Dürfen Veganer Sperma schlucken
Wenn man also die Eingangsfrage dieses threads tatsächlich ernst nehmen soll (was mir persönlich immer noch widerstrebt), dann muss man sehr weit ausholen, um zu einer halbwegs rationalen Antwort zu kommen, fürchte ich.
"Dürfen", dieses verkürzenden und deshalb vielleicht etwas unglücklich gewählte Wort wurde hier schon thematisiert. Veganer "dürfen" alles, es gibt keine (gar gesetzlichen) Regelungen, die Veganern verbieten, bestimmte Dinge zu tun. Besser hätte man vielleicht formuliert: "Werden Veganer ihrem selbstgestellten Enährungsanspruch gerecht, wenn sie Sperma schlucken?" was zur nächsten Teilfrage führt.
Gibt es einen holistischen, allumfassenden Moral- oder Ernährungsanspruch, der von allen Vegangern akzeptiert und geteilt wird? Sind "die Veganer" eine homogene Entität? Ich meine: nein, denn schon die angeführten Gründe, sich vegan zu ernähren sind durchaus vielfältig.
Man kann sich vegan ernähren, weil man ganz egoistisch persönliche gesundheitliche Faktoren berücksichtigen will. Vegane Ernährung ist in der Regel ballaststoffreicher, schadstoffärmer, fettärmer, die Lebensmittel sind weniger stark verarbeitet, etc. - aber auch das muss nicht so sein. Auf den Trendzug "vegan" aufspringend erzeugt die Lebensmittelindustrie mittlerweile durchaus seltsame Produkte, vegan, aber von Seiten der Grundstoffe zum Teil stark modifiziert. Rohstoffe aus Bakterienkulturen ("echte" Veganer werden zu Recht kritisieren, ob das noch wirklich nicht-tierische Produkte sind), Zusatzsstoffe für bestimmte Texturen und Eigenschaften - und fertig ist die vegane Tofuwurst, die auch der Verbrauchererwartung "Wurst" entsprechen soll. In meinen Augen ist so etwas unsinnig und konterkariert andere vegane Grundsätze, aber auch dafür wird das Label "vegan" reklamiert.
Man kann die vegane Ernährung damit begründen, dass Menschen evolutionär nicht für den Verzehr von Fleisch gemacht und gedacht wären. Ein Streitpunkt, der nur schwer aufzuklären ist, kennen wir doch keinen tieferen Sinn hinter den Mysterien der Evolution (wenn es den überhaupt gibt). Sicher ist aber nicht zu bestreiten, dass Raubtiere und Konsumenten konzentriert energiereicher Nahrung wie Fleisch mittelfristig einen Evolutionsvorteil haben: ein proportional großes, komplexes Gehirn hat einen höheren Energiebedarf, der mit rein pflanzlicher, energieärmerer Ernährung nicht gut gedeckt werden kann. Ob der Mensch die Gabe des komplexen Gehirns allerdings tatsächlich nutzt und zu würdigen weiß, sei jetzt einmal dahingestellt.
Man kann sich vergan ernähren, weil man andere Kreaturen nicht für die eigene Ernährung leiden lassen will. Ein moralischer Grundsatz, der mir zunächst sehr gut gefällt. Dann aber müsste ich meinem moralischen Anspruch noch mehr Rechnung tragen und auch andere zivilisatorische Katastrophen, die äquivalente Auswirkungen haben, in gleicher Weise würdigen und durch meine Lebensweise in gleicher Weise berücksichtigen. Wir beschränken den Lebensraum von Wildtieren durch fast alles, was wir tun. Sind wir bereit, sind Veganer bereit, auch da zurückzustehen, womöglich bis zu stärksten Einschränkungen wie Geburtenkontrolle? Ich fürchte nein, darum erscheint mir isoliert vegane Lebensweise gelegentlich etwas blauäugig und nicht durchdacht, nach dem Motto "mein Gewissen ist beruhigt, ich esse kein Fleisch und fahre ja nur mit dem Bus" - warum fährt man überhaupt und geht nicht zu Fuß? Kann man den selbsterhobenen moralischen Überlegenheitsanspruch so tatsächlich rechtfertigen?
Man kann sich vegan ernähren, weil man die industrielle Produktion von Fleisch und deren Gefahren und Auswirkungen nicht mittragen will. Ich stimme zu. Massentierhaltung ist ekelhaft. Der Grund für diese Art der Produktion tierischer Nahrungsmittel ist aber ein weitaus tiefgreifenderer als die bloße Lust aller Menschen auf ein Stück Fleisch. Fleisch kauft der Verbraucher längst nicht mehr für den Wert, der eigentlich in Rechnung zu stellen wäre. Menschen kamen mit Fleisch als konzentriert energiereicher Nahrung in Berührung über die Jagd, sie mussten für die Fleischgewinnung ihr Leben einsetzen. Das ist mit dem folierten Schnitzel für ein paar Cent im Supermarkt doch längst nicht mehr so, entsprechend beklagenswert ist die Art des Umganges mit den ehemaligen Jagdtieren. Fleisch müsste sündhaft teuer sein, alles andere regelte der Markt. Warum das nicht so ist, ist ein Politikum, über das zu diskutieren die Forenpolicy hier zu Recht Einschränkungen erlegt.
Es gibt sicher noch viele andere Gründe, warum man sich als "Veganer" bezeichnen will. Unbestreitbar aber sind diese Gründe doch vielfältig und inhomogen. "Den Veganer" gibt es gar nicht.
Sind Spermien ein Tierprodukt? Menschen sind unbestreibar Teile der Fauna und als solches ist menschliches Sperma zunächst unbestreitbar ein Tierprodukt. Je nachdem, welche Motivation man hat, Vegetarier zu sein, kann man sich dann fragen, ob zu dessen Produktion ein Tier gequält wurde (wenn der Spermaproduzent in die Kategorie "Schnitzelesser" gehört zumindest mittelbar), was sonst mit dem Sperma geschähe, z. B. ob es auch ohne Zutun des Vegetariers produziert würde (die Antwort darauf mag sicher sehr unterschiedlich ausfallen) oder welche Inhaltsstoffe, Nährwerte, Ballaststoffanteile, etc. Sperma hat (erfordert eine Abhandlung im Doktorarbeitsformat).
Schluckt überhaupt jeder Sperma? Das weiter zu beleuchten überlasse ich den unzähligen hier archivierten threads.
Da Antworten auf diese Fragen aber alle sehr unterschiedlich ausfallen ist die mögliche nüchterne Antwort auf die Eingangsfrage des TE nicht einheitlich und kann nur lauten: "Dürfen immer, je nach eigenem Anspruch (und um diesem gerecht zu werden) sollten und würden diese oder jene (genauer zu spezifieren) das aber aus verschiedensten Gründen nicht.".
Ich glaube allerdings nicht, dass diese Antwort vom TE jemals erwartet wurde, er mag dazu selbst gerne Stellung beziehen.