Lektionen in Demut
Es war der Abend des 31. Oktober. Halloween. Oder Samhain, wie die Iren sagen. Dunkelheit lag über der Stadt, gleich einer samtenen Schwärze, die man meinte, greifen zu können.
Ein Taxi hielt vor einer Art Burg oder einem Herrenhaus, das an die trutzigen Bauten in Edinborough erinnerte. Große Basaltsteine und insgesamt ein eher dunkles Gemäuer, besonders im Licht der schimmernden Sterne am wolkenlosen Firmament. Es wurde frostig, die Kälte des Weltraumes fraß sich durch die Atmosphäre und nistete sich in der Erde ein.
Durch die beschlagenen Scheiben im Erdgeschoß schien mehr schlecht als recht gedämpftes Licht. Stimmengewirr und leise Musik drangen nach draußen. Beethovens Coreolan- Ouvertüre. Schatten tauchten tanzend auf und verschwanden wieder, wie ein surreales Puppentheater und zeichneten skurrile Muster auf den Gehweg.
Ein seltsam gekleideter Fremder, der aus dem Schatten des Gemäuers zu fließen schien, kam näher. Er öffnete die hintere Tür des Taxis, streckte mit einer knapp bemessenen Geste seinen Arm aus und half der Insassin heraus. Ein harter Blick. Unnachgiebig, gnadenlos und doch so unglaublich neugierig fixierte er die Frau, die nun vor ihm stand. Beinahe sezierend wirkten seine Blicke und er wartete auf ein Zeichen. Nur leicht neigte die Frau ihr Haupt und bekundete so ihr Einverständnis. Der Mann, der beinahe skurril aussah in seiner antiquiert scheinenden Garderobe, die so gar nicht zu Halloween zu passen schien, legte ihr eine schwarze, schmale Maske an, die gerade eben die Augen der Frau bedeckte und raunte ihr ins Ohr: "Diese Nacht ist nur für uns."
Er öffnete das schwere, eisenbeschlagene Portal aus sehr alter Eiche und sie trat zunächst zögerlich, aber dann mit einem entschlossenen Schritt ein.
„Ich bin bereit, Meister.“
Der strenge, ja beinahe brutal- schlichte Gesichtsausdruck des hageren Mannes in einem dunklen Anzug, der dem vorigen Jahrhundert entlehnt schien, zeigte keine Regung.
„Von Bereit sein, was weißt du davon?“
Überraschung, gepaart mit aufkeimendem Widerwillen, zeigte sich auf dem Gesicht der Frau. Ihre Augen schienen alt. Sehr alt. Der Mann wusste, dass sie viele Geheimnisse bargen, diese blauen Augen. Sehr viele Geheimnisse. Und es wäre vielleicht besser, ein paar dort zu lassen, wo sie tot und beerdigt waren.
Doch was stand im Necronomicon, dem Buch des wahnsinnigen, arabischen Mysterikers Abdul Al'hazred?
“Nichts bleibt tot, was ewig liegt
und in falscher Zeit
wird selbst der Tod besiegt“
„Also? Was weißt du von Bereitschaft?“ Seine fast gleichgültige Stimme bekam eine Nuance Schärfe.
„Ich bin bereit, Meister. Ich bin bereit zu dienen, zu helfen, zu leiden und ja, auch zu sterben.“ Sie atmete tief, sehr tief durch.
Der Hagere warf ihr einen metallenen Gegenstand vor die Füße. Ein fragender Blick.
