Komplexität
Wie und wo anfangen...?
Vielleicht persönlich. Wenn ich in den nachfolgenden Zeilen von Gewalt spreche, meine ich meist physische Gewalt. Der psychische Aspekt ist viel zu komplex als dass ich groß darauf eingehen möchte.
Ich selbst habe nur wenig Gewalt erfahren und bis auf eine sehr leichte Prügelei im Kindesalter mit meinem damals besten Freund (und eine Menge mehr Raufereien mit meinen Geschwistern, die ich alle furchtbar lieb habe), habe ich auch niemandem Gewalt zugefügt.
Ich habe absolut keine Erfahrung mit SM oder BSDM. Ich kann also gar nicht darüber sprechen. Denn um über etwas sprechen zu können, muss man wissen, worüber man spricht. Genausowenig kann ich jemandem sagen, wie es sich anfühlt, im Weltall spazieren zu gehen.
Und solange ich diese Erfahrung nie selbst erlebt habe, werde ich auch niemals in der Lage sein, es nachzuFÜHLEN.
Niemand kann jemand anderem ERKLÄREN, wie es sich ANFÜHLT, verliebt zu sein. Gefühle kann man nicht erklären. Die Erklärung von Gefühlen scheitert bereits an der ersten Hürde: Die Übermittlungsform - die Sprache.
Selbst wenn der Mensch, dem ich etwas erklären möchte, unter jedem Wort, welches ich ihm sage, dasselbe versteht wie ich (was nicht der Fall ist), wird es ihm am Ende nicht möglich sein, aus dem Gesagten die gleichen Gefühle abzuleiten. Selbst wenn ich versuche, meine Sprache so gewählt wie möglich auszudrücken, so sinnlich (in dem Sinne, dass ich die menschlichen Sinne versuche anzusprechen) wie möglich, ist es nicht möglich, dem anderen, diese Gefühle zu erklären.
Rational verstehen ist etwas anderes. Ich kann rational verstehen, wenn andere mir mitteilen, dass sie Gewalt in einem bestimmten Kontekt erotisch finden. Ich kann es verstehen, weil sie es mir mitteilen. Sofern ich davon ausgehe, dass es die Wahrheit ist, die mir andere Menschen erzählen, kann ich akzeptieren, dass es Teil der Realität ist. Dass es eben Menschen gibt, die so empfinden. Das ist der rationale Part.
Der emotionale Part ist wesentlich komplexer. Da strömt soviel zusammen.
Erst einmal: Kann ein Mensch etwas fühlen, was er nicht selbst erlebt hat? Nein!
Aber, warum ensteht zwischen einigen Menschen eine starke emotionale Verbindung, obwohl sie sich teilweise sehr stark voneinander unterscheiden? Die Frau kann von dem Gefühl beim Reiten sprechen und der Mann von dem Gefühl beim Autofahren. Es sind zwei unterschiedliche Tätigkeiten, aber die dabei entstehenden Gefühle können sich bisweilen ähneln. Und beide sprechen dann von der Freiheit, die sie fühlen. Die Welt an sich vorbeiziehen lassen. Den Kopf frei kriegen. Etc.
Die Sprache ist wieder die rationale Übersetzung der Emotionen und es verliert sich das Gefühl... das ist klar, aber es findet, obwohl die Tätigkeit eine andere ist, eine emotionale Übereinstimmung statt. Der eine empfindet scheinbar ähnliche Gefühle wie der andere, obwohl sich die Tätigkeit, bei der diese Gefühle entstehen, nicht dieselbe ist.
So, wie lässt sich das jetzt auf das Beispiel mit der Gewalt übertragen? Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Und das hat unterschiedliche Aspekte. Ich stelle hier einige Behauptungen in den Raum. Ich bin weder Soziologe, Psychologe, noch sonst irgendein -loge. Also, alles ist nur meine Meinung (gepaart mir einer Menge Halbwissen und über die Jahre zusammengesammelten Bruchstücken von gesammelten Wissen)
Behauptungen:
1. Gewalt wird von einem Großteil der menschlichen Weltbevölkerung in beinahe jeder Kultur als etwas Destruktives und Negatives bewertet.
2. Gewalt in der Natur dient dem Arterhalt, dem Erlegen und anschließendem Verzehren von Beute und der Verteidigung gegenüber Feinden.
3. Negative Erfahrungen durch Gewalt (sei es im Kindes- oder im Erwachsenenalter) sind sehr weit verbreitet.
4. Kinder (und Jungs im Besonderen - auch wenn heutzutage anderes in den Medien behauptet wird) werden dazu erzogen, Gewalt als etwas Negatives zu betrachten. Und bei Nichtbefolgung der Erziehung droht Strafe - bisweilen in Form von Gewalt (oha!).
