Sind Frauen und Männer (sexuelle) Antagonisten?
Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren,herzlich willkommen zur heutigen Textwand. Eins vorneweg: Das wird jetzt lang und verschwurbelt und total intellelell und hochwissenschaftlich. Mir liegt das Thema sehr am Herzen und ich wünsche mir, daß hier ein konstruktiver Gedankenaustausch stattfindet. Ich versuche auch, mich mit Zitronenkuchen und Konsorten zurückzuhalten.
Ok, los gehts:
Anlaß meiner Gedanken war das Buch "Sex at Dawn" von Christopher Ryan und Cacilda Jethá.
Ganz kurz und plakativ zusammengefaßt: Darin wird die These aufgestellt, daß Monogamie unserem evolutionär entwickelten Wesen widerspricht und die gesellschaftlich sanktionierte Perpetuierung der Monogamie großes Leid verursacht. Das Ganze wird ziemlich umfassend mit Hilfe wissenschaftlicher Studien, soziologischer Forschung, Tierforschung, Neurobiologie und Genetik argumentativ unterfüttert.
Gelesen habe ich das Buch (und natürlich jede Menge andere auch), weil es mir so ähnlich wie Neo in der Matrix ging: Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß die gesamte zwischenmenschliche Beziehungschose grundlegend kaputt ist, konnte aber nicht den Finger drauflegen.
Ich bin kein Kind von Traurigkeit, bin schon fremdgegangen, hatte eine offene Beziehung, hatte auch während meines monogamen Zusammenlebens mit einer Partnerin über den Tellerrand geschaut und war generell nicht so sehr davon überzeugt, daß das Finden der Einen jetzt der Abschluß und die Monopolisierung meiner Sexualität sein sollte. Dieses unbestimmte Gefühl hat mich wahnsinnig gemacht, weil es in mir starke Handlungsimpulse ausgelöst hat, die allen gesellschaftlichen Konventionen zuwider liefen, siehe Fremdgehen.
Nach und nach fiel mir auf, daß zwischen den Worten und Taten (jetzt in Bezug auf Liebe, Sex und Beziehung) der die Gesellschaft konstituierenden Individuen zum allergrößten Teil gewaltige Abgründe klafften:
Die Worte propagieren ganz klar das monogame Modell, die Gesellschaft sanktioniert abweichendes Verhalten auch mehr oder weniger stark, aber das Phänomen Fremdgehen zum Beispiel ist eine geradezu virulente Epidemie, die sich seit Menschengedenken quer durch alle Gesellschaften und Bevölkerungsschichten zieht und selbst von der Androhung der Todesstrafe nicht auch nur ein kleines bißchen eingedämmt werden kann. Es liegt auf der Hand, daß Fremdgehen offensichtlich ein universeller menschlicher Impuls ist, der sich durch künstliche Konventionen nicht einschränken läßt. Die Frage ist: Warum tritt dieser Impuls auf? Was ist so vorteilhaft daran, daß wir ihn entwickelt haben? Sind wir nicht Lebewesen, die in Paaren existieren sollten, als stabile Basis für eine Familie und Kinder?
Einen kleinen Fingerzeig hat mir Robert Heinlein in vielen seiner Romane gegeben. Er definiert eine Ehe so: Eine Ehe ist eine Form des Zusammenlebens, die möglichst große emotionale und wirtschaftliche Stabilität zum Wohle aller Beteiligten und insbesondere zum Aufziehen der Kinder sicherstellen soll. So weit, so klar. Aber daraus zieht er ganz andere Schlüsse als diejenigen, die unsere Gesellschaft als Standardantwort auf diese Fragen gibt:
Rein mathematisch ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein irgendwie gearteter Ausfall bis hin zum Ableben einer Person in einer Lebensgemeinschaft größtenmöglichen Schaden anrichtet, dann am höchsten, wenn die Gemeinschaft aus sehr wenig Personen besteht. Da zu einer Gemeinschaft mindestens zwei gehören, ist das westliche monogame Modell also die kleinstmögliche Lebensgemeinschaft mit dem größtmöglichen Ausfallrisiko für einen Totalschaden.
