Minuten handelte ich wie ein Roboter, spulte mein Programm ab, war nett zu dem Kind und kam mir dabei vor wie in einem Seminar. Immer wieder blickte ich aus den Augenwinkeln zu Astrid Disser, aber sie verzog keine Miene, und als das Kind mit glückstrahlenden Augen das Geschenk entgegennahm, nachdem sie das Gedicht fehlerfrei aufgesagt hatte, atmete ich tief durch.
Ich kam erst wieder zu mir, als Andrea Goldlöckchen bei der Hand nahm. »So Mama, es war schön bei dir, aber wir müssen jetzt wieder nach Hause.«
Mama? Der Universitätsdrachen war tatsächlich die Mutter von Andrea. Ich war gerade richtig verarscht worden. Wütend wuchtete ich mir meinen leeren Sack auf den Rücken.
»Herr Mersik?« Astrid Disser saß noch immer auf der Couch, ohne sich gerührt zu haben.
»Ja?« Ich drehte meinen Kopf.
»Falls sie noch einen Moment Zeit hätten, würde ich gerne noch ein Problem mit ihnen besprechen. Vielleicht können sie mir dabei helfen.« Sie stand mit einer lasziven Bewegung von der Couch auf und stand mir nach zwei Trippelschritten gegenüber, näher, als man in einem lockeren Gespräch steht. Ich roch ihren intensiven, schweren Duft.
»Frau Disser, eigentlich bin ich schon spät dran und ich muss noch für das Seminar übermorgen lernen.«
Astrid Disser lächelte mich mit einem seltsamen Blick an. »Das können sie auch bei mir in der nächsten halben Stunde. Ich habe da ein kleines Problem mit meinem Computer und es soll ihr Schade nicht sein.«
Ich hatte zwei Gründe, ja zu sagen. Geld konnte ich als armer Student immer gut gebrauchen und dazu ihr Lächeln. Ich wusste gar nicht, dass sie über die dafür notwendigen Gesichtsmuskeln verfügte. Ich seufzte. »Wenn es nur eine halbe Stunde dauert, kann ich das sicher einrichten.« Hinter ihrem Lächeln glitzerte das flüssige Helium. Hätte ich nicht seufzen dürfen?
»Ich bringe erst meine Tochter hinaus und sehe zu, dass ich aus meinen Arbeitssachen herauskomme. Nehmen sie so lange bitte noch Platz.«
Damit wies sie auf die Couch und ich genoss fünf Minuten die Wärme des Kamins in meinem Rücken. Mein müdes Gehirn kam nicht darauf, was sie von mir wollte.
Dann stand Astrid Disser wieder in der Tür, hielt ein Paar Filzpantoffeln in der Hand und hatte von Dozentin auf resolute Mama umgeschaltet. »Kommen sie, Herr Mersik. Geben sie mir ihren Mantel und ich glaube, die Pantoffeln tun ihren Füßen besser als die Motorradstiefel.«
Ich zog gehorsam meine Stiefel aus und gab ihr meinen nassen Nikolausmantel.
»In meinen Arbeitstempel geht es hier entlang!“ Astrid Disser drehte sich um und stöckelte voraus.
Ich bügelte die Müdigkeit aus meinem Gesicht und trottete hinterher. Nur einen Kopf kleiner als ich wirkte Astrid Disser sehr schlank. Sie trug knöchelhohe, rote Stiefeletten und bewegte sich auf den Absätzen wie eine Katze auf zwei Beinen. Bei Germanys Next Topmodel hätten ihr die Küken vor Neid die Augen ausgekratzt. Das gedämpfte Licht der Flurlampen zauberte bei jedem Schritt schimmernde Reflexe auf ihren engen Seidenrock.
