Strandgut
Die Frau aus dem Meer© Ginger 2016
Es war 6 Uhr morgens. Über dem Strand waberten noch letzte Fetzen des Nebels. Möwengeschrei erfüllte die kalte, klare Luft. Sven fuhr mit seinem Jeep vor das winzige Strandrestaurant, das er betrieb. Es war damals für die meisten eine wahnwitz Idee, das er seinen gut dotierten Job als Projektleiter in Hamburg an den Nagel hing. „Du hast eine Midlife-Crisis, Alter.“ warf Robert, sein bester Freund, ihm an den Kopf. Doch nein, das war es nicht. Sven wollte einfach raus aus dem Trott, das machen, was ihm schon lange im Kopf herumspukte.
Die Arbeitswelt dort in der Kälte der Großstadt war nie das, was sein Herz berührte. Der Konsum befriedigte ihn nicht, nicht die endlosen Weibergeschichten, das schicke Penthouse oder der niegelnagelneue Sportwagen in der Tiefgarage. Sven fühlte sich leer, unbefriedigt, das Leben hatte trotz des hohen Standards einen faden Geschmack, der Erfolg legte sich nicht süß auf seine Zunge, sondern schmeckte irgendwie bitter. Er wurde danach nicht süchtig. Sven lag oft in den Morgenstunden wach, wenn das erste Licht des Tages sich silbern über Hamburg legte. Der Mann stand auf, trat dann an die großen Fenster und sah der Stadt beim Erwachen zu, die hektische Betriebssamkeit, die Menschen da unten, wie kleine Ameisen, emsig ihren Geschäften nachgehend.
Wo war sein Hunger, sein Biss, seine Kaltschnäuzigkeit, wenn es darum ging, andere auszubooten, um sich einen Vorteil bei der Chefetage zu verschaffen? Sven hatte es satt und er wusste, er musste sein Leben ändern, jetzt, sonst würde er auf ewig in der Tretmühle stecken oder vorzeitig einem stressbedingten Herzinfarkt erliegen. Ein Artikel im Spiegel gab seiner inneren Stimme Recht. Das Zauberwort hieß „Downshiften“. Ja, er sehnte sich danach, nach der Einfachheit des Lebens, nach den wahren Dingen, nach dem Geschmack des Meeres auf seiner Zunge und der Gischt in seinem Gesicht. Er sehnte sich zurück nach seiner Heimat: St.-Peter-Ording. Von dort war er einst losgezogen, um die Welt zu erobern; er, der blonde Hüne aus dem hohen Norden, dessen Augen das gleiche Blau trugen, wie der Himmel über dem Meer an einem heißen Augusttag.
Als Sven mit Robert über seine Gedanken sprach, tippte der sich nach einem Schluck Grappa an die Stirn. „Mensch, Sven, wach auf, Du bist auf dem Zenit Deiner Karriere, Dir liegen die tollsten Weiber zu Füßen, Du scheffelst Kohle ohne Ende und Du? Du rennst einem Hirngespinst nach, faselst von Einfachheit, dem Sinn des Lebens. Mein Junge, Du spürst Deine Sterblichkeit, die Jahre ziehen ins Land und Du meinst gerade jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, um alles in den Dreck zu treten, wovon Du in Deiner öden Provinz damals geträumt hast?“ Sven griente leicht und ließ den Redeschwall Roberts an sich abperlen, wie die Gischt des Meeres. Gedankenverloren spielte er mit seinem Weinglas. Robert redete weiter: „Du musst endlich sesshaft werden, werfe Dein Herz hier vor Anker, suche Dir endlich eine Frau, die Du heiratest und setze ein paar Kinder in die Welt.“ Sven sah Robert in die brauen Augen. Ja, der Freund war angekommen in seiner kleinen, heilen Welt. Schickes Haus in Eimsbüttel, die blonde, hochbeinige Angela an seiner Seite und seit 3 Monaten einen krähenden Stammhalter im Haus. Bei der „Pinkelparty“ fühlte sich Sven unter all den Gästen einsam, wie nie zuvor und sein Herz war von dieser Sehnsucht erfüllt, die ihn so schlecht schlafen ließ.