5. Die ausgeübte Gewalt beim Tier unterscheidet sich in vielen Aspekten von der ausgeübten Gewalt beim Menschen.
Nähere Betrachtungen
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Punkt 1: Gewalt im menschlichen Zusammenleben
Was weiß ich über Kultur? Nicht genug, möchte ich meinen. Ich werde also auch hier wieder die Klappe halten über Themen, von denen ich nichts verstehe. Ich werde nicht die eine Kultur nennen und behaupten, in dieser Kultur sei es soundso (außer in der Kultur in der ich selbst lebe und zu der ich mir eine Meinung erlaube).
Was ich also noch dazu sagen kann ist:
a. Es gibt Kulturen, in denen ist der Gebrauch von Gewalt weniger gesellschaftlich geächtet und daher in der Erziehung auch weniger unterdrückt. Die Hemmschwelle zur Ausübung von Gewalt ist also gemindert.
b. Gewalt gegen Personen oder Tiere kann als Mittel zum Zweck dienen. Dieser Zweck kann sein:
1. zur Unterdrückung, Überwältigung oder Dominierung
2. zur Verteidigung (von sich selbst und/oder anderen)
3. zum Vergnügen
Lediglich die Verwendung von Gewalt zur Verteidigung wird in der westlichen Kultur mehrheitlich als etwas Positives gewertet (wenn auch nicht von jedem). Alle anderen Zwecke der Gewaltanwendung werden von der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft geächtet und von der StaatsGEWALT bestraft. Man ist zu der Einigung gekommen (wie auch immer man dazu gekommen sein mag...), dass es im Interesse aller ist, sich nicht gegenseitig Gewalt zuzufügen. Die Gründe dafür, warum diese Vereinbarung sich positiv auf das menschliche Miteinander und das Leben in einer zivilisierten Gesellschaft auswirken, sprengen den Rahmen dieser Diskussion. Einer davon ist jedoch der, dass sich nicht alle gegenseitig umbringen und somit den Zerfall der Zivilisation zur Folge haben.
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Punkt 2: Gewalt in der Natur
Es gibt einen Fortpflanzungstrieb. Aber es gibt keinen Gewalttrieb. Man spricht daher von "Gewaltbereitschaft". Fortpflanzung ist ein Muss für Tiere, denn sonst sterben sie aus. Nahrungsaufnahme ist ebenfalls ein Muss. Ein Tier muss essen, sonst stirbt es. Es gibt viele Tiere, die sich ausschließlich von Pflanzen ernähren. Sind diese Tiere "gewaltbereit"? Ja, das sind sie: Sowohl die männlichen als auch die weiblichen Tiere sind in der Lage, sehr gewalttätig zu werden, wenn es darum geht, ihren Nachwuchs vor Feinden zu beschützen.
Allerdings sind es nur die Fleischfresser, die anderen Tieren "Gewalt" zufügen, um sie zu verzehren. Diese Gewalt dient aber nicht dem Lustgewinn, sondern lediglich dem Beschaffen von Nahrung.
Ebenso ist der Akt der Fortpflanzung unter Umständen mit Schmerzen verbunden. Ob jetzt aber ein Lustgewinn durch die Schmerzen stattfindet, bezweifle ich. Ich kenne allerdings nicht den derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand. Und ich schließe niemals etwas 100% aus. Also vielleicht empfinden Tiere ja etwas dabei. Und vielleicht empfinden sie Lust, wenn sie Schmerzen spüren und Lust, wenn sie anderen Tieren Schmerzen zufügen. Wir werden es wohl sobald nicht erfahren.
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Punkt 3: Negative Erfahrungen durch Gewalt
Das Thema ist groß. Viel zu groß. Viel zu viel Unterbewusstes, Verdrängtes, Wiederholtes, Herbeigesehntes, Nachgeahmtes.
Ich gehe nicht darauf ein. Nur soviel: Unsere Kindheit, unsere Erfahrungen, unsere Erziehung, unser Umfeld (Freunde, Familie, Medien, Schule, etc.): Alles prägt uns auf so extreme Weise, dass dieser Punkt wenn es um das Thema Gewalt geht (aber auch jedes andere) niemals unterschätzt werden sollte. Der Mensch ist bist zu einem so extremen Grad sozialisiert, dass er in der Lage ist, seine eigene tierhafte Natur (und damit viele seiner Triebe) stark zu unterdrücken, sich psychologisch davon abzukapseln und nicht minder häufig auch davon krank wird.
