Nachgedacht
Antaghar hat sachlich gefragt; er verdient eine sachliche Replik.
Ad 1.
"Jemanden als „krank“ zu bezeichnen, muss doch keineswegs eine Abwertung oder Verurteilung sein, sondern kann auch nur eine Frage des Definierens sein."
In der Tat muss es nicht unbedingt eine Abwertung sein. Es ist jedenfalls immer eine
Wertung. Jede Definition ist eine Wertung, ob wir wollen oder nicht. Denn es sind immer
wir, d.h. unsere Willkür, die bestimmen, welche Sachverhalte zu einem Begriff gehören oder nicht. Definieren ist immer Ausübung von Macht. Von daher stellt sich bei jeder Definition sofort die Frage: wer will was damit erreichen? Wen oder was will er ausgrenzen? Und wozu?
Welche Art von Wertung "krank" impliziert, hängt vom Kontext ab. Bezogen auf unseren Körper meinen wir damit eine Dysfunktionalität, unter der der "Kranke" leidet oder leiden sollte oder bald, unserer Meinung nach (dein Beispiel des diagnostizierten Krebes), leiden wird. Wir haben heute in der Regel kein Problem damit, uns selbst als "krank" zu bezeichnen, wenn wir ein körperliches Leiden haben. Das liegt daran, dass wir heute glauben, Krankheit käme gleichsam schicksalshaft über uns, ausserhalb unserer Verantwortung. Wir pflegen deshalb auch eine Welle Mitgefühls zu bekommen, wenn wir uns selbst als "krank" bezeichnen.
Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn wir das Wort "krank" im Kontext von
Verhaltensweisen gebrauchen. Wenn wir sagen, jemand verhalte sich "krank", meinen wir damit, sein Verhalten sei völlig ausserhalb unserer sozialen "Norm", unseres antrainierten und erprobten Erwartungshorizonts. Wir sprechen eine klare Missbilligung dieses Verhaltens aus. Damit impliziert "krank" in diesem Kontext sehr wohl eine massive Abwertung.
Die entscheidende Frage hat Magdalena am Ende ihres Beitrags gefragt: selbst wenn wir definiert haben, was "krank" und was "gesund" ist, was nützt es uns? Leidet jemand und sucht bei dir Hilfe, ist die Frage, ob er "krank" ist, nur relevant bezüglich irgendwelcher Krankenkassenabrechnungen.
Wie du ihm jedoch helfen wirst, hängt wesentlich von deinem
eigenen Bewusstsein ab. Wenn du ihn für krank hältst, wirst du dich als Therapeut anders verhalten, als wenn du dich von solchen "Definitionen" frei machst. Denn sonst gleitest du sehr schnell in dein anstudiertes Schubladendenken ab, in dem du "Therapien" für bestimmte "Krankheitsbilder" abgelegt hast, und der Klient - gerät dir aus dem Blick. Nur mit dem Herzen, nicht mit Definitionen, sieht man gut.
Zu deinem Alkoholiker: "Ein Drogenberater würde ihn wohl bereits als „krank“ bezeichnen, er selbst würde es sicher ganz anders sehen. Was ist richtig, was ist falsch?" Keines von beiden ist richtig oder falsch. Es ist eine Frage der Perspektive. Der Drogenberater muss ihn als "krank" bezeichnen, schon alleine, um seinen Arbeitsplatz zu rechtfertigen. Er selbst sieht sich als "gesund", weil er sich in seiner Sucht ja wohl fühlt.
Ad 2.
"Könnte man – ich frage nur! – zum Beispiel sagen, wenn man frei von Blockaden und Hemmungen, frei von Beschädigungen, Verbiegungen und Verklemmungen sich seiner selbst bewusst und unverkrampft, locker und lustvoll leben und lieben kann, wenn alle Energien frei und ohne Störung fließen können, dann sei man gesund?" - Natürlich kann man das. Man kann dann in der Konsequenz auch sagen, wenn man auch nur Blockaden hat, sei man "krank".
Eine solche Definition von Gesundheit macht 98,8% der Menschen zu Kranken. Zumindest während größeren Zeitabschnitten ihres Lebens. Genauso gut könnte man die Schöpfung als Gottes größten Fehler bezeichnen. In Misanthropenkreisen sind solche Ansichten en vogue. Auch viele Therapeuten brauchen eine solche Sicht der Dinge. Denn die von dir aufgezählten Ideale geben der Therapie erst die Richtung.