„Das ist ein Rezeptor, er wurde ganz speziell für dich gemacht. Du wirst dich entkleiden und dir das Gerät in den einzigen Ort führen, in den er passt und sauber bleibt. Noch etwas: Du hast Anweisung, das Gerät weder zu berühren, noch fallen zu lassen. Aber du darfst die Übung jederzeit beenden, indem du das Gerät entfernst. Das allerdings wird unwiderruflich sein, denn damit gestehst du dein Scheitern und dein Versagen ein. Damit wärest du für die bevorstehende Aufgabe ungeeignet.“
„Ja, Meister“
„Und lass das „Meister“ weg. Ich bin Meister des Mordes, Meister im Schwertkampf, Meister im Kampfsport. Siehst du Schwerter oder Gegner?“
“Nein Mei.... nein, sehe ich nicht.“
„Gut. Beginne.“ Der Hagere deutete auf den Gegenstand, der, hätte er an einem Ende eine zumindest halbwegs sich verjüngende Spitze, ein metallener Dildo hätte sein können. Am anderen Ende ragte eine kurze Antenne aus dem Gerät.
Die Frau mit den alten Augen neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als höre sie eine flüsternde Stimme, die ihr riet.
Dann löste sie ihr dunkles, leicht rötlich schimmerndes Haar und sah sich um. Die indirekte Beleuchtung sagte wenig aus, der kahle Raum ebenso. Hier befand sich nichts außer Schwerkraft, Licht und 2 Personen.
Ohne weiteres Zögern legte die Frau ihre Kleidung ab, beobachtet aus kalten, dunklen Augen. Keinerlei Regung war dort zu sehen. Und der Körper dieser Probandin war durchaus sehenswert. Nur hatte der hagere Mann in seinem Leben schon so viele nackte Leiber betrachtet, dass ihn eine schöne Gestalt nicht weiter aus der Fassung brachte.
Ohne Regung registrierte der Mann, dass sie für ihre 42 Jahre straffe Brüste hatte, einen fast flachen Bauch und volles Haar. Attribute, die sehr viel jüngere Frauen nicht ihr Eigen nennen durften.
Und auch als die Frau sich den Rezeptor einführte, verriet Nichts, wessen Regung der Mann Herr zu werden versuchte. Langsam schritt er um die entkleidete Frau herum. Sein Blick glitt wie der Blick einer Schlange über ihren Körper. Versuchte, Makel zu erhaschen. Und sicherlich, er fand welche. Kleine Narben hier, Hautunreinheiten dort. Nichts, was interessant genug wäre, ein Wort zu verlieren. Denn die Narben der Seele waren es, die den Mann mit dem Zylinder, dem antiquierten Stehkragen und den samtenen Galoschen interessierte. Sein silberner Gehstock klackte in regelmäßigen Abständen auf den steinernen Boden und schien im Kopfe der Frau ein hallendes Echo zu erzeugen. Tapp...Klack...Tapp...Klack...Tapp...Klack.... Der Griff des Stockes schien dem eines Raubvogels nachgebildet, aber die Frau konnte nicht erkennen, ob es Falke, Adler oder Milan darstellen sollte.
„Wer bist du?“ Durchschnitt seine Frage den Raum.
„Ich bin Patrizia.“, kam die Antwort nach einer Sekunde des Zögerns.
„Falsch. Wie du heißt, weiß ich bereits. Wer bist du?“
Tapp... Klack...Tapp... Klack... Tapp... Klack...
„Patrizia!“ Ihre Antwort kam ohne zu zögern, ohne nachzudenken. Und dennoch drückte der hagere Mann auf den Kopf des Raubvogels, in den ein Knopf eingelassen war. Dieser Knopf setzte den Rezeptor in Gang, der unmittelbar elektrischen Strom in ihren Unterleib leitete.
Die Frau krümmte sich zusammen vor Schmerz. Es war nicht der Schmerz an sich, sondern eher die Überraschung, mit der der Hagere den Sinn des Instrumentes enthüllte.
„Wenn du falsche oder unzureichende Antworten wiederholst, steigert sich die Bestrafung.“ Gnadenlos und kalt erschienen seine Worte.
„Wer bist du?“
„Ich ... ich bin die Leiterin des Kindergartens.“ Ein Lichtblick glomm in ihren Augen auf. Sollte der Sinn der Fragerei ihre Profession sein?
