Barfly Teil ll
„Et voilà!“, verkündet er, „'Adios Amigos'! Sehr zum Wohle, die Dame. Ich hoffe, er sagt Ihnen zu.“
Sie klatscht bedächtig und anerkennend in die Hände, wirkt sehr zufrieden, beugt sich nun ebenfalls vor und fächelt sich mit einer Hand das Aroma zu. Er hat sich wieder aufgerichtet, räumt das Bargeschirr zur Seite, spült es kurz ab, während er den späten Gast im Auge behält. Sie klemmt den dünnen Holzspieß mit der Kirsche zwischen Zeige- und Mittelfinger, was ebenfalls auf Barkunde schließen lässt, dann führt sie das Glas an die Lippen. Sie nippt zunächst vorsichtig, dann aber nimmt sie direkt einen stattlichen Schluck.
„Nichts anderes als einen perfekten Drink habe ich erwartet, und natürlich werde ich nicht enttäuscht. Großartig, verehrter Herr, er schmeckt köstlich. Hinreißend interessant. Was für eine Mischung. Kräftig und frisch-süßlich mit ordentlich Tiefgang und anhaltendem Nachklang.“
„Besten Dank, Ihr Kompliment ehrt mich sehr. Herzlich Willkommen in der ‚Abteibar‘.“
„‚Abteibar‘, da musste ich vorhin schon schmunzeln. Ich nehme nicht an, dass es sich um ein Stammlokal von Klosterbrüdern und Nonnen handelt, sondern mit dem Namen einer der Seitenstraßen hier in der Nähe zu tun hat.“
Während sie vergnügt spricht, knöpft sie sich langsam den Mantel auf, von oben beginnend. Der Cocktail schmeckt ihr, sie bleibt, stellt er sachlich fest, behält sie aber im Auge, denn sie spricht weiter.
„Jetzt wollen wir doch mal prüfen, ob Ihre Menschenkenntnis genauso gut ist, wie ihre Getränkekunde.“
„Wie meinen Sie das?“ fragt er und kommt gemessenen Schrittes um die Theke herum, bereit, ihr den Mantel abzunehmen, gerade rechtzeitig, um ihr behilflich zu sein. Natürlich atmet er an ihrem albasterweißen Hals erneut das Parfum ein, faltet den Mantel und legt ihn über die Lehne des Nachbarstuhls.
Er selbst begibt sich hinter ihren Barsessel, dreht die Sitzfläche zu ihr hin. Sie trägt ein knielanges, rotes Kleid mit kleinen schwarzen Paillettenapplikationen. Ein dezentes Dekolleté lässt eine gewisse Oberweite erahnen. Ob ein Push-up-BH ihre Brüste so auffallend in Szene setzt und vor allem: Welche Farbe ihre Wäsche auszeichnet, ist nicht zu erkennen, die Träges des Kleides auf nackten Schultern sind zu breit, als dass eine Farbe hervorlugt. Sie nimmt Platz und er wirft – selbstverständlich – einen Blick auf ihre Beine. Das Kleid ist etwas hochgerutscht, zeigt feines schwarzes Nylon. Eng liegt es an, und der Fachmann erkennt auf der Höhe ihrer Oberschenkel, sich etwas durch den dünnen Stoff drücken. Zunächst vermutet er halterlose Strümpfe, doch dann entdeckt er den Abdruck von schmalen Clips. Die Dame trägt Strapse!
Nicht zu lange verharrt sein Blick, nur einen Bruchteil einer Sekunde, er weiß um die prägnante Stelle, ist ein Kenner. Dezent tritt er einen Schritt zurück. Hat sie seinen Blick auf ihren Schenkeln gespürt? Ist ihm gedanklich gefolgt? Ahnt sie, was er entdeckt hat?
Er verrät mit keiner Miene seine Erkenntnis, sie hingegen rückt das Kleid zurecht, bedeckt ihre Knie. Die roten Pumps mit dem schmalen Riemchen sind farblich perfekt abgestimmt.
Er begibt sich zurück hinter die Theke. Wieder erhebt sie das Glas, nippt, und schaut ihm über den Rand hinweg an, studiert ihn.
„Wie ich das meine?“, setzt sie die Unterhaltung fort. „Was glauben Sie, bin ich eine Barfly, die in regenasser, dunkler Nacht die Cocktailbars dieser Stadt aufsucht, weil sie das Ambiente liebt, die Drinks, das Fachgespräch mit einem interessanten Barmann?“
„Oder?“, hakt er nach, ohne auf ihre Frage einzugehen.
„Gut pariert, Monsieur“, lacht sie. „Oder aber, was denken Sie, wer ich bin?“
Die Wendung des Abends entspannt den Barmeister nicht nur, sie erheitert ihn sogar, und so zieht er mit einem leisen Plopp den Korken aus der Rotweinflasche, einen Chianti DOCG aus der Toskana und befüllt hälftig ein bauchiges Glas.
