Hallo TE,
eigentlich wollte ich ja nicht mehr schreiben. Nach einer Woche des stillen Mitlesens möchte ich Dir jedoch sagen, dass ich auf genau diese Aussage von Dir gewartet habe:
Und jenseits aller "Gründe" weiß ich schlicht, dass ich mich nicht trennen kann, dass ich noch nie eine Beziehung von mir aus beendet habe und dazu offenbar nicht in der Lage bin, das war noch nie anders, selbst wenn mich das innerlich zerreißen sollte. Ich halte mir das nicht als "Tugend" zugute, im Gegenteil, ich halte das für eine ganz große Schwäche. Das hat nichts mehr mit "wollen" zu tun, die simple Wahrheit ist, wenn ich mich selbstkritisch betrachte: Ich kann nicht.
Genau das ist der springende Punkt: Du kannst nicht. Völlig wertfrei.
Ich kann wieder nur für mich sprechen, vielleicht helfen Dir meine Gedanken dennoch:
Ein Mangel an Sex und menschlicher Nähe ist für mich immer das Symptom und nie die Ursache, warum es in der Beziehung nicht läuft.
Also gilt es, die zunächst die Ursache zu ergründen.
Für Dich liegt sie in dem aufgebrochenen Trauma Deiner Frau. Für mich nicht ausschließlich. Ich sehe zwei Seiten:
1. Dich, der als "Pfeiler" der Familie gesehen wird, aber scheinbar nie im Leben gelernt hat, sich abzugrenzen, nein zu sagen, Verantwortung auch mal abzugeben und seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu kommunizieren. Warum? Ich bin mir sicher, es ist die Angst vorm Scheitern, Angst vor Ablehnung..und das hat ganz viel (oder nur?) mit dem eigenen Selbstwertgefühl zu tun.
Nicht gut genug zu sein, nicht genug zu tun, keine Leistung zu bringen, Perfektionismus...alles typische Merkmale eines geringen Selbstbewusstseins. Im Umkehrschluss will man dann perfekt sein, es Allen recht machen und erbringt Leistungen, die oftmals an die körperlichen und seelischen Grenzen und darüber hinaus gehen. Die Folgen sind nicht selten Depression und Burn-Out. Das ist DEIN Thema.
2. Deine Frau mit ihrem aufgebrochenen Trauma. Sie hat jedes Recht der Welt, dieses Thema in ihrer Art und ihrem Tempo zu verarbeiten und sie hat auch das Recht, es einfach zu verdrängen. Sie darf sogar ihre Unlust über sexuelle Aktivitäten kundtun und weiterhin ohne Sex und Nähe leben. Dieses Problem aufzudröseln (oder auch nicht) ist IHR Thema. Sie darf dich mit ins Boot holen, aber sie muss nicht.
Nun lebt Ihr aber in einer Ehe und da kann eben halt nicht jeder nur für sich alleine hinbrödeln und im schlimmsten Falle egoistisch seine Wünsche durchdrücken.
Eine Trennung kommt für Euch Beide nicht in Frage, ändern möchtest Du nichts, weil Du immer sofort ein Worst-Case-Szenario im Kopf hast. Dennoch hast Du Wünsche und Begehrlichkeiten, die eine Änderung nötig machen....ansonsten bräuchtest Du hier nicht die Meinungen der User. Dann nämlich würdest Du einfach resignieren, weiter rumpuddeln, traurig sein und Dich mit Deinem Schicksal abfinden.
Aus eigener Erfahrung kann ich Dir sagen:
ein psychisch kranker Mensch überfordert mit seinem Thema fast immer das nahe Umfeld. Er will bestätigt wissen, dass er tatsächlich Schweres mitgemacht hat, dass kaum jemand schlimmer dran ist als er selbst.
Dieser Mensch ist traurig, weil es Anderen (scheinbar) besser geht als ihm. Ein psychisch kranker Mensch denkt sehr oft, dass er das größte Paket von Allen auf seinen Schultern tragen muss....alles Andere sind Peanuts. Er sucht die Bestätigung in und durch seine Mitmenschen und zieht sie immer weiter mit in diese so typische Abwärtsspirale.....Beide werden nie am Ende ankommen. Perpetuum Mobile.
Die perfide Krux an dieser ganzen beschissenen Kiste ist: der psychisch Kranke benötigt Menschen in seinem Umfeld, die ihm seine Grenzen aufzeigen. Menschen, die ihm sagen: "Stop! Bis hierhin habe ich Dir zugehört, Dein Thema ist traurig, ich kann Dir aber nicht weiterhelfen, weil ich von Deinem Thema zuwenig Ahnung habe. Aber ich helfe Dir, geeignete Anlaufstellen gemeinsam mit Dir zu suchen und Dich in Deinem Thema innerhalb meiner Grenzen zu begleiten. Wenn ich nicht mehr kann, werde ich Dir das offen und ehrlich sagen. Ich helfe Dir, damit es Dir gut geht und sorge gleichzeitig auch für mich."
