@Antaghar: 27.10.
Zum Exhibitionisten:
„Folge ich manchen Argumenten hier, ist er gesund - und das Problem haben nur die Mädchen und Frauen, die vor erschrecken oder sich durch ihn sexuell belästigt fühlen.“
Wieder eine Verallgemeinerung. Vielleicht leidet er unter seinem Verhalten. Vielleicht träumt er davon, „anders“, „normaler“ zu sein. Vielleicht betet er nächtlich zu seinem Gott, dass der ihn anders sein lassen möge. Wer weiss es schon?
Antaghar: Leben ist: Kreuzungen. Er kreuzt seinen Lebensweg mit dem Lebensweg der Mädchen und Frauen. Er gewinnt seine Befriedigung aus ihrem Schrecken. Das ist sein Egoismus, dessen er sich nicht bewusst ist oder dem er nicht Herr wird. Sie – die Mädchen und Frauen – stabilisieren ihr Weltbild an ihm. Sie hassen ihn, lehnen ihn ab. Er ist der Grund, sie in Schrecken versetzt zu haben. Das wollen sie nicht. Er wird zum Fixpunkt dessen, was sie als „böse“ bezeichnen dürfen. Käme nicht die Polizei, wäre alles in Ordnung. Die Mädchen hätten einen Grund, wegzurennen, unser Exhibitionist hätte einen Grund, sich vielleicht genau daran aufzugeilen. Jeder Beteiligte bestätigt sein Weltbild: er, dass er der „Ungeliebte“, „Unverstandene“ ist, jene, dass das Böse eben doch auf der Welt existiert, und dass man sich mit Händen und Füssen dagegen wehren muss. Beide Haltungen implizieren Ablehnungen, und es gibt kaum etwas auf dieser Welt, was mehr Kraft verleiht, als abgelehnt zu werden („Denen zeig’ ich’s noch allen!“). Ich denke da immer an Napoleon, Hitler und Dabbelju.
(Aus meinen Gedanken erkennst du unschwer: ich bin froh, nicht Justizminister oder Polizeipräsident sein zu müssen)
Du fährst fort: „Ist da nun in seiner sexuellen und psychosozialen Entwicklung irgendwo eine Blockade entstanden?“ Gesetzt, ich fantasiere in mir deinen Exhibitionisten – ja. Ich stelle mir vor, dass er mit vierzehn Jahren schüchtern und triefend vor Geilheit einem Mädchen an die zart wachsenden Brüste greifen wollte, und diese – schreiend zu Mama gerannt ist. Das hat ihn in Schrecken versetzt. Und dann passierte etwas, was wir nicht erklären können: er verband das Gefühl seiner Geilheit mit dem Bild des wegrennenden Mädchens. Und jedes Mal, wenn ein Mädchen wegrannte, erinnerte er sich an diese damalige Geilheit und wurde wieder geil. Da er Angst hatte, noch einmal so drastisch abgelehnt zu werden, verlegte er sich darauf, seine Geilheit dadurch zu geniessen, dass er Mädchen in die Flucht trieb, indem er sein stolzes Stück exponierte.
Aber, Hand aufs Herz, Antaghar, was hiesse dann „Blockade“? Gesetzt, an meiner Fantasie des armen Jungen wäre etwas dran, was hätte er anders gemacht, als was wir alle alltäglich tun? Nämlich auf eine missliche, für uns äusserst schmerzhafte Situation zu reagieren und unsere Konsequenzen daraus zu ziehen? So gesehen besteht doch Leben aus nichts anderem als Blockaden! Schon der Säugling reagiert trickreich mit bestimmten Verhaltensweisen auf die Mutter, wenn diese nicht so funktioniert, wie er das in seiner Bedürftigkeit erwartet!
