individueller Nutzen?
*********rHexe:
Verwertungsinteresse
Weiter vorn wurde die kapitalistische Gesellschaft für zunehmende Einsamkeit verantwortlich gemacht. Dazu ein weiterführender Gedanke:
Wenn Beziehungen unter Verwertungsinteressen verhandelt werden (Was kann die Person mir bieten, wofür kann ich ihn/sie ‚nutzen‘ - und umgekehrt: Was kann ich als Beziehungs-Objekt bieten, wie attraktiv ist mein ‚Nutzen‘), fördert dies die Einsamkeit.
Meiner Erfahrung nach funktionieren viele Beziehungsstrategien so. Menschen, die keinen individuellen Nutzen bringen sind dann als Beziehungspartner uninteressant, so das es gar nicht erst zu einem Kontakt kommt...
Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob es überhaupt um den individuellen Nutzen geht.
Nehmen wir Otto. Otto und ich kennen uns bereits seit 20 Jahren und waren lange Zeit davon gute Freunde. Otto und ich hatten bereits immer unterschiedliche Talente & Fähigkeiten und konnten uns somit in vielerlei Hinsicht wunderbar ergänzen. Auch meine Erwerbsunfähigkeit tat unserer Freundschaft keinen Abbruch.
Nun... bei Freundschaften die über so einen langen Zeitraum laufen, ist es völlig normal, dass man in manchen Jahren mehr und in anderen Jahren weniger miteinander anfangen kann. Im Vertrauen darauf, dass wieder intensivere gemeinsame Zeiten kommen werden, geht man seine eigene Wege und lässt den anderen seine Wege gehen. So war es früher auch immer bei Otto und mir.
Doch diesmal ist es anders.
Vor zwei Wochen stellte ich fest:
"Die Wiederbelebung unserer Freundschaft ist fehlgeschlagen.
Zur Zeit sind wir keine Freunde.
Schräg wurde es als Otto sich nach der üblen Trennung seiner Partnerin in die Welt der Dinge und Unternehmungen flüchtete. Dabei fand er auch Anschluss an neue "Freundeskreise", in denen Erfolg, Geld, Status und Statussymbole enorm wichtig sind. Seitdem ist er immer auf Trab. Nie zur Ruhe kommend. Bloß nicht alleine sein. Otto wohnt mit seiner Schwester in einem Smarthome. So ein Smarthome tut alles, um den Mensche das Leben möglichst bequem zu machen. Es denkt an Dinge, die man gebrauchen könnte. Dieses Smarthome verfügt über viele tolle Haushaltsgeräte & Gegenstände, die keiner von beiden nutzt. Darunter Ottos Bett: Seit Monaten schläft er auf der Couch im Zimmer seiner großen Schwester. Er kann nicht mehr alleine schlafen.
Zu Beginn konnte ich Otto noch gut beruhigen. Wenn er mich besuchte oder wenn wir gemeinsam einen Ausflug in die Sauna machten. Da war diese lange Phase, in der er mich am liebsten besuchte. Doch seine Besuche wurden immer anstrengender. Die Hektik, die er verbreitete wurde immer größer und er selbst immer mehr zur "Klette". (Auch gegenüber gemeinsamen Freunden.) Als Otto mir zu anstrengend wurde, dosierte ich unsere Treffen immer mehr. Nicht mehr so lange. Nicht mehr so häufig.
Ich trenne zwischen meiner Rolle als Freund und meiner Rolle als Seminarleiter. Das ist eine andere Machtverteilung. Freundschaften pflege ich auf Augenhöhe und auf Augenhöhe sind meine Möglichkeiten der Einflussnahme natürlich begrenzter. Aber solange mich ein Freund nicht darum bittet, die Führung zu übernehmen, bleibe ich auf Augenhöhe. So ein Ansinnen muss von dem Menschen selbst kommen.