„Unzureichende Antwort!“
Eine Unmutsfalte zeigte sich auf seiner Stirn. „Das ist nur deine Berufsbezeichnung! Du versteckst dich hinter Titeln, um deine Natur zu verbergen! WER BIST DU?“
Seine Brauen zogen sich über den kalten Augen zusammen und die Frau hätte Stein und Bein geschworen, dass sie sekündlich die Farbe wechselten.
„Ich, ich bin die Tochter...“
“Auch das ist eine unzureichende Antwort!“, stob der Mann hervor und drückte den Knopf ein.
Patrizia krümmte sich wieder zusammen. Teils vor Überraschung, teils weil es dieses Mal tatsächlich mehr als ein wütendes Kribbeln war, das durch ihre Eingeweide fuhr.
Sie stöhnte leicht auf und ballte die Hände zu Fäusten.
„Du bist eine traurige Kreatur. Du bist ja nicht einmal in der Lage, eine einfache Frage zu beantworten ohne auf deine Titel zurück zu greifen, auf Genealogie und darauf, wie andere dich nennen! Hast du gar nichts Eigenes vorzuweisen? Irgend etwas, das nicht von anderen geschaffen, definiert, genormt, gestempelt, sanktioniert, numeriert oder genehmigt worden ist?“
Tapp... Klack... Tapp... Klack....
Seine Stimme hatte sich zu einer wütenden und gleichsam enttäuschten Botschaft gesteigert. Und dennoch war sein Schrittmaß immer gleich.
„Wie kann ich von dir erwarten, dass du dienst, wenn du nicht die allergeringste Vorstellung davon hast, wer zum Teufel du selbst eigentlich bist?“
Ihr Gesicht schien reine Verzweiflung. In der Tat schien sie nicht zu wissen, was hier geschah, sie wusste nicht, was der Hagere wollte, sie wusste nicht, was er hören wollte..... die Frau öffnete den Mund zu einem stummen Schrei.
„Hast du eine Ahnung, wie viele so wie du jetzt vor mir gestanden haben? Selbstbewusst, voller Stolz, erfüllt von großer Selbstüberschätzung?“
Tapp... Klack...Tapp...Klack... die Schritte kamen näher. Er stand ihr nun direkt gegenüber. Und jetzt sah sie es. Seine Augen hatten gar keine Farbe. Wie ein Rubin ohne Rot, wie ein Diamant ohne Feuer, wie ein Smaragd ohne Grün...... seine Haut wächsern und fast transparent, schienen Äonen der Zeit und der Weisheit, des Wissens um die Dinge, durch sie hindurchzuschimmern und direkt in ihre Seele zu scheinen.
„Alle dachten“, fuhr er fort, „sie seien etwas Besonderes. Ausersehen, auserwählt, begünstigt vom Schicksal. Und nicht eine von denen hat die Anforderungen erfüllt! Und das war für Alle auch besser so. Auf diese Weise wurde verhindert, dass illusionäre Egozentrik falsche Hoffnung erweckt. Und du nun besitzt die grenzenlose Unverfrorenheit, du würdest die Eine sein? Das Geschenk zu sein, eine Dienerin des Schicksals, eine Botschafterin des Schmerzes? Ich hege die allergrößten Zweifel daran, dass es so ist!“
Tapp... Klack... Tapp... Klack... sein Gesicht, das beim sprechen noch scheinbar zu erregen sich imstande sah, war nun wieder zu einer steinernen Maske geworden. Der Hagere starrte sie unverwandt an. Mit diesem gnadenlosen, eiskalten und doch vom Feuer seiner Inbrunst durchsetzten Blick, der aus unerklärlichen Tiefen zu kommen schien.
„Und wenn wir Zwei miteinander fertig sind, wirst auch du zweifeln!“
Er wandte sich ab.... Tapp... Klack... Tapp... er nahm seine Wanderung um den nackten, schutzlosen Leib mit den zusammengesunkenen Schultern wieder auf.
„Du bist bereit zu sterben? Nun... es ist sogar möglich, dass du diesen Ort nicht mehr lebendig verlässt.“
Atemloses Schweigen. Zerrissenheit in ihrem Gesicht. Doch dann.. eine steile Falte auf der Stirn. Widerstand. Ein Gedanke.