„Wenn Sie gestatten, Madame, salute, auf den unerwarteten Wandel. Es freut mich, dass Ihnen der Cocktail zusagt und nein … ich denke nicht, dass Sie aus Hamburg sind und regelmäßig die großen Bars dieser Stadt aufsuchen. Auch denke ich nicht, dass sie eine Touristin sind. Weder eine Tages- noch Wochentouristin. Sondern dass sie aus einem ganz bestimmten Grund in Hamburg sind. Vermutlich etwas Geschäftliches. Ich denke, Sie wohnen hier in der Nähe, in einer der zahlreichen Privatpensionen. Sie kommen von einem Termin oder Abendessen und ersuchten auf dem Nachhauseweg noch spontan Einkehr. Hier in meiner Cocktailbar.“
Er hebt das Glas, prostet ihr zu, den Blick behält er in ihre Augen geheftet. Und tatsächlich, sie weiten sich, ehrliche Verblüffung zeichnet sich ab. Nun ist sie es, die ihr Glas anhebt, ihm zunickt und einen Schluck trinkt. Ein Hüsterchen erfolgt. Kein Wunder, der Drink ist stark, alkoholisch im Geschmack.
„Bravo, mein lieber Abt!“, applaudiert sie, „Sie haben es vortrefflich erkannt. Denn tatsächlich verhält es sich genauso. Das Geschäftsgespräch bei einem Essen im „Block House“ am Jungfernstieg mit Blick auf die Binnenalster war erfolgreich und der Taxifahrer ein wahrer Fan Ihrer Künste. Ich war schon ewig nicht mehr in Hamburg. Doch warum bin ich in der Stadt? Was meinen Sie? Wie schätzen Sie mich ein?“
Die Unterhaltung gefällt ihr, das ist nicht zu übersehen, denkt er und beobachtet sie. Sie sucht die Herausforderung, das Interessante, Intelligente im Gegenüber. Sie stellt das Cocktailglas zurück auf den Coaster und beugt sich vor. Die beiden Ellenbogen auf die Theke gestützt legt sie das Kinn auf den verschränkten Händen ab und blickt ihn von unten schalkhaft an.
Dass ihr Dekolleté einen Blick auf ihre Oberweite gestattet, ist ihr mit Sicherheit bewusst. Einer nonverbalen Aufforderung, der er natürlich nachkommt. Er zeigt ihr, dass er kein Kostverächter ist und enthält sich eines Kommentars. Ist ganz der Barkeeper. Statt einer Bemerkung sagt er ihr auf den Kopf zu: „Sie sind eine Künstlerin. Theater, Schauspiel, Oper, Bühne, Orchester … Darf ich bitte Ihre Hände sehen?“
Sie bleibt in der vorgebeugten Haltung, legt aber nun ihre Unterarme ab und dreht ihm die Handflächen zu. Er zögert kurz, blickt ihr in die Augen. Sie lächelt ihm aufmunternd zu, schon streichelt er mit den Fingerspitzen an ihnen entlang. Prüft die Handflächen, die Außenseiten, dann ihre Fingerkuppen. Nichts, keine Schwielen, keine Abdrücke und auch nirgends Hornhaut. Alles weiblich-weich und wohlgepflegt.
„Hm …“, sagt er nachdenklich. „Ich denke nicht, dass Sie ein Musikinstrument spielen. Zumindest nicht professionell. Oder ... halt, warten Sie.“
Er streichelt über ihre Schulter, schiebt das Haar zur Seite, fragt: „Sind Sie Rechtshänderin?“
„Ja, bin ich“, antwortet sie leise. Sachte streicht er ihr über die linke Halsseite. Sie stößt den Atem aus, ein Prickeln schießt ihr durch den Körper. Seine Fingerkuppen gleiten durch die Halsbeuge, kitzeln ihr die kleine Kuhle. Sie lässt es zu, lässt ihn gewähren.
„Nein“, sagt er schließlich und zieht die Hand zurück. „Geige spielen Sie auch nicht.“
Sie lacht und leert den Drink in einem Zug.
„Obwohl ich tatsächlich auch nur ungern die erste Geige spiele, möchte ich Sie doch um einen weiteren Drink ersuchen. Mir geht es im Moment unglaublich gut. Sie tun mir gut. Sind ein sehr interessanter Mann. Unglaublich feinfühlig.“
„Möchten sie denn bei Southern Comfort oder bei Tequila bleiben? Ein Umschwenken auf Rum, Gin, Wodka oder Whiskey würde ich jetzt nicht empfehlen.“
„Recht haben Sie. Ich bleibe dann bei Southern Comfort.“
„Eine gute Wahl. Janis Joplin lässt grüßen“, lacht er.
