Teil 5 - Angelika
Wenn Angelika einen Raum betrat, geschah es oft, daß es für eine kurze Zeit deutlich ruhiger wurde. Sie war nicht auffälliger gekleidet oder größer als andere Frauen, auch ihre körperlichen Reize entsprachen nicht dem Idealbild der meisten Männer. Dennoch veränderte sich die Stimmung durch ihr Erscheinen so, wie ihr Gatte Tom es in einem Liebesbrief ausdrückte, als höre es auf zu Regnen. In ihrer Gesellschaft fühlten sich die Menschen wohl.
Angelika hatte als junges Mädchen bereits den Wunsch, einen Beruf zu ergreifen, in dem sie schwachen Menschen helfen konnte. Sie hatte zunächst ein Sozialpädagogikstudium begonnen, brach es aber nach 2 Jahren ab und begann eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Die Menschen, die sie betreute, mochten ihre zupackende Art und ihre unerschütterliche Freundlichkeit. Sie hatte sich außerdem, im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleginnen, nicht angewöhnt, kranke und alte Menschen auf eine Art anzusprechen, als seien diese Kleinkinder. Sie sagte nicht Beinchen, wenn sie Beine meinte, sprach nicht übertrieben lauter oder in einem Tonfall, der an eine Kindergärtnerin erinnerte. Angelika war sehr beliebt, ihre Vorgesetzten konnten sich auf ihre Einschätzungen verlassen und ihre Patienten fühlten sich respektiert. Einige Jahre hatte sie Altenpflege als Ganztagsbetreuung betrieben, wohnte mehrere Wochen im Monat mit ihren Pflegebedürftigen zusammen. Als sie Tom kennen gelernt hatte, wechselte sie in ein Altenstift mit normalen Arbeitszeiten.
Angelika hatte sich an den Spitznamen "Tante Angela" erst gewöhnen müssen, den ihre Freunde für sie erfanden.
Ihre Liebschaften hatte sie sich sorgfältig ausgesucht, denn es gab sehr viele Bewerber um ihre Gunst. Neben ihren Beziehungen hatte sie sich seit ihrer Studentenzeit schon Liebhaber gegönnt, die sie allein für die Erfüllung ihrer ausgeprägten Leidenschaft benutzte. Sie tat das ohne schlechtes Gewissen. Ihrer Auffassung nach tat sie nichts anderes, als Männer üblicherweise taten oder gerne getan hätten. Die Erfahrung, daß sie ausgerechnet von solchen Männern, die regelmäßig fremd gingen, als Nutte bezeichnet wurde, vor allem, wenn sie deren Forderung nach Reue nicht erfüllte, machte Angelika zusätzlich vorsichtig bei ihrer Partnerwahl.
Die Ehe mit Tom empfand sie von Anfang an als Glücksfall. Sie liebte ihren Mann sehr, hatte aber nicht aufgegeben, mit anderen Männern zu vögeln, wenn ihr danach war. Sex war für sie nicht gleichbedeutend mit Liebe. Ihre Affären fand sie über das Internet. Ohne zu wissen, dass Tom zufällig das gleiche Forum als Fundgrube benutzte wie sie, knüpfte sie gelegentlich Kontakte mit Männern. Auf diese Art hatte sie mit einem Mann Kontakt aufgenommen, der sich als bisexuell bezeichnete. In seinem Profil war zu lesen, er sei schwul, schlafe aber auch mit Frauen. Er wohnte in der gleichen Stadt wie sie, sprach mit englischem Akzent, nannte sich Michael und war ein ausgesprochen guter Liebhaber.