„Was für einen Sinn hätte es wohl, wenn ich stürbe? Hier und durch deine Hand?“
„Nicht doch. Ich werde dich nicht töten. Du kannst den Rezeptor jederzeit entfernen. Damit allerdings würdest du deinen Irrtum zugeben! Eingestehen, dass du für die bevorstehende Aufgabe nicht stark genug bist! Jedoch glaube ich zutiefst daran, dass dein Stolz dich an diesem Eingeständnis hindern wird. Denn du bist überzeugt davon, zu den Auserwählten zu zählen. Daher musst du daran glauben, dass das Universum dich nicht sterben lassen wird. Es könnte aber uch sein, dass du dich irrst....“
Tapp... Klack... Tapp... Klack...
„... daher werden wir beide gemeinsam hier und jetzt herausfinden, was die endgültige Wahrheit ist. Und sicher.... wirst du sehr erstaunt sein.“
Tapp... Klack... Tapp... Klack....
„Es gefällt dir hier nicht mehr, was? Du wärest lieber im Bett um zu schlafen? Und schöne Träume von Sex und Schmerz zu haben? Dich im JoyClub wichtig zu machen?“
„Ich bin da, wo ich sein muss.“
„Sicher, wieso auch nicht. Du bist Patrizia die Auserwählte! Du tust all das hier nur, weil es dir gefällt, weil eine „Neigung“ dich dazu auserkoren hat, weil es deine Berufung ist, einem Herrn zu dienen! Auf ein Wort von dir kommen all die himmlischen Heerscharen von dominanten Männern um dir, der Auserwählten zu huldigen? Es kann und darf gar nicht anders sein, weil es DEIN Schicksal ist, nicht wahr?“
Tapp... Klack... Tapp... Klack...
„Wir alle haben ein Schicksal“, raunte sie voller Trotz und Enttäuschung.
„Ach, wirklich? Wie großmütig du bist...“, ließ er ihre Worte im Raume hängen.
„Manchmal erkennen wir weder Schicksal noch Neigung, weil alle um einen herum sagen, man sei Bedeutungslos.“
“Ach ja? Wird dir das von Leuten wie mir gesagt?“
Zum erstan Mal sah er sie von der Seite an, sein Schritt stockte. Er schien den Bruchteil einer Sekunde nachzudenken.
„Ja, vielleicht. Aber sind wir Zerstörer der Träume oder Hüter der Gemeinschaft? Rede, Patrizia! Sprich zum Universum, denn wenn es dich hört, wird es ganz sicher antworten.“
Er drückte auf den Knopf und Patrizia fuhr aufstöhnend zusammen.
„Ruf!“
Patrizia stöhnte lauter und lauter, denn der Hagere ließ den Knopf nicht los.
Das Stöhnen und Jammern wurde lauter und lauter, kippte in einen langgezogenen Schrei.
„Jaa, ich kann den Ruf hören!“
Er ließ den Knopf los. Die einsetzende Stille schien unnatürlich.
„Und nun Geduld“, raunte der Mann, „wird das Universum antworten?“
Sein Lauf hatte ein jähes Ende gefunden. Direkt vor ihr baute er sich auf, streckte die Arme seitwärts aus und atmete tief ein und wieder aus. Genussvoll, wie es schien.
„Es ist still.... eine Stille, die so vollkommen ist wie damals, als der Wal Jonas verschluckt hat.“
Mit zwei schnellen Schritten trat er neben die Frau, die reglos erstarrt mitten im Raum ihrer schonungslosen Nacktheit huldigte.
„Weisst du, warum du hier bist?“
„Hier?“
„Ja, richtig, hier“
„Ich wurde geschickt.“
„Geschickt?“
“Ja, von Frank.“
„Du gibst falsche Antworten auf meine Fragen. Warum bist du hier in diesem Augenblick, an diesem Ort, in diesem Leben?“
„Es ist mir vorherbestimmt, hier zu sein und hier zu bleiben.“
„Vorherbestimmt?“
“Ja.“
“Von wem?“
„Ich weiß es nicht.“
„Warum bist du hier?“
„Ich weiß es nicht!“, voller Verzweiflung schrie sie die Worte hinaus.