Eines Tages wünschte Otto sich von mir Mal wieder ein richtiges Entspannungsprogramm. "
Chillen im Wald" - so wie früher. Lange Zeit bevor ich die Qualifizierungen als Seminarleiterin für Entspannung, Autogenes Training und Stressbewältigung erwarb, war es bereits eines meiner Faibles. Ich habe mir gerne Entspannungs-Programme ausgedacht, die Kombination verschiedener Methoden ausprobiert und Otto war für meine Experimente ein dankbarer Abnehmer und guter Kritiker. Ich freute mich sehr, dass er mich darum gebeten hat und sagte gerne zu. Schön, Mal wieder gebraucht zu werden. Ob ich das in meinem aktuellen Gesundheitszustand überhaupt gebacken bekomme? In den folgenden zwei Wochen durchstöberte ich meine Materialien und alten Tagebücher, durchstreifte häufiger den Wald und erstellte ein maßgeschneidertes Entspannungsprogramm für Otto. So wie früher auf verschiedene Stationen im Wald verteilt. Und bei den drei Telefonaten bis dahin, sprach Otto das Thema voller Vorfreude von sich aus immer wieder an.
Dann kam der Tag. Unser Ausflug in den Wald. Otto erschien mir bereits bei seiner Ankunft besonders "gehetzt". Mehr noch als sonst. Und er wollte irgendwie an keinem der Orte verweilen. Drängte immer wieder rasch darauf weiter zu gehen. OK. Wenn sich einer an einem Ort nicht wohl fühlt, ist das kein guter Einstieg ins Entspannungsprogramm. Und ich war in der Gestaltung flexibel. Im Kopf konnte ich mein Konzept auf die verbliebenen Orte anpassen. Dann versagte der Empfang von Ottos Smartphone. Wie zu erwarten. Lücken im Netz sind im Wald völlig normal. Ich sah darin auch überhaupt kein Problem. Doch für Otto war es fürchterlich.
Dabei stellte sich heraus:
Otto habe eine Schritt-Challenge mit einer Frau weit weit weg laufen. Das ganze liefe über eine App und sei seit Neuestem der letzte Schrei in seinem "Freundeskreis". Otto müsse jetzt möglichst viele Schritte laufen. Sonst verlöre er diese Challenge. Und wenn er verlieren würde, sinke er in der Rangliste während...
Natürlich fühlte ich mich reichlich verarscht.
Otto hatte "Chillen" durch "Challenge" ersetzt. - Ohne mir etwas zu sagen!
Ich war verletzt.
Ich fühlte mich benutzt!
Und ich frage mich:
• Ging es bei dieser Schritt-Challenge noch um Ottos individuellen Nutzen?
• Oder ging es vielmehr um Angst vor Verlust seiner Zugehörigkeit zu diesem neuen "Freundeskreis"?
• Und inwieweit spielten bei der ganzen Angelegenheit seine "Missionierungsversuche" eine Rolle?
Es gibt Statussymbole, die sind in meinem Leben in etwa so sinnvoll wie ein Ferrari. Da mir so ein Ding zu viel laufende Kosten erzeugt, könnte ich es bloß ohne Kennzeichen auf meinem Grundstück abstellen. Auf so eine Art von "Besitz" verzichte ich lieber. Selbst geschenkt will ich es nicht haben. Dummer Weise denkt Otto inzwischen aber, dass Statussymbole mein Leben verbessern würden.
Wenn ich Otto also von irgendetwas berichte, was mir Freude bereitet hat, springt bei ihm die Werbesendung für Statussymbole an. Damit müsse ich mich vielmehr freuen. Ich frage: "Darf ich mich gar nicht mehr an dem freuen, was ich habe?" Und er antwortet: "Ich will Dir doch nur helfen! Wenn ich Dich endlich davon überzeugen könnte, dann hätte ich etwas, was ich Dir schenken kann." Und unser Gespräch endet immer in der Feststellung, dass ich - Oh, welch große Überraschung! - eine andere Einkommensklasse habe als er, Statussymbole keinen Sinn ergeben und ich seine Missionierungsversuche zum Kotzen finde! Im direkten Anschluss mutiert er wieder zur Klette.
In den letzten drei Jahren gab es da so einige Dauerbrenner. Die Cookies in Ottos Hirn lassen sich allenfalls bis zum Ende eines Treffens außer Kraft setzen. Doch beim nächsten Treffen beginnt die Werbesendung für Statussymbole von vorne. Kontaktpausen machten auch keinen Unterschied.
Ich weiß nicht. Otto ist anders.
Wie eine Litfaßsäule: Innen hohl, Außen voller Werbung.
Ich sehe da keinen individuellen Nutzen für Otto.
.