Was uns beibegracht wird oder was wir nachahmen trägt den wahrscheinlich fundamentalsten Anteil dazu bei, wie sich jeder Mensch innerhalb einer Gemeinschaft verhält. Nicht umsonst ist die Anzahl der Menschen, die sich aktiv und bewusst gegen gesellschaftliche Zwänge und Konventionen durchsetzt so gering.
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Punkt 4: Jungs schlagen keine Mädchen! Frauen und Kinder zuerst!
Emotionale Verankerung. Die Gesellschaft gibt das vor. Frauen werden (zumindest an der Oberfläche) in hohem Maße vor Gewalt beschützt. Auch wenn die Medien es häufig anders sehen: Die meiste Gewalt erfahren nach wie vor Männer durch andere Männer. Da gibt es genügend Statistiken.
Aber Gewalt gegen Frauen (und hier reden wir ausschließlich von ungewollter Gewalt) ist dennoch sehr hoch und weit verbreitet. Trotz der Erziehung. Oft im Affekt, aus Kontrollverlust, emotionaler Instabilität des Mannes.
Meine persönliche, etwas weniger gesellschaftlich akzeptable Meinung: Ich persönlich glaube, das Problem ist ein fundamentaler Mangel des Mannes, sein eigenes Gewaltpotential einzuschätzen, zu verstehen und zu kontrollieren.
Ich glaube wirklich, dass es weniger ungewollte Gewalttaten gäbe, wenn man Männern erlauben und zugestehen würde, Gewalt auszuüben. Undzwar bereits als Kinder. Um Grenzen verstehen zu lernen. Um zu lernen, wie weit sie gehen können. Und um zu lernen, wo die Grenzen sind. Werden diese Grenzen nie erfahren, gibt es keine Grenzen. Wird Gewalt niemals ausgeübt, staut sie sich an. Energie löst sich nicht auf. Sie wird irgendwann herausgelassen, entweder bewusst und gewollt oder unbewusst und ungewollt.
Ich glaube aber auch, dass es noch eine weitere Ebene gibt: Die Frau beschützt die Kinder. Der Mann beschützt die Frau (denn die Frau gibt Leben, Nachfahren).
Sich um Kinder zu kümmern, der Mutterinstinkt, ist in Frauen im Allgemeinen stark verankert. Ich glaube, in Männern ist ein Instinkt verankert, der Frauen beschützen möchte. Ich glaube daran. Es könnte auch völlig falsch sein (wie vieles, was ich hier von mir gebe).
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Punkt 5:
Habe ich schon bei Punkt 2 und Punkt 4 mit untergebracht, denke ich.
Ein Punkt, der bisher von mir nicht zur Sprache gebracht wurde, aber unabdingbar ist...
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Zusatzpunkt 6: Gewalt als Form der Zuneigung/Lust an Gewalt
Ein Punkt, zu dem ich nur bedingt etwas sagen kann und meine Meinung sicherlich mehr als angreifbar ist, da ich sie ja nicht selbst auslebe.
Ich glaube, viele Menschen haben erst einmal Angst davor, Gewalt zu erfahren. Und viele Menschen haben ebenfalls Angst davor, jemandem Gewalt zuzufügen.
Und das erst einmal unabhängig davon, ob diese Gewalt als etwas "Positives" oder "Negatives" empfunden wird. Das erste (Gewalt erfahren), weil es in der Regel etwas Unangenehmes ist, da Gewalt meist mit Schmerzen verbunden ist. Und Schmerzen in der Regel negative Gefühle und Effekte auf den Körper und die Psyche haben.
Und das zweite (Gewalt ausüben), weil uns beigebracht wurde, niemandem Gewalt anzutun, aber auch weil die Spiegelneuronen in unserem Gehirn uns mitfühlen lassen, wenn eine andere Person Schmerz empfindet.
Ohne mich mit der Praxis als solches auszukennen (und mir darf hier jeder SM und BDSM Experte gerne völlige Ahnungslosigkeit von der Materie attestieren):
Ich persönlich denke, dass Gewalt im ursprünglichen Kontext nichts Positives hat. Sie wird im Ursprung nicht dafür eingesetzt, um der Person, welche die Gewalt empfängt, etwas Gutes zu tun.
Ich denke, vieles sind Nachahmungen von Erlebnissen aus dem Elternhaus. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kind und Eltern. Die von den Eltern empfangene Strafe (physisch und psychisch) und gleichzeitige Liebe (die der Eltern zum Kind, aber auch die des Kindes zu den Eltern).