„Du weisst es nicht?“
“Nein, es ist auch nicht wichtig!“
„Was zum Teufel soll das heißen?“
„Würde ich glauben, dass es einen Grund geben würde, warum ich hier bin, dann ..."
“Und wenn die ganze Welt nun das Gegenteil behauptet?“
„Dann ist es die Welt, die sich irrt!“
„Und Patrizia hat ganz alleine Recht? Aber vielleicht hat die Welt Recht und Patrizia hat Unrecht? Hast du darüber nachgedacht? Hast du darüber nachgedacht? Antworte, Patrizia!“
Sein beherrschtes Gesicht war zu einer Fratze der Wut verzerrt. Seine Mundwinkel brutal, die Augen erbarmungslos, die Haut bebend in ihrer Transparenz.
„Ja“, gestand sie und ihr stolzer Kopf sank auf die zitternde, nackte Brust „schon viel zu oft. Viel zu oft...“
Hätte sie nur den Kopf oben behalten... die brutalen Züge des Mannes wurden weich. Die Mundwinkel erhoben sich, ein seliger und zugleich sanfter Ausdruck der absoluten Zufriedenheit zeigete sich auf dem einstmals herrischen, kalten Schlangengesicht.
„Nun“, sagte er sanft und voller Liebe, „dann besteht Hoffnung für dich.“
Er wandte sich ab... Tapp... Klack... Tapp..
„Als Belohnung schenke ich dir..... 10 Minuten Pause.“
„Weisst du, was dein Problem ist, Patrizia? Du bist Teil einer Maschine und denkst, du wärest die ganze Maschine. Du bist ein Cello, das glaubt, es wäre das Symphonieorchester. Du hast bisher versagt. Gib es zu und du wirst dich besser fühlen. Deine einzige Bestimmung ist es, ein Nagel zu sein, der in die Konstruktion eingeschlagen wird. Bang... Bang...Bang!“
Sie hatte genug. Diese Demütigung, dieses Bollwerk an Wahrheit, diese Inquisition war ein für allemal genug.
Die Frau wandte sich zum gehen. Beherrscht und ruhig versuchte sie, mit zitternden Gliedern ihren Weg nach Hause anzutreten.
„Du bist eine Närrin!", setzte er nach und Tapp... Klack... folgte er ihr.
„Dann bin ich eben eine Närrin! Besser eine Närrin als das zu sein, was du bist!“
„Und was ... bin ich denn, .... bitte?“
Er stand einen halben Meter hinter ihr. Sein Blick war auf ihren prachtvollen Hintern gerichtet.
„Sag es mir. Sag mir, was ich bin?“
„Du bist jemand, der Schmerz erlitten hat. Und Vergnügen empfindet, anderen Schmerz zuzufügen. Du wolltest deine Träume Wirklichkeit werden lassen und wurdest enttäuscht. Denn du hattest nicht genug Kraft dazu. Und ebensowenig genug Würde und zuviel Skrupel. Deshalb bist du gegen jeden, der glaubt, dass seine Berufung die Richtige ist. Weil du dadurch an dein eigenes Scheitern erninnert wirst. Du willst immer nur beweisen, dass andere ebenso unzulänglich sind, wie du! Voller Fehler, genau wie du!“
Kurz senkte sie den Kopf. Schien sich darüber im Klaren zu sein, dass es kein zurück mehr gab.
„Entspricht meine Vermutung der Wahrheit?“ Bewusst ließ sie eine Titulierung weg.
„WER?“, explodierte er und drückte den Knopf ein.
Patrizia krümmte sich zusammen, schien sich in Agonie zu winden.
„Wer bist du?“
“Patrizia!“, schrie sie ihn an. Trotzig und unbeherrscht. Aus tiefster Seele heraus.