„Genau so ist es! Ich habe diese Frau bewundert.“
„Und Sie besitzen eine nicht minder schöne Stimme. Herrlich tief. Alt würde ich sagen. Sie sind Sängerin, stimmt’s? Waren heute beim NDR in der Rothenbaumchaussee. Zum Vorsingen.“
„Ja, das war ich! Klasse, wie gut Sie sind im Kombinieren. Aber ich war nicht zum Vorsingen, ich war im Tonstudio für eine Aufnahme.“
„Oha!“, begeistert er sich. „Was haben Sie gesungen, wenn ich fragen darf?“
„Die Zigeunerin Azucenza aus „Il Trovatore“ von Giuseppe Verdi. Allerdings singt die Azucenza Mezzosopran, ich habe ihren Part aber tatsächlich, wie Sie schon vermutet haben, in Alt gesungen.“
„Il Trovatore? Da sind doch die Ausschreibungen in der Elbphilharmonie. Das Werk soll im Herbst uraufgeführt werden.“
„Genau so ist es. Ich denke aber, dass für mich allenthalben eine Rolle und Stimme im Zigeuner- oder Nonnenchor verbleibt. Was aber auch schon mal richtig schön wäre. Riesig wäre das, oh ja!“
„Nonnenchor? Und das ist der Grund, warum Sie heute noch in der ‚Abteibar‘ landeten?“
Nah sind sie sich, sehr nah. Sehen sich tief in die Augen. So weit hat sie sich vorgebeugt, dass er erkennen kann, dass sie einen schwarzen BH trägt, dessen Rand mit feiner Seidenspitze ausgestattet ist. Fast vermutet er, es könnte auch eine Brusthebe sein.
„Ich bin ebenso wenig ein Abt, wie Sie eine Nonne sind“, sagt er leise, doch eindringlich.
„Ich bin alles andere, nur keine Nonne“, haucht sie zurück. „Und ich habe sehr wohl mitbekommen, wie Sie vorhin meine Oberschenkel gemustert, und was Sie entdeckt haben.“
„Und ich vermute, dass das, was ich sich durchdrücken sah, auch in schwarz gehalten ist, passend zu Ihrem BH.“
Noch ein letztes kleines Stückchen beugt er sich über den Tresen, begibt sich auf Zehenspitzen, und sie sich über die Theke zu ihm hin, erhebt sich leicht von ihrem Sitz. Abermals gleitet seine Hand über ihren Hals, den Nacken nun und zieht ihren Kopf zu sich heran. Weiche Lippen berühren weiche Lippen. Sinnlich ist ihr Kuss. Zart und auch neugierig. Bald darauf aber schon ein erstes vorsichtiges Knabbern mit den Zähnen an ihren Lippen, bevor ihre Zunge sich vorwagt, die seine zu suchen, ein erstes Schlängeln und Erkunden. Etwas fester wird sein Griff an ihrem Nacken, bevor seine Hand sich in ihrer Lockenpracht verwickelt. Ein minimal kleiner Ruck nur und sie stöhnt auf. Hat sie genau diese Geste von ihm erwartet, gar gebraucht?
Doch dann entlässt er sie aus seinem Kuss, richtet sich auf, auch sie nimmt wieder Haltung an, setzt sich aufrecht hin und lächelt ihn an.
„Ich empfehle einen ‚Southern Sling‘“, überrascht er sie nach dieser soeben erlebten Attacke. „Der wird jetzt passend sein.“
„Sling …“, gibt sie nachdenklich zurück. „Klingt interessant.“
Und schon fordert er sie weiter mit der nächsten Frage, lässt sie kaum zu Atem kommen.
„Und der Troubadour war nicht das Einzige, was Sie heute beim NDR aufgenommen haben, nicht wahr?“
„Nein, war es nicht, ganz Recht vermutet.“
„Was war es, wenn die Neugierde gestattet ist.“
Die Dame zögert kurz, eine leichte Röte steigt ihr in die Wangen, sie blickt nach unten, betrachtet sich das fein gemaserte Holz, dann aber hebt sie doch den Kopf, und sagt entschlossen:
„Non, je ne regette rien. “
„Edith Piaf?“, fragte er verdutzt. Natürlich ist diese Frage überflüssig, und tatsächlich antwortetet sie nicht, sondern nickt nur. Fügt dann aber bei:
„Und ich sag Ihnen etwas: Es war der glücklichste Moment in meinem Leben. Später, als ich in dem schalldichten Raum aus den Speziallautsprechern die Aufnahme abhören durfte. Sowas von schön! Mir kamen die Tränen, so ergriffen war ich. Was für ein Moment. Ich werde ihn nicht mehr vergessen.“
„Ja“, sagt er, kann es so gut nachempfinden, was sie gefühlt hatte. „Und soll ich Ihnen noch etwas verraten?“, fragt sie nach einer kleinen Weile des Schweigens.
„Ja, bitte.“
„Der Auftritt und das spätere Abhören löste etwas in mir aus. Ich spürte plötzlich, wie erregt ich war. Ja, ganz ehrlich. Ich wusste da schon, dass ich mir später, nach dem Essen mit dem Produzenten, noch einen starken Cocktail gönnen würde. Irgendwo. Nur für mich. Und dann traf ich Sie. Hier. Und dass wir ganz allein sind, mindert das Prickeln nicht wirklich.“
Abermals errötet sie leicht.
„Auch ich fühle mich überaus wohl in Ihrer Gegenwart“, gibt er zu, fügt dann aber bei:
„Würden Sie mir einen Gefallen tun?“
„Kommt darauf an“, gibt sie zweideutig zurück.
© Walhorn, Juli 2017