Der alte Mann und der Swingerclub
Einmal im Monat besuchte Josef Stellmacher den Swingerclub der nächstgelegenen Stadt, meist am ersten Freitag, denn da war Herrenüberschussabend und der Eintritt betrug nur achtzig Euro.Er war so etwas wie ein Stammkunde, aber auch ein Unikum. Mit seinen achtundsiebzig Jahren hob er sich deutlich von den anderen Gästen ab: Die ältesten von ihnen mochten vielleicht an die Fünfzig oder Fünfundfünfzig sein, ganz selten gab es auch mal ein Paar, bei dem wenigstens der Mann die Sechzig überschritten zu haben schien, aber der Durchschnitt aller Männer und Frauen, die dort ein kurzweiliges, körperliches Vergnügen suchte, war deutlich jünger als er.
Daher saß Josef, der von seinen Freunden nur Beppo genannt wurde, bei jedem seiner Besuche allein an der Bar und sah dem vermeintlich erotischen Treiben ringsherum zu. Selbstverständlich gab es in diesem Bereich des Clubs nicht viel zu beobachten, bestenfalls kam es zu einigen unbeholfenen Fummeleien, wenn sich zwei Paare oder ein Soloherr und die Dame eines Zweiergespannes näherkamen, bevor sie dann in die hinteren Räumlichkeiten - die Mottozimmer oder die Spielwiese - verschwanden.
Beppo suchte diese Räume nur selten auf, meist dann, wenn es an der Bar leerer und ihm somit langweilig wurde. Er stellte sich dann an die Wand am Eingang des jeweiligen Zimmers und sah den Akteuren zu, bis er des Raumes verwiesen wurde. Überwiegend waren es die Männer, die es aus irgendeinem Grund nicht ertragen konnten, dass ein Mann in seinem Alter reglos dastand und mit keiner Miene verriet, was er von den Darbietungen hielt.
„Blöder Spanner!“
zischte jemand von der Matte und näherte sich drohend. Beppo hob die Hand, lächelte, verschwand lautlos und schlich in einen anderen Raum. Dort angekommen, bemühte er sich, nicht wahrgenommen zu werden, doch so sehr die Hauptdarsteller des Realfilmes, der unmittelbar vor seinen Augen ablief, mit sich und den anderen Beteiligten beschäftigt zu sein schienen, irgendwann wurde er bemerkt und manchmal beinahe aggressiv verjagt.
„Verpiss Dich, Alter, mach’s Dir woanders selbst!“
Vor allem die Jünglinge reagierten äußerst heftig und Beppo hatte sogar Verständnis dafür. Er war ihnen nicht böse. Meist suchte er wieder die Bar auf und ließ sich von Sabrina, der jung gebliebenen Mittvierzigerin hinter dem Tresen und Inhaberin des Clubs, einen Sex-on-the-Beach mixen, gegen Bezahlung natürlich. Im Eintritt waren nur Wein, Bier und nichtalkoholische Getränke enthalten und so freute sich die Bedienung über Gäste wie Beppo, die auch einmal etwas bestellten, was dann am Ende extra abgerechnet werden konnte. Der alte Mann - so wusste Sabrina aus Erfahrung - war nicht kleinlich mit dem Trinkgeld und er genoss die Stunden in dem Club, wenngleich sie sich auch nicht erklären konnte, warum.
Sie hatte Beppo noch nie irgendeine sexuelle Handlung an sich oder anderen Gästen vornehmen sehen. Sein Kontakt zu den Anderen beschränkte sich ausschließlich auf die Runde durch die verschiedenen Mottoräume und seltene Gespräche mit dem einen oder anderen Paar, die manchmal an der Bar zustande kamen. Ach ja, und er plauderte dann und wann mit ihr, wenige Worte meist, der typische Wortwechsel zwischen Gast und Gastgeberin.
Mit der Zeit hatte Sabrina auf diese Weise eine Menge über den alten Mann erfahren. Er war seit über als vierzig Jahren verheiratet, hatte drei Kinder - zwei Söhne und eine Tochter, die aber allesamt längst aus dem Haus waren und ihr eigenes Leben lebten - sieben Enkel, die er alle Jubeljahre mal sah und eine Frau, für die Körperlichkeit zwischen den Geschlechtern zu den sieben Todsünden zählte, ausgenommen natürlich man vereinigte sich zum Zweck der Fortpflanzung.