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich hier keine Wertung von mir gebe, sondern lediglich eine Ansicht. Es soll sich keiner von meiner Ansicht verletzt, angegriffen oder verurteilt fühlen. Es ist MEINE Ansicht. MEINE Ansicht negiert nicht die Ansichten anderer Menschen.
Okay... warum erzähle ich das überhaupt alles? Was hat das denn jetzt mit dem Thema zu tun?
Nun, einfach alles. Jeder einzelne Punkt betrifft den Menschen, der dir gegenübersteht. Die Gesellschaft, die Natur, die eigenen Erfahrungen mit Gewalt, die Erziehung. Die menschliche Persönlichkeit ist eine Anhäufung von all diesen Dingen, die sich als Glaubenssätze im eigenen Kopf zusammenfügen. Ein "Ego", welches man für sein Selbst hält. Es ist dein geglaubter Wesenskern, von dem du denkst, dass du es bist.
Natürlich ist der Mensch mehr als sein Ego. Denn das Ego ist niemals vollendet. Glaubenssätze verändern sich sehr oft - meinst passiv, manchmal aktiv. Es gibt so einige (wenn auch nicht überwältigend viele) Menschen, die daran arbeiten, ihr Ego bewusst zu zerstören, um auf den Trümmern des alten Selbst neue Gebäude zu errichten. Hier gibt es solche Menschen. Das einst für die einzige Realität gehaltene wurde gesprengt. Und es wurden neue Erfahrungen gemacht.
In der Vergangenheit habe ich oft gesagt "man kann niemanden ändern, es sei denn, derjenige möchte es selbst". Im Kern halte ich an dieser Überzeugung fest. Auch wenn sie einige Schwachstellen hat. Es gibt natürlich gewisse Möglichkeiten, eine Person gegen ihren Willen zu ändern. Aber das ist Gewalt. Es ist in gewisser Weise invasiv. Ein Einbruch in die Psyche eines anderen. Ein Angriff.
Inwieweit man damit konform geht, jemanden zu etwas zu zwingen, kann jeder für sich selbst entscheiden. Bei mir persönlich ist da eine Grenze erreicht, weil es bedeutet, jemand respektiert meine Grenzen nicht, erkennt mich als Mensch nicht an, weil er gewillt ist, meine Persönlichkeit zu zerstören, um seinen Willen durchzusetzen.
Auch Manipulation ist ein solches invasives Mittel. Nicht umsonst ist Manipulation Teil von Folter. Es geht darum, in den Kopf des anderen zu gelangen. Gehirnwäsche.
Der Film "Inception" ist in dieser Hinsicht sicherlich auch interessant. Das Konzept, jemand anderem eine Idee einzupflanzen, ganz tief im Unterbewusstsein, damit diese Idee zu einem Gedanken heranwächst und dieser Gedanke zu Handlungen. Soetwas geschieht jeden Tag. Wird sehen etwas und es bleibt irgendwo im Unterbewusstsein hängen. Und irgendwann kommen wir wieder darauf zurück und machen uns Gedanken darüber. Und dann handeln wir danach. Und plötzlich stehen wir an der Kasse mit dem neuesten Technik-Scheiß, den wir doch eigentlich niemals kaufen wollten.
Psychopathen sind ebenfalls Meister darin, in den Kopf eines anderen einzudringen und ihn zu manipulieren.
Ich hasse äußere Eingriffe in meine Psyche. Aber ich halte sehr viel davon, seine eigene Psyche als unfertige Baustelle zu betrachten. Nach wie vor ist nichts stärker als die intrinsische Motivation. Es kann noch so viel von Außen kommen, deine innere Motivation (sofern vorhanden) ist meist stärker.
Lange Rede kurzer Sinn: Den Mann von etwas zu überzeugen, welches seinen eigenen Überzeugungen zuwiderläuft ist (wie hoffentlich hinreichend erklärt) in vielerlei Hinsicht mit einigen Anstrengungen, Bedenken und Risiken (für ihn und seinem Umfeld) verbunden. Das ist Arbeit am geistigen Fundament eines anderen Menschen.
Mir kommen da viele Fragen: Rechtfertigt es der eigene Lustgewinn, einen anderen Menschen von seinen Überzeugungen abzubringen? Oder möchte man den anderen "nur" von seiner eigenen Ansicht überzeugen? Ein wenig missionieren? Oder geht es darum, sich selbst besser verstanden zu fühlen? Und wenn man von anderen besser verstanden wird, fühlt man sich dann mehr akzeptiert? Von den anderen oder von sich selbst?