Barfly
BarflyEs ist weit nach Mitternacht an jenem Dienstagabend, als die alte Hansestadt im Dauerregen zu überschwemmen droht. Knapp eine halbe Stunde ist es her, dass die letzten Gäste das Lokal verlassen haben. Längst sind die Gläser gespült und poliert, der Deckenventilator mit den Holzflügeln auf kleinste Stufe gestellt. Musiktechnisch hat der Barchef die letzte Stunde von „Temptations“ über James Brown zu “Rare Earth“ gewechselt. Nicht nur die Cocktailbar, auch sein innerer Impuls weisen eindeutig auf Feierabend hin. Selbstverständlich widersteht er der Verlockung, einfach die Eingangstür abzuschließen, die Außenreklame zu löschen und den Abend für beendet zu erklären. Stattdessen legt er Marla Glen auf. Seit er die begnadete Soulsängerin in der Musikhalle gesehen und vor allem: gehört hatte, war „Beliver“ sein absoluter Lieblingssong. Der Barmann dimmt den hinteren Bereich des Lokals auf Minimalbeleuchtung. Die kleinen runden Marmortische, die gepolsterten Lehnstühle und auch die lederüberzogenen schwarzen Bänke verschwinden im Halbdunkel. Auch das Thekenlicht fährt er herunter. Angenehm ist ihm die Atmosphäre nun. So liebt er es, so führt er sein eigenes Lokal seit zwölfeinhalb Jahren. Verträumt fährt er über die glatte, dunkle Edelholztheke und lauscht Marlas unverwechselbarer Stimme. Noch in der Musikhalle hatte er sich die neue CD der Sängerin gekauft.
Und doch bekommt er es mit. Kein Geräusch entgeht seinem geschulten Gehör. Seine Sinne sind geschärft, besonders jetzt, wenn er alleine in der Bar ist. Jemand ist die drei Stufen der Eingangstreppe heraufgekommen und verweilt jetzt vor der Tür im Eingangsbereich. Von daher tippt er auf einen Spätgast, der zum ersten Mal seine Bar besucht. Ein Stammkunde wäre schnurstracks herein gekommen. Stattdessen wird ein Regenschirm mehrfach auf- und zugeklappt. Er hebt den Kopf, blickt ins Halbdunkel, vernimmt scharrende Geräusche. Doch nichts geschieht. Dienstagabend, ruft er sich ins Gedächtnis und ein kurzes Grinsen huscht über seine Lippen. Schon oft hat just dieser Wochentag ihm die sonderbarsten Überraschungsgäste serviert. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Late Night-Heimkehrer noch auf einen Absacker bei ihm Station machen. So verwundert es ihn nicht, denn zum einen hängt ein Auszug aus der umfangreichen Cocktailkarte im Eingangsfoyer, beleuchtet und hinter Glas, zum anderen befinden sich einige recht noble Pensionen in der näheren, fußläufigen Umgebung, die gern von Wochenendtouristen gebucht werden. Dezent liegen seine kleinen Werbeprospekte an den Rezeptionen aus und die Betreiber empfehlen die Cocktailbar auf die Frage hin, wo man denn in der Gegend gemütlich etwas trinken könne. Auch zur späten Stunde noch.
Die Lage, die er sich damals ausgesucht hatte, war für ihn optimal. Harvesterhude im Bezirk Eimsbüttel. Einige der schönsten Straßen Hamburgs mit ihren wundervollen Altbauhäusern aus der Gründerzeit münden in den Klosterstern-Kreisel. So die Straßen Harvesterhuder Weg, Rotenbaumchaussee, Eppendorfer Baum, Jungfrauental, Oderfelderstraße, die hin zum nahegelegenen Isebekkanal führt mit seinen Bootsanlegern, und die St. Benediktstraße. Und für den Mann hinter der Theke ganz wichtig: Mit einem der schönsten U-Bahnhöfe der Hafenmetropole. Der U-Bahnhof Klosterstern steht unter Denkmalschutz, ist er doch einer der wenigen erhaltenen Orginalbauten der Vorkriegsjahre. Er liebt genau diesen Bahnhof. Schon immer tat er dies. Genau wie er diese Gegend liebt. Dass es noch ein paar Jahre gedauert hatte, bis er seine erste Cocktailbar eröffnete, hatte verschiedene Gründe, das Entscheidende aber war, dass er die perfekte Lage im Visier hatte. Und die war für ihn am Klosterstern.