„Und hast du eine Bestimmung, Patrizia?“
„Jaa“, schrie sie, die Hände zu Fäusten geballt, dem Schmerz trotzig Widerstand entgegen bringend.
„Nein! Frauen sind doch immer oberschlau! Also sei schlau und gib einfach zu, dass du unzureichend bist!“
“Nein!“, schrie sie, weil er wiederum den Knopf gedrückt hatte. Ihr Unterleib explodierte schier. Wellen um Wellen durchzuckte sie und dennoch war der körperliche Schmerz überwindbar. Auszuhalten... erträglich im Laufe der Zeit. Seine Worte jedoch gruben sich tief in ihre Seele.
„Ich fühle dein Herz, Patrizia!“, er machte eine Geste, als hielte er ihr Herz in der rechten Hand „als ob ich es hier in Händen hielte! Ich könnte meine Hand zu einer Faust ballen. Spürst du es, Patrizia? Spürst du mich? Spürst du meinen Griff um dein Herz?“
„Ja“, tonlos beinahe und mich wächsernen Lippen sah sie auf seine gekrümmte Hand. Und vor Patrizias Augen erschien tatsächlich ein transparentes Abbild ihres Herzens.
„Spürst du, wie es langsamer schlägt? Zum Stillstand kommt? Nur noch wenige Schläge trennt das Herz vom ewigen Tod.“
Patrizia stöhnte auf. Ein langer, jammervoller Ton entrang sich iher Kehle... und steigerte sich zu einem Schrei des Schmerzes, der Erniedrigung, des Trotzes und des Widerstandes.
Und der hagere Mann sah aus kalten, toten Augen zu. Und doch.... wer genau hinsah, konnte die Befriedigung, die Gier, die Genugtuung und die Lust in den oberflächlich kalten Augen sehen. Auch der Weltraum ist kalt. Und doch erfüllt mit den größten Wundern, den heissesten Temperaturen und den größten Wonnen.
Die Frau brach zusammen. Mit bebenden Lenden, zuckenden Hüften und hart darauf gepressten Händen.
Der Hagere kniete sich zu ihrem sich windenden Leib hinunter.
„Ich fürchte, es sieht gar nicht gut aus für dich, Patrizia! Aber daran trägst du keine Schuld. Dein Schicksal wurde schon vor langer Zeit entschieden. Bereits im Augenblick deiner Geburt warst du verdammt. Und jetzt endlich, 11 Jahre nach der Bewusstwerdung deiner Neigung nähert sich der letzte Akteur deines Schicksals.“
„Was?“
Ihre Frage war nur theoretischer Natur und doch wusste sie den Sprung nicht nachzuvollziehen.
„Was denkst du, Patrizia, wie wichtig du für mich bist?“
“Das muss ich nicht beantworten!“
„Nein,“ dabei drückte er wiederum den Knopf auf dem Griff des Gehstockes „das musst du nicht.“
Patrizia spürte heiße Wellen durch ihr Becken zucken. 50-Hertz-Konvulsionen durchzogen ihre Haut, ihr Fleisch und ihren Geist.
„Aber,“ und dabei verzogen sich seine Augen zu schmalen Schlitzen „du bist kein Soldat wie ich. Du bist ein Träumer! Wie weit kann ich mit dir gehen? Bist du Willens, für mich zu sterben? Allein und ohne Ruhm? Ohne Beachtung, im Stillen, wo es niemand sieht und dich niemand beweint und niemand ehrt? Verlassen von allen, die dich kennen? Denn genau das erwarte ich von dir! Und das ist keinen Deut weniger als das, was ich empfinde und was ich zu leisten imstande bin!“
Patrizia war hin und her gerissen. Einerseits machte der Hagere ihr fürchterliche Angst, andererseits sagte er das, was sie zu hören ihr Leben lang gesucht.
„Und was ist mit deinen Freunden?“, dabei drückte er kurz auf den Knopf.