Der „Arbeitstempel“ entpuppte sich als Spagat zwischen Büro und Miniwohnzimmer. Der Computertisch aus Glas und Metall repräsentierte die Moderne darin. Das sanfte Rot des Taftvorhangs am Fenster und eine Ledergarnitur in der gleichen Farbe spendeten dem Raum Wärme und Gemütlichkeit. Den kleinen Acryltisch vor der Couch hatte Astrid Disser mit belegten Broten beladen. Der Stuhl vor dem Schreibtisch bannte für einen Moment meinen Blick. Aus massivem Holz und ohne Polster stammte er aus einer Zeit, in der die Geburt von Konrad Zuse noch in der Zukunft lag. Ich konnte ihn mir eher in einer Verhörzelle mit einem mit Handschellen an ihn gefesselten Gefangenen vorstellen als in diesem gemütlichen Zimmer. „Nettes Zimmer. Erwarten sie noch Gäste?
„Junger Mann, bei ihrem Tag heute müssen sie hungrig sein und mit leerem Magen kann man nicht denken! Nehmen sie Platz und langen sie zu. Ich habe selten abends Gäste und freue mich, wenn ich jemanden bewirten kann. Ich esse nicht so viel und werde ihnen dabei erzählen, was ich für ein Problem mit diesem Scheißcomputer habe.“
Ein Hustenanfall verschlug mir die Sprache. Eine fast fünfzigjährige Dame, die in ihren Vorlesungen und ihren Seminaren nie aus der Rolle fiel und dann „Scheißcomputer“? Welcher Film nahm hier seinen Anfang? Ich griff zu einem Sandwich und schaute sie dabei verstohlen an. Der Fluss der Zeit hatte Gräben in ihrem Gesicht hinterlassen. Trotzdem ließ sie sich nicht gehen. Dezentes Rot auf ihren vollen Lippen bildete einen angenehmen Kontrast zu dem sanften Braunton ihrer Haut. Entweder eine Jahreskarte oder ein komplett eingerichtetes Solarium in dieser Villa. Wahrscheinlich gehörte auch noch ein Studio für Maniküre und Pediküre dazu. Astrid Disser pflegte sich und das verlieh ihr trotz ihres Alters eine unaufdringliche, aber um so präsentere Attraktivität.
„Na, zufrieden mit der Musterung?“ Sie feixte mich an und schien einen Höllenspaß zu haben.
Ich ignorierte die Frage und sah zu, dass ich sicheren Boden gewann. „Erzählen sie mir von ihrem Computerproblem?“ Damit würde ich das Heft des Handelns in die Hand bekommen, schließlich war ihr Fachgebiet BWL – dachte ich. Ich hätte es besser wissen müssen.
Sie beugte sich vor und gönnte mir einen Blick auf den Ausschnitt in ihrer roten Seidenbluse. Der schwarze Hochleistungs-BH darunter hatte mächtig zu kämpfen, um das, was da heraus wollte, genau daran zu hindern. Noch gewann er.
„Ach wissen Sie, das ist ganz einfach. Ich habe mir Suse Linux als zweites Betriebssystem installier. Er bootet auch fein hoch, mounted die Windowspartition und ich kann mit OpenOffice an alles herankommen. Aber wenn ich die Forumsbeiträge, die ich mit Word 2007 geschrieben habe, öffne, sehe ich nur Steuerzeichen. Sieht aus, als fehlten da irgendwelche Codepages. Die Internetverbindung funktioniert auch nicht so richtig, könnte sein, dass in der Firewall ein paar Ports geöffnet werden müssen.“
Gut, dass ich gerade an nichts kaute – es wäre mir aus dem Mund gefallen. Ich schaute Astrid Disser an, wie sie da auf der Couch saß, die Beine in den eleganten Schuhen mit den hohen Absätzen klassisch übereinandergeschlagen und schräg gestellt. Kräftige Oberschenkel in Netzstrumpfhosen spannten den Stoff des Rockes.
„Sagen sie, junger Mann, sie haben sich noch nie länger mit meiner Tochter unterhalten, oder? Sie können übrigens ihren Mund jetzt wieder zu machen!“ Das Grinsen in ihrem Gesicht verjüngte sie um mindestens zehn Jahre. Was jetzt? Wollte sie mich etwa mit Andrea verkuppeln? „Entschuldigung. Was ist lange? Sie gibt mir die Aufträge und ich arbeite sie ab.“
„Weil ich vor einigen Jahren die Firma gegründet habe, für die sie nebenbei arbeiten. Jetzt führt sie meine Tochter. Wussten sie das nicht?“
Irgendwo in meinem Hinterkopf blökte ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird. Das Schaf hieß Andrea. Astrid Disser tat, als gäbe es an ihren rot glänzenden Fingernägeln etwas zu bemängeln. Dann traf mich ein Blick über die halb erhobenen Hände und ich dachte an eine Gottesanbeterin, kurz bevor sie ihr Abendbrot frisst. Ich musste unbedingt an den Computer. Mein Blick suchte die Maschine, als wäre sie meine Rettung vor – ja, wovor eigentlich?
