Long John Silver Realität
**********ripes:
Etwas allgemeiner kann man das Nicht-Antworten durchaus als Gewalt bezeichnen, als einen, wenn auch vergleichsweise soften Ausdruck der Verrohung im Internet.
Und wenn man spezifisch auf die Mail einer Frau nicht antwortet ist das sicher "Gewalt gegen Frauen", die dann z.B. #MeToo Hashtags provoziert? So schnell wird man zum Gewalttäter, Junge Junge!
Bewegen wir uns etwas weg vom Internet (das ja, so die These, die Wiege der anonymisierten Rücksichtslosigkeit ist): eine Frau läuft auf der anderen Straßenseite und ruft laut (dabei heftig winkend) "Hallo schöner Mann!". Natürlich ist es eine Frage von Respekt, Niveau und eigenem Anspruch, daß man darauf unbedingt antwortet? Zurückwinken und laut zurückrufen, Minimum!? Niveau und Anspruch, nun gut, die könnten etwas leiden dabei ... .
Oder konkreter, persönlicher: man sitzt in einem Lokal und eine atemberaubend schöne Frau steckt einem verschwörerisch zwinkernd einen Zettel mit ihrer Telefonnummer zu. Diese nicht anzurufen wäre also echte Gewalt, selbst wenn man verheiratet ist (natürlich entwickelt sich jetzt ein unauflösbarer Interessenkonflikt, denn nicht anzurufen wäre Gewalt, freundlich zurückzurufen und zu erläutern, daß man verheiratet ist brüskiert vielleicht die Ehefrau)?
Oder noch persönlicher: eine Frau (häufig sogar gleich zwei) klingelt an der Haustür, schließlich hat man ein Namensschild, und sagt freundlich "Guten Tag, wir sollten über Gott reden." - will man aber gerade nicht. Ein höflich gemurmeltes "Nein Danke" kann man kaum verwehren, aber nur, weil man sonst die Tür nicht mehr schließen kann. Auf jeden Fall muss man aber zuvor die Tür aufmachen, sonst ist man gewalttätig? Ich denke: genau das Gegenteil.
Oder noch besser: ein Telefonaufruf von einer Frau, die Firma XYZ hat ein unschlagbar günstiges, personalisiertes Angebot. Wie: man möchte nicht? Telefonwerbung fände man doof? Das schützt vor nichts! Auflegen ohne höfliches "Nein Danke!" ist Gewalt? Nach meinem Eindruck geht Gewalt dabei ganz von der anderen Seite aus.
Kauft man eine Wohnung auch immer direkt mit einem Telefonanschluss und gelobt mit der Unterschrift unter den Mietvertrag, daß man dieses Telefon täglich nutzen und bedienen, hegen und pflegen will? Gibt es überhaupt eine Verpflichtung, beim Klingeln ans Telefon zu gehen und jede SMS zu beantworten? Analoge Fragen seien für die analoge Welt der Snail-Mail Anhänger und Briefkastenfreunde erlaubt. Zwingt jeder Brief zur gleichsam automatischen portopflichtigen Rückantwort?
Wenn man keine Türklingel hat, keine Einladungen verschickt, sich keine Internetprofile wählt und die Telefonnummer ist geheim: reicht das nicht, um zu signalisieren, daß man keine Kontakte wünscht?
Die Liste lässt sich unendlich fortsetzen: Zwang zur Antwort auf ein ungefragtes Kompliment - obwohl man schüchtern ist, eine Flasche mit der Aufschrift "trink mich!" die unaufgefordert vor der Haustür steht leert man auch nicht zwingend in einem Zug, etc.
So komme ich letztlich zu dem Schluss, daß der Vergleich mit der vermeintlich gewaltfreien, antwortfreundlichen Offline-Realität einer mit einem ausgesprochen morschen Holzbein ist, so standsicher wie ein sternhagelvoller Pirat und daß der Gewaltvergleich an sich (auch wenn er nur eine softe Verrohung unterstellt, was immer das sein mag) ein sehr großes, in meinen Augen zu großes, Rad ist, das da gedreht werden soll.