Der Abend war perfekt, das Catering suberp, die Drinks eisgekühlt und hochprozentig und doch, und doch. Sven fühlte sich wie ein Alien, er sah wie ein Außenstehender auf die plaudernde, fröhliche Gesellschaft, lächelte milde über zotige Witze und sehnte sich in diesem Moment zurück an den endlosen, lichtüberfluteten Strand seiner Kindheit. Wo waren die Jahre geblieben? War es das hier, wofür sich all die Opfer gelohnt hatten? Ja, ausgetobt hatte er sich, hier in Hamburg und viele gebrochene Frauenherzen pflasterten seinen Weg. Noch besaß er das kleine, rote Lederbüchlein, in dem die Namen seiner Eroberungen fein säuberlich notiert waren und in den einsamsten Nächten, an den verlorensten Abenden in all seinem Protz und Prunk bediente er sich manches Mal aus diesem Büchlein, rief einen Namen an, um sich nach einer scheinbar leidenschaftlichten, durchvögelten Nacht noch einsamer zu fühlen, wenn der nackte Frauenkörper neben ihm verschwunden war und nur noch der Duft eines dezenten Parfüms durch das Penthouse zog.
An seinem 45. Geburtstag machte Sven Nägel mit Köpfen. Er lud seine Kollegen und seine Vorgesetzten zu einem Abendessen ins „Jacobs“ ein, wiegte nur geheimnisvoll den Kopf, wenn man ihn nach dem Grund der Einladung fragte, war aufgeregt, wie ein kleiner Junge und doch so unerschütterlich in seinem Entschluss, wie ein Bollwerk gegen feindliche Truppen.
Gespannt saß seine Crew, die seit fast 16 Jahren sein Leben begleitete, in dem noblen Ambiente des Lokals. Sven stand auf, schlug leicht gegen sein Glas. Die Gespräche verstummten und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Es gab kein Zurück.
„Liebe Freunde, ich habe Euch heute hier eingeladen, um Euch mitzuteilen, dass ich zu neuen Ufern aufbrechen möchte. Ich werde wieder nach St.-Peter-Ording zurückkehren, um mir dort eine neue Existenz aufzubauen, die nichts mit meinem bisherigen Berufsleben zu tun hat. Vielleicht habt Ihr es schon gemerkt, dass ich mich seit einiger Zeit sehr mit meinem weiteren Lebensweg beschäftige, doch der Plan war in mir noch zu unausgegoren, um ihn Euch zu präsentieren. Manche werden meine Entscheidung verstehen, andere nur den Kopf schütteln, doch Ihr kennt mich und wisst, was ich mir in den norddeutschen Dickschädel gesetzt habe, setze ich auch durch.“ Sven sah in ungläubige Gesichter, manche nickten, Robert grinste schief. Dieser verrückte Sven, er tat es wirklich! „Ich hoffe, dass Ihr mit mir diesen Abend feiern werdet, auf mein Wohl und mein neues Ziel, mit mir trinkt und meine Entscheidung akzeptiert. Was ich hier lasse, kann ich kaum in Worte fassen, Freundschaften, viele Erfahrungen, die mein Leben bereicherten und die beste Zeit meines bisherigen Leben, doch ich spüre, da ist noch mehr und genau das will ich. In diesem Sinne bitte ich Euch mit mir anzustoßen, auf das Alt- und das Unbekannte.“ Die Gesellschaft erhob sich noch erstaunt, verdutzt, manche geschockt, doch alle tranken auf den Mann, der da so unerschrocken ins kalte Wasser sprang, ohne zu wissen, wohin in die kleine Jolle des Lebens treiben würde.
Dr. Bruckner, Svens unmittelbarer Vorgesetzter, räusperte sich: „Nun, mein lieber Sven, Du erwischst mich wirklich auf dem falschen Fuß, aber selbstverständlich werde ich Deinen Entschluss akzeptieren. Was mir persönlich fehlen wird, sind Deine Visionen, Dein Engagement und Dein Sturkopf, der mich doch manches Mal zur Verzweifelung brachte, doch ich wusste, dass Du immer mein bester Mann bist. Ich lasse Dich nur ungern ziehen, doch wie sagte schon Whitmann: Der Veränderung die Tür versperren hieße das Leben selber aussperren. In diesem Sinne, auf Dich.“
Es wurde ein rauschendes Abschiedsfest und als Sven als Letzter das Lokal verließ und auf der nassen Straße stand, der kalte Wind ihm das blonde Haar aus dem Gesicht wehte, überkam ihn ein unbändiges Freiheitsgefühl. Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Ja, die Reise hatte bereits begonnen.
