Ich würde hier gerne so viel schreiben, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll.
Erstmal habe ich bei dieser Diskussion immer den Eindruck, Männer und Frauen können da einander mitunter schlicht überhaupt nicht verstehen, da sie in der Hinsicht in zwei völlig unterschiedlichen Welten Leben.
Als Frau in einer Welt, in der ständig jemand mit ihr schlafen will, sie ständig sexualisiert wirst, sie körperlich ständig unterlegen ist und darauf vertrauen muss, dass ihr kein Mann etwas Böses will da sie sonst ziemlich schutzlos wäre. Im Job gibts dann zudem die Erwartung, professionell zu sein, aber eventuell hat man halt einen Chef, der es selbst nicht auf die Reihe kriegt, aufgrund seiner Position aber unantastbar ist.
Als Mann ist die Situation ja eher das Gegenteil. Sexualisiert wird man praktisch nie und Mann ist froh, ein bisschen Aufmerksamkeit zu bekommen. Die körperliche Überlegenheit registriert man gar nicht mehr als Faktor, da man als normaler Mann gar nicht dran denkt, sie einzusetzen. Im sexuellen Bereich exisitiert die Erwartung, alle Schritte einzuleiten, souverän flirten zu können und Risiken einzugehen, gleichzeitig aber unbedingt die Grenzen zu wahren. Im Job ist sexuelle Belästigung praktisch nie ein Problem, da überhaupt nur etwas passiert, wenn man selbst aktiv wird.
Aufgrund der Differenzen bringt beispielsweise der Appell an die Empathie überhaupt nichts. "Überlege, ob du es selbst erfahren willst" ist da so ziemlich der schlechteste Ratschlag, dem man einem Mann geben kann. Natürlich wünsche ich mir, dass mir meine Kollegin mal auf den Arsch haut, mit ein Nacktbild schickt, ein paar anzügliche Kommentare macht, etc. Das wäre doch ein Traum. viele Männer zahlen Geld für sowas. Würde ich rein empathisch handeln müsste ich also gleich morgen Schwanzbilder machen und an alle attraktiven Bekannten schicken. Ist aber klar, dass die Erwartungen da anders liegen.
Ich als Mann bin ja froh, wenn mit jemand ein irgendwie geartetes Kompliment macht. Im Urlaub hat mich ein Typ in der Sauna auch angebaggert, Arme, Schulter und Beine betatscht und ist immer näher gerückt. Objektiv sexuelle Belästigung, subjektiv gedacht "Bisschen komisch, aber eigentlich schönes Kompliment. Top." und mit einem Grinsen von Dannen gezogen.
Am Arbeitsplatz ist die Situation halt recht eindeutig. Auf gleicher Eben (unter Kollegen) gelten die gleichen Regeln wie im Privatleben. Der Chef hat sich keinem Mitarbeiter/keiner Mitarbeiterin anzunähern, da hier nunmal ein Machtgefälle besteht und die Mitarbeiter sich in einem Abhängigkeitsverhältnis vom zum Vorgesetzten befinden. Und jemanden von dem man abhängig ist die Meinung zu geigen und "nein" zu sagen ist nunmal schwerer und kann Konsequenzen nach sich ziehen. Auf gleicher Ebene ist das nicht der Fall.
Im Privatleben gibt es eben das Problem, dass niemand weiß, wo die Grenze des anderen verläuft. den Arm um die Schulter legen kann je nach Situation genau das richtige sein, es kann aber auch als sexuelle Belästigung aufgenommen werden. Ein Spruch über die Kleidung in Verbindung mit einem Augenzwinkern kann als sexuell übergriffig empfunden werden, kann aber auch Glücksgefühle auslösen wenn beiderseits Interesse besteht.
Hier ist der Mann eben in der blöden Situation, immer den ersten Schritt machen und Stimmungen sowie eigene Chancen abschätzen zu müssen. Frau ist in der blöden Situation, dass Männer halt keine Gedanken lesen können und es oftmals einfach drauf anlegen müssen und sie das Ausbaden muss. Und sich zusätzlich halt noch mit den absichtlich-verletzenden und erniedrigenden Kommentaren rumschlagen muss.
Natürlich gibt es eine Vielzahl von Dingen, die schlicht nicht gehen und nicht als Flirtversuch durchgehen. Jemandem an den hintern fassen ist unter keinen Umständen eine normale Form der Kontaktaufnahme und immer übergriffig. Diese Dinge will ich nicht entschuldigen und da würde ich auch widersprechen, wenn jemand das als "Flirtversuch" rechtfertigt oder die Frau hier als "humorlos", "prüde" oder sonstiges darstellt. Die Männer die diese Dinge tun werden auch mit noch so vielen Kampagnen nicht zu erreichen sein, ähnlich wie ein Tierquäler vermutlich nicht von einem PETA-Stand in der Fußgängerzone erleuchtet wird. Es ist ihm schlicht scheißegal und es geht um die Befriedigung von niederen Trieben.
Wenn ich also etwas über sexuelle Belästigung lese, dann sehe ich mich in meiner Rolle als Mann und werde nervös, da ich nicht mehr verstehe, wann etwas erlaubt ist, wann nicht und was jetzt normaler und erwünschter Körperkontakt ist und was übergriffig ist. Da ich ohnehin schüchtern bin flirte ich da als Konsequenz gar nicht mehr, da ich schlicht keine Möglichkeit habe zu wissen, wo jetzt genau die Grenze des Gegenübers verläuft.
Wenn meine Freundin etwas über sexuelle Belästigung liest denkt sie an die Situationen zurück, in denen sie begrapscht, von Kollegen erniedrigt wurde oder sich ein Erwachsener Mann entblößt hat während sie noch ein Kind war.
Die zwei grundlegend unterschiedlichen Brillen machen es sehr schwer, eine Diskussion zu führen und einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Was letztlich wichtig ist ist, dass Grenzen akzeptiert werden. Überschritten werden sie so oder so. Es gibt ein Zitat, "Das Missverständnis ist die häufigste Form der menschlichen Kommunikation" oder so etwas ähnliches. Grenzüberschreitendes Verhalten wird sich nicht verhindern lassen und es muss nicht böse gemeint sein. Aber man kann (und muss) ein eventuell folgendes "Nein" als solches akzeptieren. Inakzeptabel wird es, wenn das nicht geschieht, und ein offensichtlich unerwünschtes und als übergriffig empfundenes Verhalten weiter beibehalten und irgendwie gerechtfertigt oder das Empfinden des Gegenübers abgewertet wird.