„Ich sehe schon, sie wollen sich nicht mit mir unterhalten. Die jungen Leute von heute können nur noch schuften, keine Lebensqualität mehr. Was sagt denn ihre Freundin dazu?“
„Liebe Frau Disser…“
„Bitte nennen sie mich doch Astrid.“ Die Gottesanbeterin lächelte jetzt zuckersüß. „Wie ist denn überhaupt ihr Vorname? Und nehmen sie ruhig noch ein Glas Prosecco!“
Als ob sie den nicht wüsste. Dachte sie, wenn sie mich mit dem Vornamen ansprach, könnte sie mich leichter an ihre Tochter weiterreichen?„Jan – und ich muss jetzt noch ein bisschen arbeiten, Frau Disser.“ Oh, die Augenbrauen gingen wieder in die Höhe. „Entschuldigung – Astrid.“
„Ach was, das schaffst du schon, Jan. Das ist Prosecco und kein Whisky.“ Ohne meinen Widerspruch auch nur im Geringsten zur Kenntnis zu nehmen, beugte sie sich vor und füllte den Sektkelch. Der BH gewann immer noch.
Super, nach der Hammerwoche noch ein zweites Glas von diesem Zeug. Ich würde ihren Rechner für eine AS-400 halten und diese energische Sirene für die Zwillingsschwester von Marilyn Monroe. Egal, ich nahm das Glas in die Hand und schaffte den Sprung zu Astrids Rechner. Mit einem halben Ohr hörte ich, wie sie in meinem Rücken den Tisch abräumte. Irgendetwas stellte sie auch mit der Couch an. Dann fand ich die Verzeichnisse mit den Dateien.
„Mieder und Korsett“, „Echte Nylons“, „Burlesque - die Kunst der erotischen Verpackung“, »Lack und Leder« und so weiter. Strickmuster für ältere Damen tragen andere Namen. Eigentlich konnte ich sie mir auch nicht so recht vorstellen mit zwei Stricknadeln in den gepflegten Händen, eher mit etwas anderem, das auch lang war. Wenn sie doch nur ein bisschen jünger gewesen wäre!
Was hatte ich da gerade gedacht? Jan kusch! Ich sollte hier einen Computer reparieren und nicht spätpubertäre Phantasien mit einer Oma ausleben. Aber diese Dateinamen machten mich ziemlich nervös. Wenn die Mama sich so etwas reinzog, wie war dann erst die Tochter?
Ich schaufelte noch die Dateien in ein temporäres Verzeichnis, da roch ich Moschusduft und heißer Atem streifte meinen Hals. Astrid schaute über meine Schulter. „Du wirst doch nicht etwa rot, Jan, oder?“
Ich, rot? Hey, ich kenne zwei Stellungen und meine Pornosammlung umfasst 3 Hefte. Mir wurde nur so warm, weil ich mit den Dateien zu tun hatte, oder der blöde Prosecco zeigte Wirkung oder – ach, war auch egal. Ich hielt die Klappe und rückte näher an den Computer heran, weg von dem heißen Atem hinter mir. Es half nichts.
„Dachte ich es mir doch. Ich habe hier nicht etwa eine männliche Fastjungfrau auf meinem Stuhl sitzen, oder?“
Auf jeden Fall nicht mehr lange, denn wenn Astrid sich noch näher an mich drückte, würde sie mich gleich vom Stuhl schubsen. Berührungsängste schien sie nicht zu kennen. Meine Hirnanhangdrüse meldete prompt eine Fehlfunktion und flutete mich mit Testosteron. War es die rauchige Stimme oder das schwere Parfüm? Unangenehm war mir ihre Nähe nicht.