Heinlein folgert messerscharf, daß eine solche Gemeinschaft also im Gegenteil aus möglichst vielen Leuten bestehen soll, damit der Einzelne von vielen Armen aufgefangen werden kann und die Gemeinschaft nicht unter dem Ausfall eines einzelnen Mitglieds ins Wanken gerät. Heinleins Modelle sind dann auch meist verschiedene Formen von Polygamie.
Seine Argumentation kam mir intuitiv richtig vor, aber ich war noch zu sehr mit der gesellschaftlich gewünschten Version des Zusammenlebens infiziert und habe immer den Haken gesucht. Es hat mich wirklich mürbe gemacht, daß ich diesen nie finden konnte.
Alle Argumente, die unsere Gesellschaft für das monogame Zusammenleben hat, sind in einer polygamen Gesellschaft ebenfalls gültig, wenn nicht sogar noch mehr: Wirtschaftliche Stabilität, emotionale Bindung (bei einer größeren Gruppe vielleicht sogar von Vorteil, weil da einzelne Verstimmungen nicht immer von denselben Personen aufgefangen werden müssen), Kinderobhut, Selbstverwirklichung der Beteiligten, Sex etc. pp.
Jetzt zurück zu Sex at Dawn. Die Autoren zeichnen da ein ziemlich häßliches Bild unseres Zusammenlebens, das sie das Standardnarrativ der menschlichen sexuellen Evolution nennen. Horcht einmal tief in euch hinein, ob das, was jetzt kommt, nicht genau das ist, was ihr bisher als richtig und einleuchtend betrachtet hat (wohl dem, der das nicht tat).
Das Standardnarrativ geht so:
Ein Mann möchte seine Gene verbreiten. Er will sicherstellen, daß seine Kinder auch wirklich seine genetischen Nachkommen sind. Das ist das sogenannte Parental Investment, denn er möchte seine hart erarbeiteten Resourcen nicht genetisch fremden Personen (Kuckuckskindern) zur Verfügung stellen. Er muß er also zwangsläufig die Sexualität seiner Partnerin kontrollieren. Dies tut er über materielle Zuwendung und Zwang. Verfügt er über große materielle Resourcen, ist er ein attraktiver potentieller Partner und Vater, da er seine Versorgerqualitäten unter Beweis gestellt hat. Um diese Resourcen mit seiner Partnerin zu teilen, kann er die Forderung stellen, daß sie ihm sexuell treu ist. Darüber hinaus wird er sie trotzdem mit Kontrolle und Zwang zur Befolgung seiner Regeln nötigen, denn er kann nicht komplett sicher sein, daß sie wirklich aus freien Stücken treu ist. Währenddessen sucht er selbst ständig sexuelle Abenteuer, um seine Gene möglichst weit zu streuen. Da ihm keine körperlichen Schwierigkeiten durch eine Ejakulation entstehen, ist er auch grundsätzlich immer zu Sex bereit.
Eine Frau möchte superioren Nachwuchs von superioren Männern. Da eine Schwangerschaft eine große körperliche Anstrengung und durchaus risikobehaftet ist, will sie sichergehen, daß sich die Strapaze lohnt. Sie benötigt einen Versorger, um die Kinder beim Aufwachsen möglichst sicher, versorgt und gut behütet zu wissen. Aber ein guter Versorger ist noch lange kein genetisch superiorer Mann. Also geht sie um die Zeit des Eisprungs auf die Pirsch, um sich vielleicht genetisches Material von einem wirklich superioren Individuum zu holen.