Ich bitte dich: denk’ eine Sekunde lang über das Wort „Blockade“ nach! Was wird hier blockiert? Wir – wir! – wollen etwas, sprich: wir wollen einer Bedürftigkeit nachgehen, und: die Welt ist nicht so, stellt sich uns entgegen, wir können nicht einfach diese Weg weitergehen, er ist versperrt. Also suchen wir nach der Umleitung. Und peitschen Frauen. Oder zeigen ihnen unser Glied. Oder führen Armeen nach Russland in den Tod.
Das sind meine Gedanken, die zugleich die Hälfte deiner folgende Frage beantworten. „Warum kann er lust und Ekstase nicht auch total frei von irgendwelchen Ritualen erleben, einfach nur so, ohne sich anderen zu zeigen?“
Die andere Hälfte deiner Frage gebe ich an dich zurück: was heisst „einfach nur so“?
Das ist für mich Rekursion in die naive Vorstellung eines Paradieses. Seit wir – biblisch gesprochen – aus dem Paradies vertrieben wurden, gibt es kein „einfach nur so“ mehr. Selbst die, die in ihren Verhaltensweisen sich den – inzwischen in diesem Thread berühmt gewordenen – 51% der Bevölkerung unterwerfen, leben kein „einfach nur so“. Antaghar, „einfach nur so“ ist dein Traum, dass das Leben „einfach nur so“ leicht und freudig und frei sein könnte. Du bist ein liebevoller Idealist. Das schätze ich an dir.
Nichts in dieser Welt ist „einfach nur so“. Alles, was ist, hat seine Bedingtheiten, seine Geschichte, seinen Schmerz. Alles, selbst das, was wir heute heiligen, wurde erkämpft mit Blutzoll, Leiden, Schrecken.
Du fragst mich weiter: „Oder könntest Du mir zustimmen, dass etwas bei ihm möglicherweise (!) energetisch blockiert zu sein scheint, dass da irgendwo ein "Hänger" sein könnte (um es mal salopp auszudrücken)?“ - Antaghar, du klammerst dich fanatisch an einen Maßstab, der eine „heile“ Welt abgeben könnte. Ich frage dich umgekehrt: könnte es nicht sein, dass bei unserem angenommenen Exhibitionisten in seinem Tun Energien entfesselt werden, zu denen ein „Normalsterblicher“ nie in der Lage wäre? Ich etwa würde alleine bei der Vorstellung sterben vor Angst, von der Polizei gefasst zu werden und mich einer Strafanzeige konfrontiert zu sehen….
Ich sagte es schon: käme er zu dir und sagte: „Mir geht es scheisse, helfen Sie mir!“, dann hilf ihm! Aber wisse, er kommt nicht zu dir, weil er ein Exhibitionist ist, sondern nur deshalb, weil er damit nicht klar kommt! Vielleicht hilfst du ihm, indem du ihm Wege aufzeigst, mit seinem Exhibitionismus klar zu kommen, nicht jedoch, diesen ihm wegzunehmen.
Wenn zu mir ein General kommt,. der mir sagt: mir geht es schlecht, denn fünf meiner Soldaten wurden von einer Taliban-Bombe in die Luft gesprengt!“ – was sage ich dann? Dass ich Generäle ablehne? Dass ich Kriegsdienstverweigerer bin? Dass ich ihr Tun krank finde? Dass er sich einen Aldi-Kassierer-Job suchen soll? Dass er eine Blockade hat, die ihm dazu bringt, Krieg zu spielen? Werde ich ihm damit gerecht?
