Keine Gewalt
Ich kann mit Gewalt nichts anfangen - aber ich kann mit Fürsorge sehr viel anfangen und selbstverständlich gibt es sozial wie selbstverständlich akzeptierte Lebensbereiche, die vordergründig unglaublich gewalttätig erscheinen (und tatsächlich auch ein ausgesprochenes Maß an Bemächtigung des Körpers eines Anderen beinhalten), bei denen sich aber in dieser Bemächtigung eines fremden Körpers trotzdem das höchstmögliche Maß an Fürsorge für einen anderen Menschen ausdrückt. Gemeint sind natürlich medizinische Berufe und deren Artverwandte.
Niemand käme auf die Idee, einen Chirurgen per se für einen gewalttätigen Menschen zu halten oder ihn gar wegen Körperverletzung zu verklagen (zumindest nicht, so lange die von ihm durchgeführten Eingriffe gelingen
), weil er z. B. eine dringend notwendige, lebensrettende Amputation oder Operation durchführen musste. Dabei schneidet der Chirurg u. U. sogar mit scharfen Instrumenten ganze Gewebeteile eines fremden Körpers weg und verstümmelt damit notgedrungen, wenn auch mit deren Einverständnis, andere Menschen.
Den eigenen Zahnarzt wünscht man zwar gelegentlich auf den Mond, aber dennoch legt man sich durchaus freiwillig auf den Behandlungsstuhl und erlaubt ihm, dass er einem sprichwörtlich auf die Nerven geht.
Und auch einem Krankengymnasten gestattet man, dass er durchaus schmerzhafte Verrenkungen und Übungen mit einem durchführt, weiß man dabei doch um ein höheres, gemeinsames Ziel, das der Genesung und des in der Ferne winkenden Wohlbefindens.
Vergleichbar gibt es natürlich auch "Seelenchirurgen" (Priester, Psychiater, Therapeuten), denen wir tiefste Einblicke in unser Gefühlsleben gestatten, weil wir um die späte Belohnung durch das im Moment unangenehme Tun wissen. Wir wissen, es wird uns besser gehen, wenn wir ihnen gestatten, uns zu beraten und zu behandeln.
All diese Berufe leben von einer sehr wichtigen Ingredienz: dem Vertrauen zwischen Therapeuten und Klienten.
Wir wissen, dass der Therapeut u.U. ausgesprochen schmerzhafte Dinge mit uns tun wird, aber wir vertrauen ihm, seinem Können und seiner Erfahrungen so sehr, dass wir ihm diese Eingriffe in unsere Unversehrtheit gestatten - auf dem Weg zu einem höheren Ziel und einem besseren Lebensgefühl.
Diese Betrachtungen im Kopf behaltend: wie kann man seine Intimität einem anderen Menschen gegenüber intensiver ausdrücken, als dadurch, dass man ihm den kompletten Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Seele anvertraut, der auch beinhalten kann, dass man beides in Grenzen versehrt, um einen anderen, gemeinsamen, intimen, schöneren Zustand zu erreichen? Den offenen Umgang mit der eigenen Seele gestatten wir äußerst schnell, wir nennen das "ich bin verliebt" und akzeptieren aus gescheiterter Liebe resultierende Narben durchaus. Niemand käme auf die Idee, das verurteilen zu wollen. Die Aufregung ist aber groß, wenn jemand die komplette Verfügungsgewalt über den eigenen Körper in fremde Hände legt, wenn er das vertrauensvoll tut.
Aber genau dieses Vertrauen und dessen Missbrauch sind es auch, die die scharfe Grenze zwischen konsentierter Gewalteinwirkung z.B. im Rahmen eines BDSM-Settings und missbräuchlicher Gewaltanwendung z.B. im Rahmen verachtenswertester häuslicher Gewalt ziehen. Ein vertrauter, "süßer" Schmerz in orgiastischer Extase wird akzeptiert, der blaue Fleck vom lustvollen Schlag auf das Gesäß nicht mehr? Die äußerlich gleich aussehende Ohrfeige kann so einerseits Ausdruck innigster gemeinsamer Wünsche und Intimität und andererseits zutiefst treffender Ausdruck des Vertrauensmissbrauchs sein.
Das ist für den Außenstehenden nicht zu unterscheiden und führt deshalb zu so komplizierten Weiterungen und vermutlich auch deshalb häufig zur gesellschaftlichen und individuellen Ächtung von BDSM-Praktiken. Im Prinzip ist das Vertrauen und die Innigkeit zwischen tatsächlichen BDSM-PARTNERN (und damit sind nicht irgendwelche arrogant-dümmlichen Hobbyrohrstockschwinger gemeint) aber gut nachvollziehbar und bisweilen durchaus beneidenswert.