Sinnfrage
Wer als intersexueller Mensch, als Inter, geboren wird, der hatte bisher trotzdem (und wird ihn auch in Zukunft haben) einen bestimmten eher männlichen oder weiblichen Phänotyp (ein spezifisches Aussehen). Anatomisch erscheint z. B. ein Inter, der vom Ulrich-Turner-Syndrom betroffen ist (Geschlechtschromosomenkonfiguration X0) wie ein Mädchen, ein vom Klinefelter-Syndrom betroffener Inter (Geschlechtschromosomenkonfiguration XXY) wie ein Junge (daneben gibt es eine Anzahl weiterer, weitaus seltenerer Konfigurationen, das macht die Gruppe "Inter" so inhomogen, doch fast immer ist der Phänotyp eher weiblich oder eher männlich, bis die Geschlechtsreife beginnt).
Mit der Geschlechtsreife fehlt häufig eine normale Hormonproduktion mit der Folge einer ausbleibenden Ausbildung der typischen Geschlechtsmerkmale (Bartwuchs, Gonadenwachstum und Stimmveränderung beim Mann, Brustwachstum und Zyklus bei der Frau, etc.). Oft wird sogar erst zu diesem Zeitpunkt erstmals ärztliche Hilfe in Anspruch genommen, die dann durch weitere Diagnostik den Inter-Status aufdeckt, i.e. bis dahin fand eine "normale" Sozialisation als Junge oder als Mädchen statt. Der Betroffene wird von der Diagnose oft selbst überrascht.
Die Tatsache, daß viele Menschen (auch hier im Forum) die Zahl der Inter-Geborenen erstaunt zeigt, daß der Phänotypus höchstselten z. B. bei Präsentation der Genitalien einiger weniger Betroffener in der Öffentlichkeit (Umkleidekabine) aber in aller Regel selbst dann nicht sichtbar wird. Nur einem Mediziner wird ein Pterygium Colli einer Frau mit Turner-Syndrom überhaupt auffallen. Inter bleiben von der Öffentlichkeit unbemerkt. Es gibt dagegen sicher viel häufiger Menschen, die sich in androgyner Selbstdarstellung gefallen, (das auch sehr erfolgreich, man denke an Tilda Swinton oder David Bowie) aber gar kein Inter sind und trotzdem mehr auffallen, als ein Inter das im Alltag tut.
Inter bleiben in aller Regel unfruchtbar (es gibt u.U. die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung aus Hodenbiopsaten z. B. bei Klinefelter-Trägern) oder haben dadurch und (sehr viel seltener) durch veränderte Sexualorgane vielleicht selten Probleme mit Sexualität und Partnerwahl, eher mit "normaler" Beziehung, so weit es Nachwuchs betrifft. Andererseits ist die ansonsten ausbleibenden Pubertät hormonell ersetz- und steuerbar, zumindest zur Ausbildung eines Phänotypus als Mann oder Frau und hat durchaus medizinische, vor allem aber auch soziale und den Selbstwert betreffende Vorteile, denn wir erkennen: der Andersartige wird in jeder Gesellschaft ausgegrenzt.
Diese Hintergründe kennend hat mich vor allem die Klage (weniger das Urteil) zur offiziellen Anerkennung eines dritten "Inter"-Geschlechtes sehr überrascht. Welchen Sinn hat diese Anerkennung für die Betroffenen, außer, dass sie damit auf ihre spezifische Situation individuell tagtäglich aufmerksam machen können (wobei ich aber glaube, dass die wenigsten Inter das überhaupt wollen)? Die genetische Normvariante selbst ist nicht veränderbar oder behandelbar, die phänotypische Ausprägung zu Mann oder Frau oder auch (wenn gewünscht) zu einem körperlichen Zwischenstatus (welcher soll das sein?) sehr wohl medizinisch steuerbar, die Behandlungskosten werden anstandslos übernommen.
Welche spezifischen Rechte oder Rücksichtnahmen, die man dem Betroffenen mit dem offiziellen Status "Inter" einräumen könnte, ergeben sich aus der Klage oder sind überhaupt erforderlich? Eine spezielle Umkleide oder ein Toilettenraum in der Sporthalle (das, wo wir zu Recht in vielen Bereichen bereits Unisextoiletten haben)? Steuervorteile (spezifische Erkrankungen von manchen Inter, Herzfehler, etc., werden problemlos anerkannt)? Ein großes Schild (oder eine selbstgewählte Armbinde mit einem speziellen Symbol) oder ein Passmerkmal oder (wie einige Hyperaufgeklärte das schon wieder fordern) ein eigenes Personalpronomen oder Sprachmuster, auf dem "Inter" steht? Braucht es das?
Werden Inter diskriminiert, bekommen sie keine Lehrstelle wie Mädchen im KfZ-Handwerk, werden sie im Sprachgebrauch gegen ihren Willen falsch angesprochen, mehr, als ein Homosexueller oder jemand, der sich im falschen Körper fühlt?
Was nützt der Status "Inter" in einem Behördenformular? Verändert das den Umgang mit dem Betroffenen? Ich meine nein, es erschwert ihn künstlich und bauscht ein Problem auf, wo bislang keines war.