„Dann haben sie nur dreimal in ihrem Leben Sex gehabt?“
Diese naheliegende, bei näherer Betrachtung aber reichlich naive Frage war Sabrina damals einfach herausgerutscht, doch Beppo hatte lächelnd den Kopf geschüttelt.
„Nein, es war häufiger. Bei allen drei Kindern hat es nicht auf Anhieb geklappt.“
Der gutmütigen, aber schlicht gestrickten Inhaberin war daraufhin so einiges durch den Kopf gegangen, sie hatte aber erst deutlich später gewagt, an diese Aussage anzuknüpfen.
„Das ist trotzdem recht dürftig. Haben Sie Sich nie nach mehr gesehnt? Nichts vermisst?“
Sabrina hatte sich noch auf die Lippen gebissen, im selben Moment, als die törichte und äußerst indiskrete Frage gestellt war. Doch Beppo schien die Geduld in Person zu sein, er reagierte mit dem Heben seiner Schultern und einem tiefen Ausatmen. Auch das nachsichtige Lächeln auf seinem Gesicht blieb unerschütterlich.
„Warum? Ich kannte ja nichts anderes. Was hätte ich also vermissen sollen? Na ja, und nach mehr sehnen kann man sich ja immer… mehr Geld, mehr Grundstück, mehr Auto… glauben Sie mir, junge Frau, all diejenigen, die dem ‚immer Mehr’ hinterhergelaufen sind, waren nicht wirklich glücklicher, nachdem sie es erlangt hatten.“
Sabrina hatte sich wegen der „jungen Frau“ sehr geschmeichelt gefühlt und den alten Mann zu seinem Lieblingsgetränk eingeladen. Als der Cocktail fertig gemixt auf dem Tresen stand, war sie ihm sehr nahe gekommen und hatte ihm die nächste dumme Frage ins Ohr geflüstert.
„Haben Sie denn nicht einmal darüber nachgedacht, ihre Frau zu betrügen?“
Beppo hatte laut aufgelacht und den Kopf geschüttelt. Dann war er vom Hocker gerutscht und hatte in die Runde gedeutet.
„Mit wem denn? Mit einer von Diesen hier? Das gab’s zu meiner Zeit noch nicht, junge Frau. Und jetzt bin ich zu alt - sehen sie mal genau hin!“
Und Sabrina erinnerte sich an diesen Abend, jetzt, wo Beppo wieder vor ihr saß. Ja, er war ein verlebter und keinesfalls attraktiver Mann. Bleiche, faltige Haut, schütteres schmutziggraues Haar, in dem die Schuppen klebten, viele Altersflecken, schlaffe Muskeln und eine aufgeblähter Kugelbauch, der sie immer an den Witz mit dem Spiegel am Pissoir denken ließ. Sein Cluboutfit bestand aus dunkelblauen Boxershorts, dessen Stoff ihm um die ausgezehrten Oberschenkel flatterte, rosa Gummisandaletten, die leider die gelben und verkrümmten Zehnägel nicht verdeckten und einem latexähnlichen Oberteil in Pink, das ihm an Schultern und Oberarmen mindestens zwei Nummern zu groß war, sich aber straff über den üppigen Bauch spannte.
„Prost, junge Frau. Auf Sex-on-the-Beach.“
Beppos Worte und sein charmantes Lächeln ließen die Bedienung aus ihren Gedanken aufschrecken. So sieht ein alternder Mensch nun mal aus, wies sie sich selbst zurecht. Nein, körperlich will man mit so einem nicht werden, ganz sicher nicht, aber er ist ein netter Kerl. Automatisch hob sie ihr Sektglas und stieß mit ihm an.
„Prost, Beppo. Du warst heute noch gar nicht auf Tour?“
Sie deutete in die Richtung, in der die Mottoräume lagen. Er sah sich kurz um, wandte sich dann aber wieder ihr zu und grinste.
„Nix Interessantes dabei, heute. Ich geh vielleicht später.“
„Interessantes? Was interessiert Dich denn überhaupt an Denen?“
Sabrina nickte erneut zu den Bereichen, in denen sich um diese Zeit die große Mehrheit der Gäste vergnügte. In der Lounge saßen vier oder fünf Soloherren, die an diesem Abend nichts abbekommen hatten, an der Bar waren sie und Beppo im Moment unter sich - Zeit und Gelegenheit, in die Tiefe zu gehen. Der alte Mann kniff die Augen zusammen und hob die Schultern.