Du fragst weiter: „Und nun frage ich einfach mal, ob es nicht bei einer Frau ähnlich sein könnte, die ausschließlich durch Fesselung, Knebelung, Augen verbinden etc. fähig ist, sexuelle Erregung, Lust und Befriedigung zu empfinde, die sich nur dann wirklich spüren kann - wenn sie ihrer Verantwortung für ihre Geilheit dadurch enthoben ist? Ich frage mich, warum sie das alles nicht auch "ganz normal" und völlig frei und unabhängig von bestimmten Vorgaben empfinden kann?“
… wenn sie ihrer Verantwortung für ihre Geilheit … enthoben ist … Genau das ist es, Antaghar! Das ist (ein Teil von) BDSM. Es ist die Einsicht mancher, dass „Verantwortung“ (die deine Haltung den Menschen auferlegt) nicht mit Geilheit kompatibel ist. Geilheit heisst: sich gehen lassen. Sich gehen lassen ist in vielen (auch nicht-sexuellen Bereichen) für viele Menschen ein erstrebenswerter Zustand. Wir haben ständig für irgendetwas Verantwortung, und wir sehnen uns danach, diese Verantwortung auch einmal fallen lassen zu können. Verantwortung zu tragen, geschätzter Antaghar, blockiert Energien. Energien wollen fliessen, wollen nicht „zensiert“ werden von der Kontrollinstanz, die sagt, was „angemessen“, „erlaubt“, „schicklich“ oder „erwartet“ ist.
Dein Fragecrescendo führt zu den Zentralfragen: „Wann könnte es eine Blockade sein? Und kann bzw. darf wirklich nur sie allein entscheiden, ob etwas in ihr blockiert ist?“ – Die erste Frage ist die leichtere: Nie. Nie ist es eine Blockade. Ausser: Sie leidet an der Art, ihre Geilheit zu erfahren, kommt zu dir, will eine Erklärung, und du gibst ihr sie mit dem Begriff „Du hast eine Blockade!“. Damit gibst du ihr eine positive Vision. Blockaden (Strassensperrungen) kann man, genügend Bagger vorausgesetzt, aus dem Weg räumen. Du spielst den Bagger. Bestens.
Die zweite Frage ist schwieriger, denn sie ist eine
moralische. Sie ist nur zu beantworten, wenn du mir das Gesetz nennst, das bestimmt, wer wann über uns entscheiden darf, ob wir eine Blockade haben oder nicht.
Der Fortgang deines Postings nennt bereits eine Konsequenz der Art, in der ich dir hier antworte: „es sei denn, man nimmt eine total fatalistische Einstellung ein: ‚So ist es eben. Was schert es mich, warum das so ist - ich nehme es, wie es kommt ...’“.
Das, geschätzter Antaghar, ist der Kern deines Seins. Dächte man so, wie ich es hier skizziere, ist man „Fatalist“. Man glaubte also, es sei eh alles wurscht; das, was geschieht, vollziehe sich eh schicksalshaft, und wir kleinen Menschlein hätten eh keine Chance, den Lauf der Welt aufzuhalten.
Dein grösster Schrecken wäre es, den Umständen in die Augen zu schauen und sagen zu müssen: ja, so ist es.
Deshalb suchst du verzweifelt nach Massstäben, die dich berechtigen zu sagen: „So darf es nicht sein! Das ist eine Blockade!“
Du bist ein liebender Idealist.
Nach diesem Redeschwall mögen mir die Communitymitglieder erlauben, noch kurz persönlich zu werden: „Ich weiß keine klare und eindeutige Antwort darauf. Weißt Du eine? Vermutlich ...“ Antaghar, wer sagt uns, dass das Spiel des Lebens „eindeutig“ und „klar“ sein müsse? Ich „verstehe“ deine Sehnsucht ….
„Dir mögen diese Fragen albern oder bescheuert erscheinen, auch überflüssig.“ Dieses „Fishing for compliments“ hast du nicht nötig. Ich spüre deinen Willen, hier etwas „wissen“ zu wollen, denn allen Tiefschlägen und Anfeindungen zum Trotz bist du geraden Kreuzes hier weitergegangen.
„Mir als Außenstehendem sind sie wichtig - und vielleicht magst Du ja etwas dazu antworten.“ Antaghar! Wir
alle sind, so besehen, „Aussenstehende“!
Denn wer wüsste das „Innen“ zu kennen, in dem wir alle gerne „ver-stehen“ würden?
stephensson
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