Feuchte Lippen kitzelten sanft mein Ohr. „Welche von diesen Dateien würdest du zuerst öffnen?“
„Lack und Leder.“ Hallo? Was hatte ich gerade von mir gegeben? War ich denn von allen guten Geistern verlassen? Ich sollte hier meinen Job machen und mich nicht von einer Frau becircen lassen, die meine Mutter sein könnte. Oder etwa doch? Das schien sich hier zu einem kleinen Problem auszuwachsen. Wie weit ging mein Job heute? Hing etwa das Seminarergebnis daran, woran ich gerade dachte, dass es hing?
Ein Flüstern der Verführung. »Tu es!«
Wie in Hypnose drückte ich auf die linke Maustaste, und auf dem Monitor erschienen - Steuerzeichen. ASCII-Codes, für jeden Laien nur kryptisches Zeug ohne jeden Wert.
Ein leises Lachen hinter mir. »Hast du gedacht, es wäre so einfach? Ich sagte doch, dass da etwas nicht stimmt. Es sind Forumsbeiträge von mir und in ihnen steht, wie eine Frau Männer scharfmacht. Ein paar Bilder mit mir in Lack sind auch dabei. Streng dich an, und wenn du sie entschlüsselst, lasse ich sie dich vielleicht anschauen.«
Nach diesen Worten verschwand sie in Richtung Flur. Mir sehr recht. Ich nutzte die Zeit, mich wieder in den Griff zu kriegen und die Spuren des Panzers, der mich überrollt hatte, zu beseitigen.
„Jan?“, hörte ich sie rufen.
„Ja, bitte?“
„Ich mache mich ein wenig frisch. Lass dich nicht stören. Ich bin in zehn Minuten wieder bei dir!“
„Ist in Ordnung. Lassen sie sich ruhig Zeit. Ich komme auch ganz gut allein klar!“ Am besten zwei Stunden, aber das dachte ich nur.
„Ich weiß. Auch Männer haben da so ihre Möglichkeiten. Du kannst aber auch gerne warten, bis ich wieder da bin. Vielleicht kann ich dir ja dabei helfen!“ Ihrer Antwort ließ sie ein glöckchenhelles Lachen folgen, das eine mannstolle Waldfee nicht besser gebracht hätte. Die Drüse in meinem Hirnstamm meldete wieder Handlungsbedarf an. Ich sendete ihr das Bild eines skalpellbewaffneten Chirurgen und sie verdrückte sich schmollend auf standby.
Ich brauchte keine zehn Minuten, die Codepages umzustellen und wusste, dass jetzt alles in Ordnung war, auch, ohne das ich sie noch einmal ansah. Aber natürlich musste ich zumindest einen Testlauf machen und so öffnete ich die mit dem jüngsten Zeitstempel. Fehler.
»... Männer sind Augentiere. Bei vielen genügt es, ihnen Symbole vor die Augen zu halten. Wenn ein geschlitztes Kleid zufällig ein wenig aufklafft und für ihn der Rand eines Strumpfes sichtbar wird, kann das schon reichen, um jedes logische Denkvermögen auszuschalten und seine Hormone in Aufruhr zu versetzen. Vielleicht noch im Sitzen ein wenig ungeschickt die Beine spreizen und er fängt an zu sabbern wie ein Hund. Zwei Klicke später ist er an den Stuhl gefesselt und die erfahrene Frau kann sich an ihm bedienen. Willenlos wie ein Spielzeug wird er alles mit sich geschehen lassen.«
Ein Mausklick und die Datei schloss sich wieder. Es war besser so und doch tat es mir fast weh. Manche Dinge gehören verboten und einen Mann im Zimmer einer fremden Frau nach einem harten Arbeitstag so etwas lesen zu lassen, sollte auf Platz eins der Liste stehen. Ich holte tief Luft. Meine Arbeit war beendet und ich überlegte, ob ich einfach so verschwinden sollte. Mittlerweile schüttete es aber wie aus Eimern draußen und ein erstes Donnergrollen rollte über den See.
