Ich finde, dass allein die Aufmachung von Online-Communitys meist schon eine ganz andere Erwartungshaltung, als bei einem realen Aufeinandertreffen, provoziert. Natürlich muss das Fehlen des ersten realen Eindrucks voneinader kompensiert werden und jeder durch gewisse Basis-Angaben Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch in all den Fragenkatalogen und "Ich mag/Ich mag nicht-Listen" finden sich meiner Meinung nach sehr häufig Punkte, die für ein Offline-Kennenlernen zunächst mal überhaupt keine Rolle spielen würden. Das fängt bei der Optik an: Wenn ich in der Discothek, einem Café oder sonst wo bin, springen mir sicher Menschen mit gewissen optischen Merkmalen eher ins Auge, als andere. Ich habe aber kein Maßband dabei und überprüfe, ob derjenige nun 1,75m oder 1,80m misst und grübele auch nicht darüber nach, ob er oder sie nun 75 oder 90kg auf die Waage bringt. Selbst die Augenfarbe nehme ich bei der ersten Begegnung nur selten sofort bewusst wahr. Oftmals finden sich aber in Profilen oder Gesuchen (wohl bemerkt beider Geschlechter) recht konkrete Wünsche hierzu. Ebenso verhält es sich bei Interessen, dem bevorzugten Film- und Musikgenre, Reisezielen, Hunderassen, etc.
Man formuliert also schon bevor man auf Online-Plattformen überhaupt mit Anderen in Kontakt kommt ein vorgefertigtes Idealbild aus, das bei einer "regulären" Begegnung vermutlich gar nicht entstanden wäre beziehungsweise wovon man vieles erst im Verlauf eines oder mehrerer Gespräche entdeckt hätte.
Viele Profile sind zudem auch noch völlig überladen von Informationen. Ich achte auf ein gepflegtes und möglichst "vollständiges" Profil (in erster Linie, weil ich Perfektionist und Vollständigkeits-Fanatiker bin), aber ich führe besagte Like/Dislike-Listen nicht, protokolliere nicht jeden wirren Gedanken, der mir den Tag über durch den Kopf schießt und lade nicht mindestens jeden zweiten Tag ein neues Selfie hoch. Ich biete Leuten, die auf mein Profil stoßen eine Momentaufnahme - denn mehr würden sie bei einer Begegnung auf offener Straße auch nicht bekommen. Es soll als Orientierung dienen, vielleicht einen groben Leitfaden bieten, aber ich offenbare mich nicht wie ein offenes Buch. Das, was ich als too much information definiere, mag anderen als optimale Grundlage für ein Gespräch dienen, wiederum andere schreckt es aber ab oder es nimmt ihnen einfach den Wind aus den Segeln, weil bereits alles Nötige gesagt ist und nicht viel Handlungsspielraum bleibt.
Beide Wege mögen in Ordnung sein, jeder Charakter ist schließlich mehr oder weniger extrovertiert und das äußert sich auch in Profilen.
Entscheidend ist für mich letztendlich immer, wie weit man sich selbst und andere auf solche gemachten Angaben festnagelt. Jeder kann, soll und darf seine Vorlieben haben, auf die er/sie besonders viel Wert legt und genau so seine Tabus, über die es keiner Diskussion bedarf (nicht ausschließlich, aber besonders im sexuellen Bereich). Man sollte meiner Meinung nach aber nicht alles haarklein in Stein meißeln. Gemeinsamkeiten sind wichtig, zu Beginn sind für mich die Gegensätze jedoch sehr viel spannender, denn die offenbaren mir etwas für mich Neues. Ob zwischen beidem ein Gleichgewicht herrscht, lässt sich nur herausfinden, wenn man sich mental Dingen öffnet, die unter all den Kriterien nicht bedacht oder sogar ausgeschlossen wurden. Das bedeutet nicht, dass ich mich zu stundenlangen Debatten über einen Fetisch hinreißen lasse, von dem ich hundertprozentig weiß, dass er nicht mein Fall ist und auch nicht, dass ich mich zu einem Date auf die Hundewiese mitnehmen lasse, wenn ich panische Angst vor Hunden habe. Es bedeutet aber sehr wohl, dass ich in ein zugeschicktes Musikvideo reinschaue, auch wenn es Schlager ist und ich Schlager nicht ausstehen kann oder dass ich ein Foto positiv bewerte, auf dem jemand mit wunderbarer Ausstrahlung und blonder Mähne zu sehen ist, auch wenn ich eigentlich mehr auf rote Haare stehe. Fiktive Beispiele natürlich.
Es kann immer sein, dass ich auf einen Punkt stoße, der mir nicht zusagt. Es kann immer sein, dass ich einen Kontakt durch diesen Aspekt kategorisch ausschließe. Es kann aber durchaus auch sein, dass ich drum herum so viel anderes Interessantes erfahre, dass diese womögliche Kleinigkeit für mich plötzlich nicht mehr so sehr ins Gewicht fällt. Persönlichkeiten entwickeln sich und ihre Prinzipien mit ihnen.
Soziale Kontakte erfordern immer ein gewisses Maß an Arbeit, finden aber eigentlich auch immer irgendwie zum Zeitvertreib statt. Ich gebe mir gern Mühe für mein Gegenüber, aber natürlich nur wenn ich auch für mich etwas Positives daraus ziehen kann und mich sozusagen unterhalten fühle (nicht in dem Sinne, dass jemand meiner Belustigung dienen soll). Natürlich sortiere auch ich Personen, die optisch nicht meinem Geschmack entsprechen und in deren Profilen ich keinerlei Übereinstimmung zu meinem finde, schlichtweg aus, sofern sie mir nichts anderes anbieten und mit einer der besagten 0815-Kontaktversuche daherkommen. Wenn sich aber ein interessanter Aufhänger zu einer Konversation bietet, bin ich bereit darüber hinwegzusehen. Hiervon auszuschließen sind Nachrichten, in denen man mir von vornherein dumm kommt.
Im schlimmsten Fall verläuft so ein "Experiment" im Sande. Lebenszeit vergeudet hab' ich dadurch dann nicht, sondern mich und die Welt um mich herum besser kennen gelernt.
In diesen Ansicht komme ich ohne irgendeine Geschlechtertrennung aus - ich handhabe das bei Männern und Frauen gleich und fahre gut damit.
Ganz klar stimme ich aber auch zu, dass vieles tagesformabhängig ist, alles des richtigen Zeitpunkts bedarf und man sich niemals zu etwas verpflichtet fühlen sollte. Wenn sich in mir etwas dagegen sträubt, jemandem zu antworten, dann ist das beschriebene Interesse eben nicht geweckt und ich lasse es.