Anlässlich des Phänomens der Nacktwandernden schrieb die NZZaS mal einen - wie ich finde - beachtlichen Artikel. Ich bin so frei.
NZZ am Sonntag
Die nackte Wahrheit
Barbara Höfler
8.6.2016
Im Vorfeld zum 10. Weltnaturalistentag von vergangenen Sonntag kam es im Bietschtal zu einem Zwischenfall, wie er bisher eher aus dem Appenzellischen bekannt war. Zwei Jäger – Mann und Frau – sichteten in der Bergeinsamkeit einen Nacktwanderer. Die mit Teleobjektiv ausgestatteten Jägersleut’ schossen Fotos, die anschliessend in TV und Presse zirkulierten, inklusive Klagelied der Zeugen, wonach eben störe, wie «dieser Narzisst» die «majestätische Landschaft, der man als Mensch für gewöhnlich mit grossem Respekt begegnet (. . .), als reine Kulisse für seine Selbstliebe missbraucht».
Bemerkenswert spät fiel in dem Lamento, dass der Narzisst dann auch noch onanierte. Fast, als wäre nichts anderes zu erwarten gewesen. Nacktwandern, überhaupt öffentlich Nacktsein, ist für viele schliesslich eine Form geistiger Verwirrung.
Das Anliegen des Weltnaturistentages scheint Stand seines zehnjährigen Bestehens jedenfalls noch nicht gänzlich eingelöst. Im Kampf ums «Menschenrecht auf funktionelle Nacktheit in natürlicher Umgebung und unter natürlichen Bedingungen» kam auch die den Tag veranstaltende «Internationale Naturisten-Föderation» (INF) in den vergangenen 65 Jahren nicht recht vom Fleck.
In manchen Gegenden der Welt stehen noch heute fünf Jahre Knast bis lebenslänglich auf wiederholtes Nacktbaden, etwa in Montana, USA. Im Aargau belegt man Nacktwanderer seit 2009 mit dreistelligen Geldstrafen, im Wallis nur mit Selbstjustiz. Facebook-Kommentare zum Bietschtal-Fallout lauten etwa: «Die Tiere im Wald haben mehr Anstand als der.»
Im Lichtkleid
In der majestätischen Landschaft der Freikörperkultur gibt es kurzum nur lovers und haters. Und die haters liegen quantitativ immer vorn: Die zwölf eidgenössischen Naturistenvereine zählen etwa 3000 Mitglieder. Dazu kommen noch Nudisten mit Abgrenzungsproblemen und Dauer-FKKler. All deren Argumente pro Adamskostüm fassen zusammen, worum es für die 8,070 Millionen Restschweizer bei der ganzen Sache schon einmal auf keinen Fall geht: ums «Sonnenbad im Lichtkleid» und «Freiheit von Körper und Geist» statt um Sex. Die Überbetonung offen präsentierter Geschlechtsteile bei gleichzeitig beteuerter sexueller Interessenlosigkeit macht Aussenstehende nun einmal misstrauisch.
Hüllenlose Verpflegung in einem Camp in Südfrankreich. (Bild: Regis Duvignau / Reuters)
Hüllenlose Verpflegung in einem Camp in Südfrankreich. (Bild: Regis Duvignau / Reuters)
Doch selbst ohne sexuelle Handlungen bleiben Hygienefragen im «nacktiven» Alltag offen. Geschlechtsteile haben schliesslich eine Doppelfunktion als Ausscheidungsorgane. Und wo der nudist way of life alles nackt vorsieht – auch Restaurantbesuche –, führt das automatisch zum nächsten Vorbehalt: Haben diese Leute eigentlich noch Würde?
Dem amerikanischen Schriftsteller Mark Haskell Smith ist zu danken, dass er zur Klärung dieser Fragen für uns höchstens nachts nacktbadende Feiglinge ins Unbekannte aufgebrochen ist – ein Jahr lang als «Nacktforscher in der Welt der Nudisten». Der Titel «Naked at Lunch» muss wörtlich genommen werden, wenngleich der Leser rasch erfährt, dass Nudisten im Restaurant zumindest ein Handtuch unterlegen.
Smith macht auch sonst alles mit. Er stiefelt auf der «Naked European Walkingtour» mit 19 Nudisten durch die Alpen, macht Ferien im «Vera Playa», einem Resort für «nichtsexuelles, gemeinschaftliches Nacktsein». Er beobachtet in der durch Houellebecq bekannt gewordenen FKK-Anlage Cape d’Agde Blowjobs im Gebüsch und unternimmt eine Nacktkreuzfahrt – den «Big Nude Cruize» des Nakation-Reiseunternehmens «Bare Necessities». Nakation, das ist der Spass aus naked und vacation, wenn «scheinbar ganz normale Leute Tausende Dollars hinlegen, nur um mit einem Haufen anderer Leute die Penisse schlenkern zu lassen», so Smith.
Wind und Sonne
Nackt am Buffet, nackt im Fitness-Studio, nackt in der Disco – 2000 Menschen, überwiegend im Rentenalter, denn das Thema Nudismus trendet nicht gerade. Doch dazu später. Zunächst beobachtet Smith Hoden und Brüste, die «sich von links nach rechts mit dem Schiff auf den Weiten des Ozeans wiegten», und «schwabbelige Schwarten», die Richtung Boden schwappten. Was wollen diese Menschen?, fragt er sich. Ist es Exhibitionismus? Wollen sie selber spannen? Nicht lange, da parliert der Autor aber selbst schon in der Nacktweinhandlung über Rosé-Sorten. Wind und Sonne fühlen sich plötzlich gut an auf dem nunmehr «wie Katzengold glänzenden» Geschlechtsorgan.