„Die Körper jedenfalls nicht. Da ist keine Frau dabei, die ich wirklich attraktiv finde, die mich anmacht, wenn Du verstehst, was ich meine.“
Er lächelte wieder und trank einen Schluck. Sabrina nickte.
„Ja, schon klar, Adonis. Von all den Frauen hier interessiert Dich keine. Warum auch? Du stehst ja eh nicht auf Sex.“
„Genau. Mir geht es um die Seele, um die Berührung auf allen Ebenen. Seit meine Frau im Rollstuhl sitzt nach diesem Schlag kann ich nicht mehr mit ihr reden. Das fehlt mir.“
„Und dafür kommst Du ausgerechnet hierher, in einen Swingerclub?“
Sabrina schüttelte den Kopf und leerte ihr Sektglas auf einen Zug.
„Echt, Du bist krank, Beppo. Hier laufen nur Typen rum, die sich entweder daran aufgeilen, wenn sich ihre Frauen von anderen Typen poppen lassen oder welche, die scharf darauf sind, ihren Prügel endlich mal in eine andere Muschi zu stecken. Die Weiber dagegen sind alle schwanzgeil und eitel bis zum dorthinaus. Hier suchst Du nach Seele, nach ‚Berührungen auf allen Ebenen’?“
Er lachte leise und zwinkerte ihr zu.
„Und warum machst Du das hier? Ich meine: Ausgerechnet das hier?“
Die gutmütige Thekenkraft war für einen Moment sprachlos. Dann brach es aus ihr heraus.
„Na, nicht zum Ficken! Und ganz bestimmt nicht wegen ‚Seele’!“
Beppo setzte sich wieder auf den Barhocker und beugte sich zu der jung gebliebenen Mittvierzigerin hinüber. Sie hatte schlanke Fesseln und lange Beine, ganz so, wie er es mochte. Ihr Arsch war klein, wenig ausladend und knackig, ihre doch sehr üppigen Brüste standen mehr, als sie hingen und ihr Bauch, der aufgrund der anregenden Berufskleidung immer frei zu sehen war, gab keinen Anlass zur Beschwerde. Sicher, das jahrelange Nachtleben hatte ihr Gesicht gezeichnet, die Krähenfüße und Augenringe bedurften sicher einiger Zeit, um sie zu kaschieren, doch darauf verstand sie sich wie ein Profi und das etwas zuviel an Make Up gab ihr eine verruchte Note, die dem alten Mann gefiel. Er winkte sie heran und sie kam näher.
„Noch einen Sex-on-the-Beach?“
Er nickte.
“Wenn Du ihn mir schüttelst, immer…”
Sie seufzte und wandte sich ab. Dieser Mann war ja wirklich einer der nettesten Stammgäste, die sie hatte, aber sie fragte sich immer wieder, wie lange er sich das alles antun wollte. Wäre es nicht besser für ihn, diesen Events fernzubleiben? Musste man sich mit Achtundsiebzig noch so etwas aussetzen? Lauter junge Leute ringsherum beobachten, die meisten wohl gewachsen, vital, gebräunt, in Flitter und Samt, Lack und Leder, nächtelang durchkopulierend, schwitzend, lachend, schreiend und stöhnend? Und man selbst so weit, so unendlich weit davon entfernt?
„Beppo, warum tust Du Dir das hier an? Ich meine, warum kommst Du immer wieder her?“
„Mir gefällt’s einfach. Ich seh mir die jungen Damen an, und ihre Beschäler. Ich weide mich an der Lust in ihren Augen…“
Er lachte wie ein Jugendlicher und hob sein Glas.
„Auf die Wirtin, die Beste von allen!“
Sabrina schenkte sich einen Sekt nach und nippte einen kleinen Schluck. Sie sah zur Uhr: 23:23. Schnapszahl. Die anderen Gäste steckten in den Mottozimmern ineinander, in der einen oder anderen Konstellation. Selbst die verwaisten Soloherren, die vor Kurzem noch in der Lounge gesessen hatten, waren jetzt offenbar in die penetrativen Aktivitäten eingebunden. An der Bar herrschte Seelenruhe.