Und da haben wir endlich die Verbindung zur Überschrift: In diesem Standardnarrativ sind Frauen und Männer diametral entgegengesetzte Antagonisten. Die Frau will einen Versorger, aber Kinder von anderen, genetisch besser geeigneten Männern. Der Mann will dagegen gerade nicht, daß die Frau Kinder von anderen Männern kriegt, sondern nur seine eigenen versorgen. Folgerichtig ist ihr Zusammenleben von Mißtrauen, Zwang und Elend geprägt. Den Frauen und Männern wird im Standardnarrativ unterstellt, daß sie sich evolutionär zur Implementierung dieser destruktiven Strategien entwickelt haben. Was mir dabei nie einleuchtete: Wo ist der Selektionsvorteil? Eigentlich müßten bei dem Modell doch unter den Männern die größten Arschlochkontrollfreaks und unter den Frauen die hinterlistigsten Schlampen selektiert werden. Das erscheint mir aber zum Glück weit entfernt von den wahren Gegebenheiten.
Insgesamt klingt das Standardnarrativ wie eine ziemlich gute Beschreibung dessen, was heutzutage in der westlichen Gesellschaft abgeht. Ich finde das zutiefst deprimierend.
Sex at Dawn hat zum Glück ein wesentlich helleres Bild gezeichnet und nebenbei auch mal mit dem ganzen ideologischen Ballast aufgeräumt, den wir so mit uns herumschleppen. Da das der größte Teil des Buches ist, kann ich das wieder nur paraphrasieren.
Sexuelle Treue ist keine genetisch veranlagte Verhaltensweise des Menschen, sondern eine soziale Adaption, die mit dem Ackerbau und der Seßhaftigkeit Einzug hielt. Ab da gab es nämlich Eigentum, und die Sicherstellung des welchselbigen für die eigene (genetische) Familie erforderte neue Mechanismen der materiellen Kontrolle.
Evolutionär betrachtet sind wir aber nomadisierende Jäger und Sammler. Ca. 95% der etwa 200.000 Jahre, die es den Homo Sapiens nun schon gibt, ist er in kleinen Gruppen von höchstens etwa 150 Individuen umhergezogen. Erst vor etwa 10.000 Jahren begannen Ackerbau und Seßhaftwerdung.
Das soziale Gefüge in den nomadisierenden Gruppen war ein völlig anderes, als es das Standardnarrativ heute weismachen will. Die Individuen hatten meist eine Hauptbeziehung und viele weitere lose sexuelle Beziehungen zu verschiedenen Gruppenmitgliedern. Dies war notwendig, um den sozialen Zusammenhalt der Gruppe zu festigen, da die Gruppen aus stark interdependente Indviduen in einer streckenweise nur resourcenarmen Umgebung bestanden. Auf diese Weise konnten Konflikte vermieden, das Wohlergehen aller Gruppenmitglieder und die Überlebenschance der Kinder maximiert werden.
In diesen Gruppen waren weibliche und männliche Individuen genau keine Antagonisten. Im Gegenteil. Um die Zeit des Eisprungs hatten die Frauen meistens nicht nur mit ihrem Hauptpartner Sex, sondern auch mit vielen (allen?) ihrer Nebenbeziehungen. Dadurch wurde die Vaterschaft der Kinder verschleiert und alle Beziehungspartner entwickelten ein Verantwortungsefühl für die Nachkommen. Fiel einer der Partner oder sogar ein Elternteil aus, kümmerten sich noch genügend weitere "Tanten und Onkel" um die Kinder. Diese Konstellation ist völlig logisch, wenn man sie als Selektionsvorteil im Sinne von höherer Übelebensfähigkeit der Kinder betrachtet.