Aber tatsächlich: Ausser in der französischen Swinger-Anlage plant unter Smiths Zeugenschaft niemand sexuelle Übergriffe. Die Stimmung sei eher «prüde». Da man seinen Gegnern, den Textilfetischisten, keine Munition liefern möchte, ist offen sexuelles Verhalten strikt verboten. Was zum Bemühen führe, auf keinen Fall sexy sein zu wollen, was auch nicht weiter schwerfällt. Denn mit dem italienischen Philosophen Mario Perniola kommt Smith überein, dass Erotik sich erst im Übergang zwischen Bekleidung und Nacktheit bildet. Eher nicht, wenn man einfach so mit ein paar Nackten im Kreis rumsteht. Warum wollen Nudisten genau das aber dennoch am liebsten den ganzen Tag tun? Smith’ Studienergebnis lautet: Es geht um «Ent-Entfremdung», um einen vielleicht angeborenen Drang zur Nacktheit und die Rückkehr zu einem Naturzustand, in dem Haut unser Kleid war. Sonst nichts.
Nicht Anwalt, nur Mensch
Haut, das war in grauer Vorzeit schliesslich unser Selektionsvorteil bei der Erschöpfungsjagd, bei der haarige Tiere irgendwann an Hitzschlag starben. Seit wir die feuchtwarmen Äquatorialgebiete verlassen haben, brauchen wir allerdings etwas Warmes zum Anziehen. Kleidung ist mittlerweile aber mehr: auch Theater, Selbstdarstellung, Statusbehang – Entfremdung. Gemeinschaftliches Nacktsein dagegen, so die These, befreit von der Entfremdung. Nackt sei man wieder wie Kinder lediglich Mensch, nicht Anwalt, nicht Handwerker, gleich unter Gleichen. Nudismus, das ist für Smith am Ende seiner Recherchen nicht mehr als eine liebenswerte Form von Hedonismus, verstanden als Streben nach Glück und Genuss. Die eigentliche Frage muss also wohl nicht lauten: Warum machen die das?, sondern: Warum regen wir uns so auf? Wir leben in einer Epoche maximaler Schamlosigkeit, Brüste gibt es schon im Frühstücks-TV zu sehen. Erblicken wir dagegen einmal einen echten nackten Menschen, kommt uns das nackte Grausen.
Echte nackte Menschen sieht man ja auch immer seltener. Denn immer weniger ziehen sich freiwillig aus. In der Schweiz und weltweit kämpfen Nacktvereine mit Nachwuchsmangel. Selbst am Münchner Isarstrand, dem grössten innerstädtischen Nackterholungsgebiet Europas, liegen im Vergleich zu den neunziger Jahren heute so wenig Nackerte, dass die Zahl der Beschwerden schon wieder steigt: Passanten halten die FKKler für Exhibitionisten.
Exotische Rassen
Blickt man in die Geschichte des Nudismus, wird das Unverständnis nur noch grösser: Zu allen Zeiten haben sich die Menschen mächtig anstrengen müssen, um nackt sein zu dürfen. Wir dürften es eigentlich, wollen aber nicht. Das ist unfair den ersten Nudisten am Monte Verità gegenüber, die das Nacktsein im Tessin 1900 noch als «Naturheilanstalt» mit Psychoanalyse und Vegetarismus schmücken mussten, bloss um nackt Gemüse anzubauen, so dass auch ein Hermann Hesse mitmachen konnte.
In Deutschland setzte die Lebensreformbewegung ebenfalls noch voll auf medizinische Benefits des Zivilisationskrankheiten heilenden Lichtbades. Das Dritte Reich pervertierte dann leider auch die idealistische Nudisten-Philosophie und betonte nur den Zuchtwahlaspekt. Für rassenreinere Ergebnisse durch «nackte Gattenwahl» trat etwa der Philosoph der NS-FKK-Kultur Heinrich Pudor ein: «Würde jedes deutsche Weib öfter einen nackten germanischen Mann sehen, so würden nicht so viele von ihnen exotischen fremden Rassen nachlaufen.»
Heute scheint als Devise eher zu lauten: Bloss nicht ausziehen, sonst wird das nichts mehr. In den freizügigsten aller Zeiten nämlich ist Nacktheit ganz offensichtlich kein moralisches Problem mehr, sondern ein ästhetisches von gleicher Zensurkraft.
Wäre der Nacktwanderer vom Bietschtal Cristiano Ronaldo gewesen oder noch besser eine Frau, ein Victoria’s-Secret-Modell etwa, wäre die Schande ja sicher schon aus der Landschaft eliminiert. Das Hauptverdienst der FKK-Kultur ist insofern gleichsam ihr Verhängnis: Sie zeigt Menschen, wie sie sind, nicht wie sie gern wären. Eine narzisstische Kränkung sondergleichen. Und ein klarer Fall: Diese Gesellschaft braucht nicht weniger Nudisten. Sondern mehr.
Lg, Dan.