Geistesgegenwärtig hat er das Licht im hinteren Bereich der Bar wieder ein wenig hochgefahren, sodass er nun einerseits sehen kann, wer die Bar betritt, und andererseits der Besucher nicht völlig im Halbdunkel steht. Langsam öffnet sich die Tür und herein tritt … eine Frau. Soviel kann er sofort erkennen. Sie trägt einen schwarzen Mantel und einen flachen, breitkrempigen Hut. Etwas unschlüssig schaut sie in das leere Lokal, auf sein freundliches: „Guten Abend!“ hin schiebt sie den nassen Regenschirm in die vorgesehene Ablage links neben der Tür. Entschlossen, aber ohne Eile kommt sie auf ihn zu.
„Ich nehme an, die Bar ist noch geöffnet, zumal wenn Marla Glen läuft?“, fragt sie und blickt ihm lächelnd in die Augen.
„Selbstverständlich, meine Dame“, entgegnet er, „eine Musikkennerin ist mir immer herzlich willkommen, die Uhrzeit spielt da keine Rolle.“
Unter ihrem Hut wallt langes, blondes Haar hervor. Rotgeschminkt die Lippen. Er macht Anstalten die Theke zu verlassen und fragt, ob er ihr aus dem Mantel helfen dürfe. Sie verneint und fügt hinzu, dass sie den Mantel anbehalten möchte, bis sie den ersten Schluck eines Cocktails genommen hätte und dieser ihr zusagt. Falls nicht, würde sie auf der Stelle kehrt machen. Der Barmann schaut überrascht, ein solches Statement ist ihm in seiner Laufbahn zur Begrüßung noch nicht untergekommen.
„Haben Sie einen bestimmten Wunsch?“, fragt er vorsichtshalber nach.
„Oh ja, den habe ich“, nickt sie, „draußen im Foyer fiel mir der Name „Adios Amigos“ auf. Eine Kreation bestehend aus Southern Comfort, Tequila und Rose´s Lime Juice, erscheint mir verwegen genug für einen Late Night Drink.“
„Überaus verwegen, wohl wahr“, begibt er sich ebenfalls in die von ihr eröffnete Sprache, die eine Künstlerin vermuten lässt, zumindest jemanden, der die deutsche Sprache und die Poesie liebt. Nicht wenige seiner Stammgäste bedienen sich des gebräuchlichen „Moin Moin“, oder eines einfachen „Hallo!“ Sie hingegen eröffnet eine anregende und vielversprechende Kommunikation. So zögert er nicht hinzuzufügen: „Das Wagnis gehe ich gerne ein, Ihnen einen „Adios Amigos“ zu mixen. Eine treffliche Wahl, die Fachkenntnis vermuten lässt. Bitte, nehmen Sie Platz.“
Er weist mit einer ausholenden Geste über die gepolsterten Drehstühle vor der Theke. Immerhin, die Dame streift sich mit geübten Bewegungen die schwarzen Handschuhe ab und platziert sie auf der Mahagoniholztheke ein wenig links, von ihm aus gesehen. Sofort fallen ihm ihre rot lackierten, gepflegten Fingernägel auf. Fast sinnlich streicht sie mit einer Hand über die chamoisfarbene Rückenlehne des Barsessels.
„Feinstes Leder“, befindet sie. Ihre Stimme ist angenehm. Sehr angenehm sogar. Ein feines dunkles Timbre, in dem ein Hauch von Rauch oder Whisky mitschwingt.
Er zollt ihrer Bewunderung Respekt, indem er sich angedeutet verneigt, verkneift sich aber eine Antwort. Stattdessen betrachtet er sie nun genauer. Unter dem Thekenlicht wirft der Hut zwar noch einen Schatten auf ihr Gesicht, doch kann er erkennen, dass ein Paar äußerst wache, hellblaue Augen ihn studieren. Die Nase ist schmal und die Wangenknochen hoch und ausgeprägt. Ein kleines Muttermahl ziert seitlich ihre Oberlippe. Die Figur kann man durchaus als schlank bezeichnen, wenngleich nicht gertenschlank. Wie alt mag sie sein? 40, 45?
