Verstehen-Wollen als Krankheit
Für mich ist eines der interessantesten Aspekte dieses Threads, werter Antaghar, dein vehementes, ja fast manisch zu nennendes Insistieren auf Verstehen-Wollen wie auch auf dein Recht, das Verstehen versuchen zu dürfen. Oftmals, wenn ein anderer Thread-Teilnehmer dir sagt, du „wirst das nie verstehen“, meine ich fast so etwas wie eine kindliche Trotzhaltung zu verspüren: „ich habe aber doch das Recht, den Versuch zu machen, zu verstehen!“.
Versuche ich, dieses Insistieren zu verstehen, spüre ich in dir eine Angst: es würde dir etwas weggenommen, wenn da etwas wäre, das du prinzipiell nicht verstehen können wirst. Dein Insistieren auf deinen Anspruch, zu verstehen, hat die gleiche Struktur wie das Insistieren der anderen, sie wären in ihrer BDMS-Leidenschaft nicht „krank“. Und so, wie du ein paar Bildschirmseiten zuvor vermutetest, dass sich hinter der vehementen Ablehnung des Wortes „krank“ noch ein unausgesprochenes Problem befindet, etwas, das dem „Heil-Sein“ des Betroffenen entgegensteht, so vermute ich auch bei deinem Insistieren auf Verstehen-Wollen ein dahinter verborgenes Problem, das deinem „Heil-Sein“ entgegensteht.
Deine Bedürftigkeit ist so groß, dass du uns permanent für unsere Beiträge, die sich auf deine Äusserungen beziehen, danken musst, bis an die Grenze, wo man hinter deinem permanenten Danken eine unglaubwürdige, weil eingeübte Floskel vermuten könnte.
Es wird dir sicherlich gelingen, innerhalb deinen metaphyischen Voraussetzungen, wie van Bruns so schön schrieb, die eine oder andere Information, die dir hier von den anderen Schreibenden gegeben wird, in dein Denkgebäude einzusortieren und so zum Stillstand, zum Schweigen, zu bringen. Es mag dir eine kurzfristige Befriedigung geben, aber eine Woche später taucht deine nächste Frage auf, und du stehst wieder vor dem Nicht-Verstehen. Diese Struktur ist wie Sex: nach einem gelungenen Orgasmus bin ich im Siebten Himmel, eins mit der Welt, aber ich weiss: am nächsten Tag habe ich wieder Durst nach neuem Sex.
Durchbrechen kannst du – eigentlich muss ich dies gerade dir nicht sagen - diesen Kreis nur, wenn du deinen Blick von uns abwendest und auf dich selbst blickst. Heil-Sein heisst: das Verstehen nicht mehr nötig zu haben.
Das Leben ist das Unverständliche schlechthin, weil es am Leben nichts zu verstehen gibt. Das Leben
ist. Buddha wies in den „Vier edlen Wahrheiten“ darauf hin. Solange du verstehen willst, wird dir immer dein Unverständnis, dein Noch-Nicht-Verstehen begegnen. Du wirst immer einen Mangel an dir spüren, noch nicht „ganz“ verstanden zu haben. Das ist der „Durst“, den Buddha in der „Zweiten Edlen Wahrheit“ als den Grund des Leidens identifizierte.
Ich mache mir dieses prinzipiell Unverständliche immer an der Musik klar. Kennst du „We are the champions“ vom unvergleichlichen Freddy Mercury? Sicher. Das Stück reisst Millionen Menschen mit. Einige andere finden es schrecklich. Ich versuche zu verstehen, warum das Stück so gut ist. Ich sage dir: Es steht im 6/8-Takt, beginnt auf der 1. Stufe der Tonart in Dur, geht dann zu einem Dominantseptakkord auf der 3. Stufe, der in die Mollparallele führt, um von dort auf die Subdominante zu gehen. Kannst du jetzt verstehen, warum das Stück so genial ist? Sicherlich nicht. Merkst du was? All solche Äusserungen bleiben der Sache, wie das Wort sagt,
äusserlich. Man muss sich drauf einlassen, wenn man dem Geheimnis auf die Spur kommen will.
Das Eigentliche des Lebens ist vollkommen unverstehbar. Nie lässt sich die Schönheit eines blutroten Sonnenuntergangs über dem Atlantik verstehen. Nie lässt sich der Schrecken von zweihunderttausend Toten als Folge eines Tsunamis verstehen. Das Leben ist nicht dazu da, um von uns verstanden zu werden. Es ist genau umgekehrt dazu da, uns klar zu machen, dass wir, solange wir verstehen wollen, das Leben
nicht haben.
Du hast dein Verständnis des Wortes „krank“ unter anderem mit Hinweisen auf Wilhelm Reich erläutert. 95 Prozent der Menschen seien krank (die Zahl ist natürlich ein Symbol, es könnten, wie du sagst, auch 100 Prozent sein). Das zu sagen heisst nichts anderes als zu sagen: die Welt ist defizitär. Die Welt ist so, wie sie nicht sein soll. Menschen leben so, dass sie krank sind, und das soll nicht sein. Heilung ist nötig. Das kann z.B. eine gelungene Therapie sein.
Wenn du die Struktur einer solchen Ideologie anschaust, kann dir klar werden, dass dies nichts anderes als die säkularisierte Form christlichen Denkens ist. Auch das christliche Denken verortete den Menschen als ein Mangelwesen, da er von Gott „abgefallen“ ist und sich „versündigt“ hat. Im christlichen Denken wird diesem Mangel durch das Heilsversprechen abgeholfen. Der Mensch wird nach seinem Tode heil, er wird „erlöst“.
Westliche Psychoanalyse entstand, als im Zuge der Aufklärung dieses Heilsversprechen seine Kraft für die Menschen verlor. Der Anspruch der Erlösung musste sich noch vor dem Tod verwirklichen lassen. Es durfte nicht sein, dass das Empfangen des Heils in ein Nach-Tod-Jenseits verlegt wird. Um das zu leisten, mussten zunächst die Gründe für das Kranksein verstanden worden sein, musste ein Verstehenssystem gebaut werden, aus dem heraus man dann Therapien entwickeln konnte, die die frühere Beichte und den Gottesdienst ersetzten, etwa so, wie ich eine Maschine nur dann reparieren kann, wenn ich ihren Bauplan verstanden habe.
Ich meine zu ahnen, Antaghar: Dein manisches Verstehen-Wollen gründet in deiner Heilserwartung. Deine Versuchung, BDSM in den Zusammenhang mit dem Religiösen zu rücken, bestärkt mich in meiner Ahnung.
Unnötig zu betonen, dass das natürlich ok ist, so wie es ok ist, unter Peitschenhieben einen Orgasmus zu bekommen.
Warum schreibe ich all dies? Weil es mir so ähnlich geht wie ich glaube, dass es dir, Antaghar, ergeht. Seit ich denken kann, wollte ich verstehen. Irgendwann begann ich, über mein Verstehen-Wollen nachzudenken. Ich merkte, dass es der verzweifelte Versuch ist, meinem Schmerz
eine Begründung zu liefern. Verstandene Schmerzen tun nicht mehr so weh als unverstandene. Denn wenn wir glauben, verstanden zu haben, glauben wir, dem Schmerz einen
Sinn gegeben zu haben. Und nichts ist für uns Menschen schwerer aushaltbar als die Sinnlosigkeit. Aber diese zu bestehen: genau darum würde es gehen.
stephensson