Dieser Mensch bist aber nicht Du. Das ist überhaupt nicht böse gemeint! Du bist Du. Du hast Stärken und Schwächen und in einer Schwäche Schuld zu sehen, dass man nicht helfen kann, ist falsch. Denn schuld bin ich immer dann, wenn ich etwas grob fahrlässig oder vorsätzlich getan habe ( Diebstahl, Mord, Körperverletzung....).
Hier kann also niemand von Schuld reden sondern von unbewussten Verhaltensweisen, die Du Dir bewusst machen solltest.
Deiner Frau kannst Du helfen, indem Du lernst, Deine Grenzen klipp und klar zu kommunizieren. Dadurch bleibt ein Teil von Deinem Ich unangetastet und Du fühlst Dich nicht mehr so stark aufgefressen. Sie nimmt nicht mehr den ganzen Raum ein und Du kannst mal wieder ein wenig durchatmen.
Das wiederum bedeutet, Du sammelst Kraft durch Deinen eigenen Freiraum und kannst umsomehr in der übrigen Zeit für Deine Familie da sein.
Indem Du in Dich und Deine Entscheidungsfähigkeit vertraust, vertraust Du auch Deiner Frau in ihren Entscheidungen und sie bekommt dadurch wiederum ein ganz anderes Selbstwertgefühl.
Ich kann keinen Menschen ändern. Das Ändern fängt bei mir selbst an, dann verändert sich der Andere automatisch.
Wie Du eine gänzlich andere Einstellung zum Thema bekommen kannst? Suche Dir eine Selbsthilfegruppe für Co-Abhängige Familienangehörige von psychisch Kranken.
Dort lernst Du Menschen kennen, die ähnliche Situationen zu tragen haben. Du triffst auf Verständnis, man hört Dir zu, Du fühlst Dich aufgehoben. Weil jeder dort von sich im geschützten Rahmen erzählt, kannst Du dich dort öffnen und das Wunderbare an diesen Gruppen ist: sie spiegeln Dich. Du lernst gleiche Situationen kennen und doch so unterschiedliche Heransgehensweisen. Nicht von Ärzten oder Therapeuten sondern von "stinknormalen" Menschen. Einige haben ihr Leid durch diese Gruppen schon vor vielen Jahren beendet und sind nun die Gruppenleiter, Andere sind noch "auf dem Weg" und die "Anfänger" unter ihnen bekommen jegliche Unterstützung, die sie benötigen.
Das Schöne an diesen Gruppen ist:
1. Du kannst Deiner Frau helfen, weil Du verstehen wirst, was in ihr vorgeht.
2. Du lernst, Deine eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren.
3. Es ist freie Zeit für Dich. Deine persönliche kleine Schatzkiste. Diese (Aus-)Zeit kann Dir Deine Frau nicht verwehren, denn immerhin möchte sie ja, dass Du ihr hilfst.
4. Du musst Dich nicht trennen. Denn durch diese regelmäßigen Gruppentreffen lernst Du schnell, bestimmte Dinge im Alltag umzusetzen.
5. Du lernst endlich, dass Du was wert bist...dass Du Dir was wert sein musst.
Und weil es gerade noch von Dir geschrieben wurde:
Ich werde versuchen, wie bisher, einen Tag nach dem nächsten zu überstehen, das Beste aus jedem Tag zu machen versuchen, Stellschrauben verbessern, wo es geht, weiter in kleinen Trippelschritten, soweit sie möglich sind, vorankommen und mich dabei ständig kritisch überprüfen, ob es wirklich keine bessere Möglichkeit gibt.
Genau dabei können Dir diese Gruppen helfen. Lass es einfach mal zu. In Deinem Kreis gibt es solche Gruppen, ich habe gerade mal gegoogelt. Anrufen, hinfahren und das erste Treffen mitmachen. Der Rest ergibt sich von selbst.
Letzter Punkt:
Psychische Krankheit -> Co-Abhängigkeit.
Auch der Co-Abhängige ist oder wird psychisch krank....und auch er sucht sich Menschen, die ihm zuhören, denen er sein Leid klagt. Auch er glaubt, sein Päckchen ist das Schwerste auf Erden...und auch er benötigt Grenzen von "gesunden" Menschen. Findet er sie nicht, entsteht die zweite Abwärtsspirale und es werden z.B. die eigenen Kinder auch noch mit involviert. Die können sich auch nicht distanzieren...dritte Abwärtsspirale.
In diesem System gibt es unglaubliche viele Dynamiken....und alle führen abwärts.
Der Stärkste in diesem Drama -und damit sind wir wieder bei Dir, dem "Pfeiler"- hat die riesengroße Chance, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Wenn er sich drauf einlässt, wenn er sich Hilfe sucht unter seinesgleichen...wenn er bereit ist, neue Wege zu gehen und andere Denkansätze zuzulassen.
Sorry, dass es so lang geworden ist.
Mich berührt das Thema, denn ich bin Die, die es vor Jahren geschafft hat, als Einzige einer großen Familie diesen verfluchten Kreislauf zu durchbrechen. Fünf Jahre Gruppenabende....das Ergebnis ist eine lebensfrohe und dem Leben unglaublich dankbare Frau.