Svens Eltern waren bereits verstorben. Seine erste Amtshandlung war der Besuch des Familiengrabes auf dem Friedhof in St.-Peter-Ording, das durch einen hiesigen Gärtner gepflegt wurde. Sven beugte sich herab und entzündete eine Kerze. „Ma, Pa, ich bin wieder hier.“ flüsterte er leise. „Diesmal bleibe ich.“ Bilder zogen vor seinem geistigen Auge auf. Seine Kindheit unter diesem Himmel, die Jugend, die verschüchterten ersten Küsse hinter einer alten Fischerhütte ... Ja, es war viel Zeit seit damals vergangen und dennoch fühlte er, dass sein Herz immer hier gewesen war, es hatte seine Heimat nie verlassen.
Durch einen Makler fand Sven schnell ein winziges Häuschen, etwas windschief, doch mit seiner weißen Farbe und den blauen Fensterläden friesischer Charme vom Feinsten. Es wurde möbeliert angeboten und Sven fühlte sich von der ersten Sekunde an pudelwohl. Am ersten Abend fuhr er zu seinem ehemaligen Elternhaus und als Sven vor ihm stand, war ihm, als würde seine Mutter eine Kerze ins Fenster stellen, damit er den Weg zurück finden würde. Warum musste ein Neuanfang oft so weh tun, warum fühlte er sich trotz seines Freiheitsgefühls traurig, woher kam diese Wehmut? Sven versackte an diesem Abend in einer rustikalen Pinte und genoss reichlich die hiesigen hochprozentigen Lokalspezialitäten. Kurz und gut: Er besoff sich wie selten zuvor in seinem Leben. Vielleicht wollte er ja einfach auch nur die kleine Stimme des Zweifels in sich zum Verstummen bringen. Draußen heulte der kalte Wind um das Gemäuer. Es war noch keine Saison in St.-Peter-Ording und wenn man alleine durch die verlassenen Straßen ging, schien es so, als würden Geister längst vergangener Zeiten um die Ecken ziehen.
Für den Neuanfang besaß Sven sehr gute Rücklagen. Sein altes Leben verscherbelt, der Sportwagen, fast neu, verkauft. Nun konnte er einem alten Traum folgen. Er wollte ein Strandbistro eröffnen. Wie der Zufall es wollte oder doch das Schicksal, war eines der Strandrestaurants in Böhl zu verkaufen. Zwischen Besichtigung und Kauf lagen keine 2 Wochen und selbst Sven wurde es angesichts des Tempos schwindelig. Als er abends in seinem neuen Lebensmittelpunkt stand, die Sonne golden in der Nordsee versank, heulte er wie ein kleines Kind, vor Glück und über das Gefühl nach Jahren der Suche endlich angekommen zu sein.
St.-Peter-Ording lag im Winterschlaf, doch die Tage wurden schon wieder länger. Noch nie war Sven so gerne aufgewacht, noch nie konnte er so gut schlafen. Er war voller Tatendrang und Vorfreude. Das Innere des Strandbistros wurde vollständig verändert, stylisch, schwarz-weiß, eine neue Soundanlage musste her, Angestellte angeheuert werden. Sven ließ alte Kontakte aufleben. Sein Erscheinen in St.-Peter-Ording war nicht unbemerkt geblieben und alte Weggefährten schwankten in ihren Empfindungen zwischen Schadenfreude und Respekt, doch Sven war das Gerede egal. Als die Leute merkten, dass in dem Rückkehrer noch immer das norddeutsche, echte Herz schlug, die Großstadt ihn nicht versnobt hatte, öffnete sich ihm so manche Tür. Richard, ein Freund aus alten Tagen, der nunmehr den elterlichen Hof betrieb, war der Erste, der den Heimkehrer willkommen hieß. Er stand eines Tages einfach im Strandbistro, von kleiner, untersetzter Figur, doch noch immer den Schalk in den Augen, wie damals, als sie den Urlauberinnen nur zu gern die hiesigen Gepflogenheiten und Bräuche näher brachten. Ja, da kamen die Erinnerungen an manches Bikebrennen wieder hoch.
„Mensch, Sven!“ röhrte Richards Stimme durch den Gaststraum. „Richard! Altes Haus“ Sven lachte laut auf und fiel dem Freund aus früheren Zeiten um den Hals. Nie waren sie sich näher als in diesem Moment und sollte sich Fremdheit über die beiden gelegt haben, so wich sie wie der Seenebel bei Sonnenaufgang. „Ja, Mensch, was machst Du denn hier? Ich konnte es ja kaum glauben, als mir die alte Telse erzählte, wer wieder hier gelandet ist.“Ja, Rich, so ist das. Der Ausflug in die große, weite Welt ist beendet. Hier bleibe ich.“ Der Abend wurde lang und die Nacht noch länger. Der Einfachheit halber und dem Alkohol geschuldet, schliefen die beiden Männer im hinteren Raum des Strandlokals auf alten, muffigen Pritschen und der ewige Wind wiegte sie in Träume aus Wogen und Wellen.