Bedenke aber, wie viel du bereits wieder definiert hast! Wer sagt, was "Blockaden", was "Beschädigungen", was "Verbiegungen" sind? Und selbst, wenn wir es wüssten, sind diese Lebensattribute per se und allgemeingültig negativ? Gemäß dieser Definition war z.B. der Maler Van Gogh hochgradig krank. Was aber, wenn dieser kranke Seelenzustand eine Bedingung für die Art seiner Bilder gewesen war, die heute kein Kunstkenner als "krank" ansieht?
Zu deinem Beispiel der Frau, die nur nach Genuss von Alkohol sich beim Sex gehen lassen kann:
"Oder ist das wirklich völlig okay und gesund, frei und natürlich, aber eben nur anders?" Wiederum, Antaghar, wer definiert? Du? Die Professoren, von denen du gelernt hast? Der Liebhaber? Sie selbst? Ihre Kinder (falls sie welche hat)? Angenommen, ihr Liebhaber kann Sex auch nur nach Alkoholgenuss geniessen, dann könnten beide das ja tatsächlich als ok empfinden. Angenommen, die Frau träumt davon, dass sie auch mal ohne Alkohol sich fallen lassen kann, dann leidet sie unter ihrem zustand. Dann kann man versuchen, ihr zu helfen.
Und nun zu deiner direkten Frage der Frau mit dem Windelmann: "Aber sie will von mir wissen, ob das normal und gesund ist, was ihr Mann da macht. Was soll ich der guten Frau denn sagen?" - Vielleicht hörst du ihr zunächst einfach zu. Sie interessiert es ja gar nicht wirklich, ob das Sexualverhalten ihres Mannes normal und gesund ist oder nicht; sie will entweder hören, dass ihr Mann krank ist, damit sie vor sich selbst rechtfertigen kann, dass sie sich von ihm trennt. Oder sie hört, dass ihr Mann "normal" ist, dann wird sie an sich selbst verzweifeln, denn sie genügt dann der Rolle einer guten Ehefrau nicht.
Wenn du ihr also etwas sagst, dann sage ihr, dass sie sich bewusst machen soll, was
sie eigentlich spürt und will, unabhängig von irgendwelchen Definitionen, die ja nur - um deine oben genannten Worte des „gesunden“ Zustands aufzunehmen - dazu dienen sollen, dass sie sich aus ihrer Verantwortung stehlen kann. Auch hier hat Magdalena Recht: ein guter Therapeut wertet nicht, lässt sich nicht von seinen Klienten einspannen, ihnen die ihnen genehmen Werturteile zu liefern, zu denen ihnen der Mut fehlt.
Sage ihr also, dass es nicht deine Sache sei, ihr zu sagen, ob das Verhalten ihres Mannes gesund oder krank sei. Und wenn sie dann wütend auf dich wird, kannst du genau ihre Wut thematisieren. Wenn sie lernt, sich nicht aus ihrer Verantwortung zu stehlen, indem sie zum Therapeuten geht, wird ihr Mann für sie auch kein Problem mehr sein. Denn dann wird sie eine Entscheidung treffen. Und wir müssen uns nicht überlegen, was gesund und was krank, was normal und pervers ist.
Du fährst fort: "Klar, normal ist es nicht, weil es nicht der Norm entspricht." - Merkst du was? Wer definiert welche Norm? Und, angenommen, unser Lover ist sich seiner selbst bewusst und zieht ganz unverkrampft seine Windeln an, wäre er dann gemäss deiner obigen Definition nicht - gesund?
"Und ist es wirklich nur ihr Problem, dass sie damit nicht klar kommt?" - Antaghar, das können wir nie wissen. Wir wissen nur, dass
sie ein Problem hat. Solange wir nur von ihrem Problem wissen, ist es wirklich nur ihr Problem. Sie steht in ihrer eigenen Verantwortung.
"Mache ich es mir da nicht etwas zu einfach, wenn ich ihr sage, dass bei ihrem Partner alles in bester Ordnung ist, ..." - Aber klar machst du es dir zu einfach, du masst dir an, etwas zu wissen, was du gar nicht wissen kannst. Genau so einfach machst du es dir, wenn du ihr sagst, bei ihrem Partner sei "irgend etwas schief gelaufen". Denn auch das kannst du nicht wissen.
Halte dich an das, was vor deinen Augen ist: ein Mensch, der Hilfe sucht, weil er mit etwas nicht klar kommt. Erfolgreich helfen kann man dann, wenn man
nicht wertet,
nicht definiert, sondern empathisch ist. Nachweislich liegt der Erfolg einer Therapie
nicht an der Methode, sondern an der Fähigkeit des Therapeuten, empathisch zu sein und denjenigen, der glaubt, ein Problem zu haben, liebevoll zu spiegeln. Mehr bedarf es nicht. Schon gar keiner Definitionen.
stephensson
art_of_pain