Schutzlügen
Und hier die versprochene kontroverse Antwort auf die Frage: was ist besser, lügen oder die Wahrheit sagen.
Den üblichen "Lügen ist immer scheisse" Antworten möchte ich aus eigener Erfahrung entgegensetzen: manchmal ist die Wahrheit verkehrter als eine Lüge. Und manchmal kann es besser sein, die Wahrheit zu verschweigen als sie auszusprechen.
Mal ein etwas weiter ab vom Schuss liegendes Beispiel: die Frage nach irgendwelchen Äusserlichkeiten "findest du meinen Arsch zu dick". Angenommen, der Arsch ist tatsächlich etwas breiter - wem nützt die Antwort "ja"? Niemandem. Nicht dem Fragesteller, der vermutlich glaubt, die Frage hätte für den Antwortenden irgendeine Relevanz, und nicht dem Antwortenden, der weitaus eher in Gefahr ist, sich wegen seiner Unhöflichkeit einen Kopf zu machen als sich wegen seiner Ehrlichkeit zu beglückwünschen.
Also. Eine Lüge ist nicht von sich aus was schlechtes. Manchmal ist sie notwendig zur Erhaltung und Pflege des sozialen Umfeldes. Manchmal macht sie wesentlich glücklicher als die Wahrheit. Manchmal schützt sie den Fragesteller vor etwas, das er ohnehin nicht kontrollieren oder zum Besseren wenden kann.
Aber zur konkreten Fragestellung:
Meines Erachtens ist nicht jede Wahrheit was Gutes oder muss ausgesprochen werden. Ich würde lieber eine Wahrheit verschweigen, um meine Beziehung zu schützen als eine Wahrheit auszusprechen, die sie gefährdet, und meinen Partner unglücklich macht.
Das hängt damit zusammen, dass ich mich, meine Beziehung und meinen Partner kenne. Und insbesondere was letzteren angeht, ausserordentlich genau (in meinem Fall durch Nachfragen und Zuhören) weiss, was er möchte. Und was er nicht möchte. In unserem speziellen Fall möchte er möglichst wenig über meine sexuellen Wünsche und deren Umsetzung wissen.
Was mir eigentlich von vornherein klar war. Dennoch hielt ich es in diesem Fall für unumgänglich, und das aus ausschliesslich egoistischen Motiven (rücksichtsvoller wäre es gewesen, ihn rauszuhalten) ihn über all diese Dinge in Kenntnis zu setzen. Weil ich das dann nämlich ein bisschen steuern konnte, den Zeitpunkt, das Wie, das Was. Sowas hat in meinen Augen nicht das geringste mit Mut zu tun, sondern mit dem Wunsch, die Kontrolle über die Situation zu behalten (notfalls rechtzeitig abzubrechen) und eventuelle negative Konsequenzen abzufedern.
Natürlich bestand die Möglichkeit (und vielleicht war auch das damals meine Hoffnung), dass er unvermutet doch mehr Überschneidungen mit meinen sexuellen Wünschen gefunden hätte. Was allerdings, nach über 15 Jahren, doch eher unwahrscheinlich war - wie wahrscheinlich ist es nach so langer Zeit, dass man eine so wichtige Facette im Wesen des Partners nicht erkennt? Man kennt den anderen doch. Und kann schon abschätzen, was ihm gefällt und was eben nicht! Insofern kann ich den Hinweis darauf, dass es doch immerhin möglich sein könnte, das der Partner auf etwas, von dem man eine negative Reaktion vermutet, positiv reagiert, zwar verstehen, aber naja. Es ist in meinen Augen eher Schönfärberei als Realismus. Nach einigen Dekaden sind überraschend zutage tretende Persönlichkeitsmerkmale eher selten.
Also. Wenn jemand sich zutraut, Nebenbeziehungen zu pflegen, ohne den nach eigenem Kenntnisstand unaufgeschlossenen Partner hierüber in Kenntnis zu setzen, hat er mein volles Verständnis. Könnte ich lügen, hätte ichs getan. Aber bei mir geht das immer schief, und deshalb tu ichs nicht. Auch weil mir der Stress des Verheimlichens zu viel wäre. Die Sorge, der Partner könnte ein Verheimlichen missverstehen (denn was man verheimlicht wirkt ja immer viel wichtiger als das, worüber man redet), die Angst, die Kontrolle über die Situation zu verlieren.
Ich sehe keinen Grund, stolz darauf zu sein, dem Partner etwas Unangenehmes zu sagen, oder sich zu schämen, das nicht zu tun.