„Apropos Seele. Ruhe geb ich erst, wenn ich meine Erlöserin gefunden hab. Also die Frau, die mir zeigt, wie schön und unbefangen Sex sein kann.“
Beppo hob sein Glas und prostete Sabrina zu. Diese schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Armer, alter Narr, was tut der mir leid, dachte sie. Was bildet der sich ein, was glaubt der, was in seinem Leben noch Aufregendes passieren wird? Ein Wrack, verschlissen, ausgemustert, am Ende seiner Tage. Sieht er nicht, dass er nicht hierher passt? Muss er sich das antun, immer wieder, Monat für Monat?
Die Türglocke schlug an und riss sie aus ihren Gedanken.
„Moment, Beppo. Neue Gäste. Bin gleich wieder da.“
Er nickte und hob das Glas.
„Vielleicht kommt ja jetzt die Eine, auf die ich seit Jahren warte.“
„Sicher, Beppo.“
Sie ging zur Haupttür und blickte durch die Sichtklappe. Dort draußen stand Elisabeth Schönweger, genannt „Bonny“. Eine achtundzwanzigjährige Prostituierte, die sich ihren Club neuerdings offenbar als Arbeitsplatz auserkoren hatte. Zweimal war sie von Sabrina bereits des Hauses verwiesen worden, beide Male hatte das junge Flittchen Geschäfte mit den männlichen Gästen machen wollen.
Sabrina warf einen Blick auf die Bar und atmete tief durch. Dann öffnete sie die Tür und schob sich nach draußen. Sie trat vor die junge Nutte, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Was willst Du hier?“
Das Mädchen kaute einen Kaugummi und stemmte die Hände in die Hüfte.
„Party machen. Wie alle anderen. Mal n’ guten Schwanz zwischen die Beine kriegen und so. Oder auch zwei oder drei.“
Die jung gebliebene Betreiberin des Clubs musterte das Flittchen von unten nach oben. High-Heels, lacklederschwarz, lange, fast dürre Stelzen in Nylons, wahrscheinlich halterlos, kurzer, schwarzer Rock, enganliegend an den Jungmädchenarsch, bauchfreies Top, solariumgebräunte Haut, Spitzen-BH, darüber ein affiges Bolero-Jäckchen, auftoupierte, blauschwarze Haare, grell geschminkte Lippen und Augen. Okay, die Brüste konnten sich sehen lassen, aber ansonsten ein lebendes Klischee.
Sabrina schüttelte den Kopf.
„Nee, hier kommst Du nicht rein. Such Dir ein anderes Revier.“
Bonny spuckte ihren Kaugummi auf den Boden und blitzte die wesentlich Ältere an.
„Was soll der Stress, Mann? Warum kann ich hier nicht ficken wie jeder andere?“
Sie sprach das „ich“ mit einem Es-Zeh-Hah am Ende aus, ähnlich wie diese Kabarettistin aus Köln, die so gut die Straßensprache der Jugendlichen imitieren konnte. Sabrina hob die Hand und winkte ab.
„Aus, Mädel. Hier will Dich keiner. Hau ab, bevor ich die Bullen rufe.“
„Ey, das ist voll der Scheiß, oder? Ich hab auch ne Seele, Mann!“
„Seele?“
Die Inhaberin des Etablissements kniff die Augen zusammen.
„Sagtest Du ‚Seele’?“
Bonny war anzumerken, dass die Frage sie verwirrte. Ihre Stimme verlor jeden aggressiven Unterton und wurde merklich leiser.
„Klar Mann hab ich Seele…“
Wieder das „Isch“. Aber gut. Sabrina sah sich um. Sie blickte in Richtung Bar. Es dauerte einen Moment, bis sie eine Entscheidung traf, dann beugte sie sich zu Bonny hinunter, zog diese an den hochgekämmten Haaren zu sich heran und redete dem Mädchen zu, bis mit aufgerissenen Augen nickte und alles versprach, was die Inhaberin von ihr forderte. Anschließend gab Sabrina der jungen Nutte ein paar Scheine und ließ sie in ihren Club eintreten, lächelte leise und beobachtete von nun an, wie Beppo in dieser Nacht vor Glück schier vergehen wollte - wurde er doch über Stunden erstaunlicherweise und völlig überraschend von einer recht jungen und durchaus attraktiven Frau verwöhnt.
Und die hatte echt Seele, soll er bei späterer Gelegenheit häufig erwähnt haben.