Die Internetverbindung musste ich noch testen. Was hatte sie denn als Letztes angesurft? »Joyclub - erotische Geschichten und Gedichte über BDSM« Na toll. Also doch die peitschenschwingende Dozentin, wenn die Studenten nicht parieren. Vielleicht sollte ich mich besser vom Acker machen, aber meine Knie bestanden nur noch aus Gelee.
Ich hörte, wie Astrid Disser im Flur ihre Stiefeletten auszog und sie zu Boden fallen ließ. Ein schleifendes Geräusch ertönte und ein langer Reißverschluss wurde langsam zugezogen. Dann der gleiche Ablauf noch einmal. Ein Klatschen, als würde Leder irgendwo gegengeschlagen, gefolgt von einem deutlichen Einatmen. Was trieb sie da auf dem Flur? »Klack ... klack«, Schritte, Metall auf Steinfliesen. Stiefelabsätze? Dann Stille.
Ich drehte mich mit schweißfeuchten Händen zum Eingang und im gleichen Moment krachte ein Blitz in eine Stromleitung, eine Sicherung brannte durch und Schwärze füllte den Raum. Dann ihre Stimme, rauchig, als hätte sie Durst: »Schade, jetzt kannst du meine heißen Bilder gar nicht mehr sehen. Aber vielleicht ist dir das Original ja lieber?«
Wieder das »Klack ... klack«, sich entfernend, mir Zeit gebend für einen Schweißausbruch. Was sollte ich tun? Aufstehen und weglaufen?
Ein Klicken im Flur und dann wieder ihre Stimme. »Neben dir steht eine kleine Lampe mit einem Fußschalter. Mach sie an!« Ich bückte mich, fand den Schalter und hob langsam den Kopf.
„Betty Page lebt“ fiel mir sofort ein. Ich lebe in einer Zeit, in denen viele Frauen es als Ausdruck höchster Weiblichkeit verstehen, sich wie Männer zu kleiden. Die Präsentation oder Betonung jedes Geschlechtsmerkmals wird als nuttenhaft mit einem Bann belegt. Der Anblick einer Frau, die nichts weiter als eine Frau sein will, wirkt dann wie ein in die Adern gespritztes Suchtmittel. Ich bekam eine Überdosis.
Die Lackstiefel kannte ich aus dem Flur. Die Strapse eines Lackkorsetts spannten sie so straff, dass sie die langen Beine faltenlos umspannten. Dazu schwarze Lederhandschuhe, die so eng waren, dass sie wie eine zweite Haut die Hände und Arme umschlossen. Meine Augen schafften den Aufstieg - und trafen auf zwei nachtdunkle Seen. Wo beim Abendbrot noch spöttische Überlegenheit war, loderte in diesen Augen jetzt die Glut eines ausbrechenden Vulkans. Das gleiche halbe Lächeln mit kirschroten Lippen, unnahbar und doch kokett, wie es Betty Page so gerne auf ihren Postern zeigt, verbrannte zwanzig Lebensjahre zu einem Nichts.
Sie glitt auf mich zu mit dem Gang einer Katze. Ein Fuß vor dem anderen, näherte sie sich wie die Schwarze Witwe ihrer Beute. Erregt starrte ich in ihre Glutaugen. Astrid erreichte mich und setzte sich mit gespreizten Schenkeln auf meinen Schoß. Eine feuchte Zunge kitzelte mein Ohr und ihre Stimme summte dazu. „Du magst also Lack. Magst du vielleicht noch mehr?“
Ich öffnete den Mund zu einer Antwort, aber wie schon den ganzen Abend, überrollte sie mich einfach. Volle Lippen pressten sich auf meine, ihre gierige Zunge suchte nach einer Spielgefährtin und fand sie. Noch immer bannten mich ihre Augen und die lodernde Hitze steckte mich in Brand. So leidenschaftlich und gleichzeitig zärtlich wurde ich noch nie geküsst. Ihr Mund brach die Steifigkeit und Abwehr meines Körpers. Nein, nicht ganz, die Steifigkeit hatte sich nur abwärts verlagert und Astrid spürte es genau. Sie rutschte auf mir hin und her, presste sich noch fester an mich und fuhr fort, mich zu küssen. Dann hörte ich wieder ihre Stimme und es war nicht was, sondern wie sie es sagte, was mich ins Schwitzen brachte.