Die häufigste Frage in dieser Situation ist natürlich, was denn da jetzt eigentlich mit der Konkurrenz ist. Es stellt sich heraus, daß die nicht auf individueller Ebene, sondern im molekularbiologischen Bereich abläuft. Die Form des Penis wirkt in der Umgebung der Vagina wie eine Saugglocke. In den Studien haben sie gezeigt, daß eine einzige Vor- und Zurückbewegung des Penis in einer Vagina, die bereits Sperma von einem vorhergehenden sexuellen Kontakt enthält, ungefähr 90% dieses Spermas "verschiebt". (Im Englischen hieß es "to displace". Dafür finde ich keine richtig passende deutsche Übersetzung.) Das heißt, hier findet erst einmal Wettbewerb auf der mechanischen Ebene statt. Aber das chemisch-biologische Milieu einer Vagina ist in der Lage, bestimmte Sorten von Spermien abzutöten, während andere ungehindert ihren Weg fortsetzen können. Hier konkurrieren also Spermien verschiedener Männer darum, welches am besten unter den gegebenen Umgebungsbedingungen sein Ziel erreichen kann. Die These ist an dieser Stelle, daß die Vagina natürlich die Spermien durchläßt, die am besten für ein Kind geeignet sind. Wie das Kriterium "am besten" geprüft wird, ist leider noch unklar. Wahrscheinlich harmonieren bestimmte genetische Ausprägungen des Menschen besser miteinander als andere und die chemische Reaktion der Vagina ist diesbezüglich ein Filter.
Bevor es jetzt zu sehr ausufert, vielleicht noch ein paar Stichpunkte im Schnelldurchlauf:
Männer in matriarchlisch geprägten Gesellschaften haben mehr Sex und müssen weniger arbeiten.
Die Libido der Frauen ist der der Männer ebenbürtig und äußert sich nur in anderen Ausprägungen. Durch die sexuelle Kontrolle der Frauen im Standardnarrativ sind diese natürlich eher gehemmt, ihre Libido auszuleben bzw. überhaupt zu zeigen.
Das Zusammenleben mehrerer Generationen fördert die Gesundheit aller Beteiligten.
Die größte (sexuelle) Attraktivität strahlt ein Individuum nicht durch die dicksten Muskeln oder das hübscheste Gesicht aus. Stattdessen ist das allesschlagende Kriterium, daß es sich um etwas Neues handelt. Nichts ist so sexy wie der (oder die) unbekannte Fremde. In den nomadisierenden Gruppen äußerte sich das darin, daß, wenn sich mehrere Gruppen über den Weg liefen, nachts fröhlich Individuen zwischen den Gruppen hin- und herliefen und Sex mit Mitgliedern anderer Gruppen hatten, um den Genpool aufzufrischen. Das Neue war dabei das Anziehende.
Eifersucht ist nicht unbedingt genetisch veranlagt, aber selbst wenn, kann sie relativ einfach umgeleitet, kanalisiert, abgebaut werden.
Und bestimmt noch jede Menge andere Sachen, die ich jetzt im Halbschlaf vergessen habe. Einfach nachfragen, wenn etwas unklar ist.
Zusammengefaßt:
Das evolutionsbiologische Modell menschlichen Zusammenlebens bietet uns einen Ausweg aus dem deprimierenden Loch des Standardnarrativs. Es sichert sozialen Zusammenhalt, verhindert interindividuelle Konkurrenz und erleichtert den einzelnen Individuen erheblich das Leben. Als Bonus gibts noch viel mehr Sex! Nein, das stimmt nicht, das ist kein Bonus, sondern integraler Bestandteil dieses Modells. Nur so funktioniert es, weil dem Sex eine zentrale soziale Bindungsfunktion zukommt.
Jetzt seid ihr gefragt. Ist das alles Bullshit? Sind wir nicht doch einfach nur evolutionäre Gegner und müssen das Beste daraus machen? Oder stimmt es und wir sehen hier endlich einen guten Weg, aus dem Leid und den Mißverständnissen herauszukommen, die die Gesellschaft uns aufoktroyiert. Oder ist alles noch ganz anders und weder unser aktuelles monogames Modell, noch eine irgendwie geartete Polygamie sind sinnvolle Beziehungsmodelle?
Ich freue mich auf eure Beiträge!