Lasset uns faseln !
"Man kann ruhig darüber sprechen!" - heutzutage. Eine der wenigen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 25 Jahre, die ich wirklich "total ok" finde ist die "Sexualisierung", die von "den Herren vom christlichen Gewerbe" (Arno Schmidt) immer so beklagt wird: Sex ist "Thema" geworden und gerade eben auch "abweichende" Sexualitäten, die eben anders sind, als der Mainstream. Und diese Veränderung ist durch das Internet zustande gekommen. Und das Internet ist auch nicht entstanden, weil wohlmeindende Gutmenschen ein neues Medium schaffen wollten, sondern weil das US-Militär Computer auf große Distanzen verbinden wollte, um effizienter killen zu können. Niemand hat diese Veränderung "gemacht" - sie hat sich "einfach so ergeben" und das ist vielleicht auch ganz gut so. Mir ist es lieber, eine Chance zu haben, als von jemand "gemacht" zu werden.
Die Öffentlichkeit des Internet war es gewesen, die mir selbst beim Umgang mit meiner Bisexualität enorm viel geholfen hat. Nach meinem c.o. im Sommer 1997 fühlte ich mich ziemlich isoliert. Für die Heteros war ich "schwul" und für die Schwulen war ich "einer, der sich nicht traut, schwul zu sein" - von beiden Seiten diskriminiert und zwischen allen Stühlen. (Mein c.o. war trotzdem ein schönes Erlebnis - mein "engeres Umfeld" war wunderbar gewesen. Die Probleme begannen erst nach dem beruflichen Umzug in eine gottserbärmlich rückständige Gegend.) Erst im Netz habe ich gesehen: ich bin nicht der einzige, keine verschwindend kleine Minderheit, sondern es gibt viele und die allermeisten davon führen ein sehr lustiges Leben. Es sind auch immer mehr geworden im Netz und unter den sexuell offenen Menschen sind "wir Bisexuellen" doch fast schon der Mainstream geworden ...
Und wenn sich die Gesellschaft in einem positiven Sinne von dem binären Schema wegentwickeln sollte, dann meine ich, das dies nur auf genau diese Weise geschehen kann und hoffentlich auch wird: daß wir uns zeigen und andere dadurch ermuntert werden, das ebenfalls zu tun.
Ich glaube, daß die Parallelen noch weiter gehen: so, wie damals viele glaubten, man müsse sich dem binären System von Homo- oder Heterosexualität unterordnen, so glauben heute sehr viele an ein binäres System von Mann und Frau. Das hat vielleicht sehr viel mit der knackigen Formel zu tun, daß Transsexuelle Menschen wären, die "im falschen Körper geboren wären". Ich weiß nicht, wer diese Formel in die Welt gesetzt hat - aber heute ist sie in aller Munde und hinter dieser Formel steckt genau diese binäre Vorstellung und diese Formel ist wegen ihrer Knackigkeit auch so mächtig, wird von vielen geglaubt. Das ist die unseelige "Macht der Metaphern" (Ludwik Fleck), die uns auf haarsträubende Irrwege führen können.
Der Mensch verlässt den Mutterleib als Halbfertigprodukt. Er ist - im Gegensatz zu allen anderen Säugern - total unterentwickelt, nicht alleine überlebensfähig. Die Antropologen erklären das mit dem aufrechten Gang, der eine Verengung des Geburtskanals erforderlich machte. Das Kind muß schon viel zu früh aus dem Mutterleib, weil es, wenn es überlebensfähig entwickelt wäre, nicht mehr durchpassen würde. Im Grunde ist jedes Kind eine "Frühgeburt".
Das einzige, was wirklich biologisch definiert ist, sind die Genitalien. "Hat das Kind nun ein Zipfelchen oder hat es kein Zipfelchen?" (Loriot: Weihnachten bei Familie Hoppenstedt) Es ist aber m.E. ein Fehler, anzunehmen, daß Zipfelchen oder Nonzipfelchen die Determinanten für "Mann" oder "Frau" wären. So wie die Sprache eine kulturelle Eigenschaft des Menschen ist, wie wir schon seit dem Mittelalter durch das zynische Experiment Kaiser Friedrich II. wissen (Kinder, die zwar ansonsten gut versorgt werden, aber keine Sprache vermittelt bekommen, erlernen keine Sprache durch sich selbst, verkümmern nicht nur geistig und sterben schon nach wenigen Jahren) - so sind auch die "sexuellen Identitäten" Kulturprodukte, werden erst postnatal erworben, sind von daher auch dem kulturellem Wandel unterworfen.
Es wundert mich deswegen garnicht so sehr, daß es heutezutage immer mehr Menschen gibt, denen das binäre Schema von "Mann" und "Frau" zu eng geworden ist. Schließlich haben sich die Rollenmuster von "Mann" und "Frau" seit dem Jahre 1914 gewaltig verändert - im wesentlichen dadurch, daß sich "Frau" immer mehr an "Mann" angenähert hat. Erst in diesen Zeitläuften erleben wir, daß sich auch "Mann" - recht zögerlich noch - in Richtung "Frau" zu bewegen beginnt. Wenn wir also davon ausgehen, daß "Mann" und "Frau" in irgendeiner Weise dem Kind in seinen ersten Lebensjahren vermittelt wird - wie, das sei hier mal ganz bewußt offengelassen - dann sind es heute ganz andere Bilder von "Mann" und "Frau" die vermittelt werden und Bilder, die weitaus weniger eindeutig sind als früher.
Wenn ich heute durch die Stadt laufe, sehe ich immer mehr junge Männer, die ihr Kind vor der Brust oder auf dem Rücken tragen, es füttern und saubermachen - sie "muttern". Wenn es diese jungen Männer sind, die das Muster von "Mann" an ihre Kinder mit dem Zipfelchen weitergeben, dann ist das nicht mehr das Bild vom padre-padrone, vom Patriarchen, sondern dieses Muster enthält schon sehr viel von "Mutter", von Eigenschaften, die wir allgemein als weiblich ansehen - und ebenso läuft es natürlich umgekehrt. Für nicht wenige Kinder ist der "eigentliche Vater" heutezutage sogar eine Frau, weil die "Mutter" inzwischen in einer lesbischen Beziehung lebt.
"Die Gesellschaft" kann sich also darauf einrichten, daß "Mann" und "Frau" in dem binären Sinne, wie wir diese Begriffe heute zu verstehen gewohnt sind, ebenso Auslaufmodelle darstellen, wie Kernkraftwerke und Ottomotoren und das "so welche wie wir" immer mehr werden.
LG
Niki