„Jetzt stell Dir vor, was meine Finger in den schwarzen Lederhandschuhen da alles tun können, wo es so hart bei dir ist …“
Das kleine grüne Männchen lachte sich einen Ast auf der Tribüne und schickte mir das Bild eines unter Überdruck stehenden Feuerwehrschlauches. Wieder erstickte Astrid meine Antwort mit ihrem Mund. Ihre Hand glitt suchend an meinem Körper nach unten und wurde fündig. Die von dem Korsett nach oben gedrückten Brüste nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, blickte sie auf mich herab. Etwas stieg aus meinem Innersten empor und ich hätte am liebsten meinen Kopf darin vergraben. Ihr wissendes Lächeln kam gleichzeitig mit ihrer Hand, die meine fasste. Wortlos zog sie mich zur Couch.
Was dann kam, war jenseits dessen, was ich mir hatte jemals vorstellen können. Der Strip, den sie von mir verlangte, während sie selbst, die schwarzen Beine aufreizend übereinander, sich auf dem Bett räkelte. Ihre Hände, die erogene Zonen bei mir und auch bei ihr selbst fanden, von deren Existenz ich nicht einmal eine Ahnung hatte. Ihr Mund, der nicht nur meinen Namen flüstern, sondern ihn auch schreien und noch ganz andere Dinge tun konnte. Schließlich die eine Sekunde oder die halbe Stunde, in der die Welt versank und Zeit aufhörte, eine Bedeutung für einen Mann und eine Frau zu haben.
*
Die kleine Lampe neben der Couch spendete nur wenig Licht. Es reichte gerade so, Einzelheiten mehr zu erahnen als zu erkennen. Ich drehte mich zu Astrid. Sie lag auf dem Rücken, die Decke bis unter das Kinn gezogen und ich sah, dass sie noch immer ihre Lederhandschuhe trug. Die gleichen Handschuhe, mit denen sie mich zuvor fast bis zur Explosion trieb. Dann hatte sie aufgehört, sich selbst gestreichelt damit, dann wieder mich angefasst - bis ich es nicht mehr aushielt und sie auf den Rücken drehte.
In ihren dunklen Augen, die mich vor kurzem noch so lockend angeschaut hatten, stand Angst. Lange schaute ich in dieses Gesicht, das schon so viel erlebt hatte. Ich sah die Falten in der hohen Stirn und das Grau in ihren Haaren, dort, wo die Farbe nicht hingekommen war. Ihre Wangen waren nicht mehr so straff wie die einer jungen Frau und die Tränensäcke unter den Augen waren zu groß. Trotzdem war etwas an diesem Gesicht, das man liebgewinnen konnte. Soviel erlebt, soviel genossen und noch immer so verletzlich.
Verletzbar ist nur, wer noch Träume und Hoffnungen hat. Welche hatte sie? Langsam hob ich meine Hände, strich ihr sanft über die Wangen und griff nach der Decke. Die Angst in ihren Augen wurde zu Zorn. „Willst du dir die Nutte noch einmal ansehen, die es dir gerade besorgt hat oder findest du deine Sachen im Dunkeln nicht?“
„Du gehst aber ganz schön hart mit dir um.“ Der Zorn schien sich in Traurigkeit zu wandeln. „Wieso mit mir? Ich hab‘ meinen Spaß gehabt.“ Sie drehte sich zur Seite, so dass sie mir den Rücken zuwendete, und zog sich die Decke über den Kopf.
Die kleine große Astrid hatte ein Problem. Ihr Körper mochte wohl fünfzig sein, aber ihr Kopf mochte junge Studenten. Er hatte sie in diese Situation gebracht, in der sie sich nur noch schämen zu müssen glaubte. Warum eigentlich? Und was war mit mir? Hätte ich auch mit ihr geschlafen, wenn sie sich nicht so sexy angezogen hätte? Hatte ich mit ihr Sex oder mit dem Pin-up Girl meiner erotischen Fantasien? Vielleicht waren das ja die Fragen, die sie sich auch stellte und sich gleichzeitig vor der Antwort fürchtete.