„Bist du bereit, sie zu opfern? Was ist mit deiner Familie?“
Wieder ein Knopfdruck.
„Was ist mit deinem Gott?“ Druck auf den Knopf.
„Was ist mit der Wahrheit?“ Wieder ein Druck, der Schmerz wurde zu einer nicht enden wollenden Orgie.
„Was ist mit dem Blut? Was ist mit dem Recht? Was ist mit dem Unrecht? Was ist mit der Sünde? Mit der Hölle, der Zukunft, dem Tod, der Ehre, dem Mut?“
Nach jedem Punkt steigerte sich der Schmerz und doch... nach und nach sehnte sie die Wellen herbei, brachte sie in ihren Gedanken zu einer Form und gab ihr einen Namen. Und mit jedem Wort aus dem Geist des Mannes formte sie ein Gefühl des Glücks. Alles, was sie je begehrte, alles was zu hören sie sich niemals erträumte, alles war hier. Und jetzt. Die Stromschläge waren nur Meilensteine auf dem Weg in die Form, die sie immer erreichen wollte.
„JA!“, schrie sie gegen ihn an, den Schmerz ignorierend „Der Körper ist nur eine Hülle. Ich habe keine Angst mehr!“
Der Mann .. Tapp... Klack... Tapp.... zog den Rezeptor aus ihr. Nahm sie in die Arme.
„Du hast bestanden. Nein, wir haben bestanden.“
„Was haben wir bestanden?“, fragte sie mit bebender, erschöpfter Stimme.
„Keine größere Liebe hat der Mensch, als wenn er sein Leben hingibt für seinen Nächsten. Nicht für Geld, nicht für Ehre, auch nicht für Ruhm. Nur für... den Anderen. Man opfert sich im Verborgenen, wo es von keinem Anderen bemerkt oder gesehen wird. Nach alledem hier..."
Er nahm mit einer Geste unendlicher Zärtlichkeit ihr Gesicht in die Hände.
„... bin ich überzeugt,dass wir zusammen gehören. Meine Arbeit ist nun beendet. Unsere gemeinsame Arbeit beginnt gerade erst.“
Es war der Abend des 31. Oktober. Halloween. Oder Samhain, wie die Iren sagen. Dunkelheit lag über der Stadt, gleich einer samtenen Schwärze, die man meinte, greifen zu können.
Ein Taxi hielt vor einer Art Burg oder einem Herrenhaus, das an die trutzigen Bauten in Edinborough erinnerte. Große Basaltsteine und insgesamt ein eher dunkles Gemäuer, besonders im Licht der schimmernden Sterne am wolkenlosen Firmament. Es wurde frostig, die Kälte des Weltraumes fraß sich durch die Atmosphäre und nistete sich in der Erde ein.
Durch die beschlagenen Scheiben im Erdgeschoß schien mehr schlecht als recht gedämpftes Licht. Stimmengewirr und leise Musik drangen nach draußen. Beethovens Coreolan- Ouvertüre. Immer noch. Schatten tauchten tanzend auf und verschwanden wieder, wie ein surreales Puppentheater und zeichneten skurrile Muster auf den Gehweg.
Ein seltsam gekleideter Mann, der stolz eine elegant gekleidete Frau im Arm hielt, trat aus der Eichentür. Er öffnete die hintere Tür des wartenden Taxis, streckte mit einer knapp bemessenen Geste seinen Arm aus und half der Frau hinein. Ein harter Blick. Unnachgiebig, gnadenlos und doch so unglaublich neugierig liebkosten er mit seinen Blicken die Frau, die nun im Taxi saß. Beinahe euphorisch wirkten seine Blicke und er wartete auf ein Zeichen. Nur leicht neigte die Frau ihr Haupt und bekundete so selig lächelnd ihr Einverständnis. Der Mann, der beinahe skurril aussah in seiner antiquiert scheinenden Garderobe, die so gar nicht zu Halloween zu passen schien, legte ihr die schwarze, schmale Maske ab, nachdem er ebenfalls ins Taxi gestiegen war.