Bis zur Eröffnung war es noch eine Woche. Robert war zu Besuch gekommen. Erstaunt und lachend sah er sich in Svens Behausung um, der Kamin verströmte heimelige Wärme, die Holzscheite knackten und bei Ostfriesentee und Wattenläuper saßen sich die ehemaligen Kollegen gegenüber. Sven war kaum wieder zu erkennen, doch die Jeans, das karierte Hemd und die vom Wind zerzausten Haare standen ihm. Er wirkte jünger, fitter, der verdrießliche Zug um seine vollen Lippen war gewichen, jetzt nisteten dort Zufriedenheit und Wohlbehagen. Das sah Robert auf den ersten Blick. „Ich beglückwünsche Dich.“ sagte er warm. Sven lachte. „Du bist hier jederzeit herzlich willkommen, wenn Dir Hamburg auf den Sack geht.“ „Das Angebot nehme ich gerne an. Hamburg geht mir jetzt schon auf den Sack.“ Robert wirkte in seinen Designerklamotten fehl am Platz. Er sah aus dem Fenster in den noch schlafenden Wintergarten. Wie bunt musste er aussehen, wenn alles blühte und die Stockrosen fast über die Eingangstür wucherten? Ja, sein Freund schien alles richtig gemacht zu haben und in Robert tauchte sie auch leise auf: Die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Das Strandrestaurant erstrahlte in voller Pracht. Flyer waren gedruckt, die örtliche Lokalpresse würde über die Neueröffnung berichten, das Team war komplett. Annelore, die dralle Blondine, Nane, eine zierliche Brünette und Sven, der sich nunmehr den lukulischen Genüssen zuwenden wollte, um seine Gäste damit zu verzaubern. Wie so oft stand er hinter dem Fensterglas, blickte auf den noch leeren Außenbereich und konnte sich nicht satt sehen an diesem Ausblick, das Meer, das jede Minute seine Farbe zu wechseln schien und diesen unglaublich hohen Himmel, in dem man sich verlor, wie in den schönen Augen einer Frau. Fern war Hamburg, fern, das alte Leben, so, als sei es nie gelebt worden. Sven fühlte sich wie neugeboren, in seinen Adern floss Salzwasser, dessen war er sich nun bewusst. Das Bistro sollte eine Mischung aus Restaurant und Chillout-Lounge sein, Events mit wechselnden DJs waren in Planung und würden den Sommer und diesen Strandabschnitt hoffentlich zu einem angesagten Hotspot machen.
Es war der 5. Januar, als Sven die Frau das erste Mal sah. 6 Uhr morgens, der Nebel lichtete sich und da war sie, tauchte auf, aus dem Dunst der Nacht, eine große, schmale Gestalt, in einen weißen Wollponcho geschmiegt, das rote Haar einer Fahne gleich um den Kopf wehend, an ihrer Seite ein Weimaraner. Sven beobachtete sie von dem Bullaugenfenster der kleinen Küche aus. Die Unbekannte ging nicht, nein, sie schien über den grauen, nassen Strand zu schweben. kein Make-Up verunstaltete das klare, fast weiße Gesicht, in dem grüne Augen brannten, deren Blick in die Unendlichkeit gerichtet schien. Der Hund wich ihr nicht von der Seite und er wirkte genauso königlich, wie die Frauengestalt. Ja, das war Rasse und Klasse. Frauenkenner Sven erkannte es auf einen Blick. Das war kein Leichtgewicht, kein namenloser Fick in der Nacht. Diese Frau brannte sich ins Herz und man würde sie nie vergessen, selbst wenn man alt und grau wurde. Sven verließ seinen Beobachtungsposten. Er war neugierig und wollte der Unbekannten unter einem Vorwand begegnen. Schnell hastete er die glitschige Treppe herab, doch als er unten ankam, seinen Blick über den Strand gleiten ließ, war die die Frau verschwunden, verschluckt von dem silbrigen Nebel, der sich wieder wie einem Leichentuch gleich über die frühe Morgenstunde legte.
• Fortsetzung folgt -