Wir konnten uns jetzt anschweigen und irgendwann würde ich mich anziehen, leise das Haus verlassen und nie wieder zurückkehren. Ihren Scheißcomputer würde ein anderer reparieren. Ich wusste, dass mir das nicht gefallen würde, erst recht nicht, wenn er es so gründlich tat wie ich.
Ich lag noch immer mit aufgestütztem Ellenbogen auf der Seite, schaute ihre nackte Schulter an und wusste, dass ich mich nicht so einfach anziehen und gehen konnte. Ich konnte sie auch schlecht fragen, wer das Drehbuch für diesen blöden Film geschrieben hatte und, was noch viel wichtiger war, ob es ein Happyend gab. Egal wie es ausging, in meinen beiden Pornos zu Hause waren die Männer immer die Aktiven und keiner schlich sich einfach so raus. Vielleicht hatten sie diese Szenen ja rausgeschnitten.
Die Decke, unter der Marlene lag, begann zu zucken. Weinte sie etwa? Ich riss ihr die Decke weg, drehte sie auf den Rücken, setzte mich mit Gewalt auf sie, schaute ihr ins Gesicht – und wurde wütend. Statt Wasser stand ein Strahlen in ihren Augen und der Mund mit den vollen Lippen war zu einem herzhaften Lachen verzogen. Die blöde Kuh hatte mich verarscht!
Das gab es doch gar nicht. Ich hatte Gewissensbisse, weil ich eine unbefriedigte Oma alleine lassen wollte und die lachte sich einen Ast. Das war zu viel. Ich rollte von ihr herunter, drehte sie auf den Bauch und verpasste ihr einen richtigen Klaps auf den Hintern. Erschrocken vor mir selbst, hörte ich sofort auf und erntete dafür wieder ihre lockende Stimme. „Wie? War das alles? Vielleicht mag ich das ja?“ Noch immer lachend, jetzt auch laut, hob sie mir den Po sogar noch entgegen.
Ich war wütend – und noch etwas anderes. Dieses „andere“ regte sich gerade wieder zwischen meinen Beinen. Das war völlig unmöglich. Aber es passierte – und wie. Sie kniete immer noch vor mir und mich sprang etwas an, was ich all die Jahre unter Verschluss gehalten hatte. Keine Kontrolle mehr, keine Spiele, keine Zivilisation. Meine höheren Denkfunktionen verzogen sich in ein anderes Universum. In diesem gab es nur noch Astrids göttlichen Arsch und das, was ich mit ihm tun würde.
Ich ließ ihr keine Chance und sie wollte auch keine. Zeit wurde zu einem bedeutungslosen Begriff und wer behauptet, der Orgasmus sei ein kleiner Tod, der hat noch nie einen gehabt. Es war der Urschrei des Lebens und er ließ uns beide erzittern.
Jahrhunderte später lag ich völlig erschöpft neben ihr und war nur noch offene Verletzbarkeit. Sie war die Samariterin und ihre Hände heilten alle Wunden in mir.
Irgendwann frühstückten wir, wortlos. Astrids Augen waren die eines jungen Mädchens, das wusste ich jetzt. Als ich ging, stand in ihnen eine Frage.
*
Wie bei jedem Klingeln des Telefons seit drei Tagen, zuckte Astrid Disser auch diesmal zusammen. Sie überlegte, ob sie den Hörer abnehmen sollte, nur um in ihrer Hoffnung wieder einmal getäuscht zu werden. Doch sie war eine mehr als erwachsene Frau, hatte gelernt, mit Enttäuschungen zu leben und so meldete sie sich. „Disser?“
„Frau Disser, hier ist die freiwillige Feuerwehr. Ich habe gehört, bei ihnen ist eine Festplatte und noch einiges anderes zu löschen. Bitte halten sie das Feuer noch etwas in Gang, ich bin in etwa einer Stunde da.“ Der Anrufer hatte aufgelegt, ohne die Antwort abzuwarten. Er hätte auch keine bekommen, denn Astrid Disser hatte den Hörer einfach fallen lassen, ein glückliches, versonnenes Lächeln im jetzt jungen Gesicht …