Ihr Blick wirkt eine Spur herausfordernd. Sie ist sich ihres Auftritts bewusst und zelebriert ihn auf gewisse Weise, eine Aufführung, die den Barmann weder aus der Reserve lockt noch provoziert. Er ist der Profi und kennt die Zeitspanne, die ein taxierender Blick andauern darf, ohne aufdringlich zu werden, und angemessen beginnt er mit seiner Arbeit, der Herstellung ihres bestellten Drinks. Zunächst aber platziert er vor ihr auf der Theke einen Coaster, eine kleine quadratische Zellstoff-Serviette, die sein Barlogo trägt, gleichzeitig füllt er drei große Eiswürfel in ein langstieliges Martiniglas, kühlt es vor. Das leise, feine Klackern ist dennoch gut hörbar, ein Geräusch, das nicht nur er zu lieben scheint, auch auf die Lippen der Dame legt sich ein Lächeln. Sie wirkt mit dem Beginn der Prozedur zufrieden, sieht sich angekommen und lüftet als Zeichen ihres Wohlbefindens den Hut. Selbstverständlich unterbricht der Experte seine Arbeit nicht, sondern nimmt sich den Edelstahlbecher des Boston Shakers zu Hand. Vier weitere Eiswürfel folgen, different jetzt das Geräusch. Hartes Eis auf Metall. Viermal kurz hintereinander. Beeindruckt von der Professionalität des Barkeepers legt die Dame den Hut neben den Handschuhen ab und unternimmt etwas, das den Blick des Mannes auf sie lenkt. Sie legt die Hände in den Nacken und richtet sich dezent die Haarpracht, lässt sie über die Schultern wallen. Dass in dem Moment ihr Parfum in seine Nase steigt, ist wohlkalkulierte Absicht. Er schenkt ihr ein verschmitztes Lächeln, zieht eine Flasche aus dem gläsernen Rückbuffet, hält sie ihr entgegen und sagt mit leiser, doch fester Stimme:
„Southern Comfort. Ein überaus passender Whiskeylikör für eine Dame Ihres Formats.“
Sie bedankt sich für das Kompliment, Ihr Blick nun von offener Neugierde geprägt. Er scheint Eindruck auf sie zu machen. Den Mantel indes behält sie wie angekündigt an, auch setzt sie sich noch nicht, rückt aber zwischen zwei Barhockern dicht an die Theke heran. Mit lässiger Bewegung legt sie die dunkle, schmale Handtasche auf einem der Sitze ab.
Seine Bewegungen sind geübt und routiniert sicher. Schon fließen durch den schmalen Ausgießer exakt 3 cl in den Jigger und aus dem Handgelenk sicher in den Shaker.
„Tequila!“, er offeriert ihr als nächstes eine schwere, dunkelbraune Flasche. „Natürlich nicht irgendeiner, sondern 100 Prozent blaue Agave. Sie blüht nur einmal in sieben Jahren, und darf erst danach geerntet und der Destillation zugeführt werden.“
Sie nickt anerkennend, scheint das Qualitätsmerkmal des braunen Tequilas zu kennen und würdigt es, indem sie kurz die roten Lippen schürzt. Eine süße, fast mädchenhafte Geste, wie er findet. „Ebenfalls 3 cl.“
Das Eingießen erfolgt mit einer schnellen Handbewegung nach oben, gezielter Strahl in den Jigger und dann in den Mixbecher.
„Nun noch der Lime Juice und dann …“
„Stirr it up!“, ergänzt sie den Satz.
„Respekt!“, bekundet er und ist ehrlich überrascht. Zu wissen, dass dieser Cocktail gerührt und nicht geschüttelt wird, ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit.
„Kein Saft, kein Sirup, keine Sahne“, erklärt sie, „also auch kein Schütteln.“
„Ganz genau“, nickt er anerkennend und nimmt sich den Stirrer zur Hand. Mit flinken Fingern rührt er die Flüssigkeiten und sorgt dafür, dass diese durch die Eiswürfel reichlich gekühlt werden. Schnell beschlägt der Edelstahl, ihm wird die Hand kalt.
Sodann schüttet er die Eiswürfel aus dem Martiniglas und stellt es auf den Coaster. Beschlagen ist jetzt auch das Glas, ein einziger kleiner Tropfen perlt hinab.
Er legt den breiten Strainer auf den Mixbecher, beugt sich vor, legt die freie Hand hinter den Rücken und füllt den Cocktail in das Glas. Rasch piekt er eine pralle Cocktailkirsche auf und führt sie in den Drink hinein.
„Et voilà!“, verkündet er, „Adios Amigos! Sehr zum Wohle, die Dame. Ich hoffe, er sagt Ihnen zu.“
© Walhorn, Juli 2017