Schmetterling und Kolibri
Trauriges, Lustiges, Nachdenkliches, die Platte hält für jeden etwas bereit. Heute möchte ich die Geschichte von Schmetterling und Kolibri erzählen. Wie so viele meiner Erzählungen ist auch diese nicht im klassischen Sinne erotisch. Aber vielleicht magst Du sie ja trotzdem:
„Noch nicht mal halb neun“, ärgerte sich Ulrike über die schnarrende Türglocke. Sie knallte die Kaffeetasse etwas zu hart auf den Küchentisch. Der Milchkaffee schwappte auf die Marmeladenschnitte, die - appetitlich zubereitet - einen hübschen Kontrast zu dem grüngoldenen Frühstückbrettchen bildete.
„Scheiße!“, murmelte Ulrike, während sie sich zur Spüle umdrehte und blind nach dem Lappen tastete. Das ist einer der Vorteile dieser Kleinküchen in der Platte. Du brauchst nie weit zu laufen, sinnierte sie. Es schnarrte zum zweiten Mal, heftiger diesmal. Die gerade zur Erledigung der Wischarbeit angehobene Tasse fiel ihr aus der Hand und zerschellte auf dem Boden.
„Verfickt…! Wenn der Tag schon so anfängt!“ Ulrikes Halsschlagader schwoll an, ein untrügliches Zeichen für alle die sie kannten, ihr nun besser aus dem Wege zu gehen. Nach einem anstrengenden Spätdienst gestern, in dem einiges schiefgelaufen war, hatte sie schlecht geschlafen und noch keine Gelegenheit gehabt, den Frust abzubauen. Das musste der freche Störer jetzt büßen, soviel war klar.
„Na, Du kannst was erleben!“, zischte sie mit zusammengebissen Zähnen und stürzte zum Eingang. Der Schlüssel klirrte im Schloss. Sie riss die Tür auf, packte den dünnen, pickligen Burschen, der etwas verlegen auf ihrer Fußmatte stand, mit beiden Händen am Kragen und schüttelte ihn.
„Wehe, Du hast keinen guten Grund, mich um diese Uhrzeit aus der Küche zu scheuchen! Was willst Du?“
Der völlig verdatterte Kerl begann zu stottern: „Hahahaben sie wwas gegen entlassene Strafgefangene?“
Ulrike sah ihm fest in die Augen, stellte mit professioneller Sicherheit fest, dass er harmlos war und begann lauthals zu lachen. Sie ließ ihn los, zupfte sein Hemd zurecht, strich zwei, dreimal über seinen Kragen, etwa so, als wolle sie den Schmutz wegbürsten und strahlte ihn an. Ein bisschen Abwechslung am Morgen konnte ja nicht schaden.
„OK, Jungchen, den Spruch hab ich schon einige Male gehört. Was hast Du denn verbrochen, dass sie Dich so früh schon entlassen haben?“ Die Frage schien den Besucher noch mehr zu verwirren. Er gab keine Antwort.
„Wat verkaufste denn? Zeitungsabo? Ja? Dit denk ich mir! Los, komm mal rin!“
So schnell sie auf hundertachtzig war, konnte sie sich auch wieder entspannen, eine Eigenschaft, für die sie von ihrem Kollegen und Streifenpartner Willi immer wieder bewundert wurde. Wenn der allerdings erstmal sauer war, dauerte das meist. Ulrike dagegen, konnte nach dreißig Jahren Polizeiarbeit immer noch sehr impulsiv sein und ließ sich gern von ihren Gefühlen leiten. Oft lag sie damit richtig. Auf ihren Job wirkte sich das häufig positiv aus. Manchmal ging es auch schief. Das Risiko trug sie ganz bewusst.
Sie packte den Jungen beim Ärmel und zog ihn in die kleine Zwei-Raum-Wohnung. Der sträubte sich zunächst nicht. Sicher hoffte er, auf leichte Art einen- oder vielleicht sogar zwei Scheine zu machen, also Abos zu verkaufen. Sein Chef, der Oberdrücker, sah es höchst ungern, wenn am Abend einer seiner „Mitarbeiter“ ohne Verkaufserfolg auftauchte. Für diese Fälle verfügte er über ein breites Repertoire an Strafmaßnahmen.
Als der junge Mann die Polizeijacke an der Garderobe bemerkte, war es zwar bereits zu spät, aber dennoch versuchte er es noch mit einem schnellen Abgang.
„Ssicher brabrauchen Sie gar keine Zeitung und tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Auf Wiedersehen.“
Er hatte die Türklinke bereits in der Hand. Die knappe Aufforderung „Du bleibst!“ transportierte einen Unterton, der ihn auf der Schwelle festnagelte. Langsam drehte er sich um. Ulrike musterte ihren Gast ungeniert von oben bis unten.
Ein schlaksiger Kerl, höchstens achtzehn, rund einsfünfundachtzig groß und vielleicht fünfundsechzig Kilo schwer. Das Jungengesicht, verziert mit einer reichlichen Anzahl Pubertätspickel, drückte Sorgen aus. Ulrike neigte berufsbedingt nicht zu übertriebenem Mitleid. Aber irgendwie erinnerte der Typ sie an ihren eigenen Sohn, der jetzt auch in dem Alter gewesen wäre und eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Eine Spur zärtlicher, als man es der taffen Frau zugetraut hätte, fragte sie: „Hast Du Hunger?“
Der Junge druckste herum. Tausend Dinge schossen ihm durch den Kopf und über allem schwebte die Sorge, heute Abend wieder ohne Schein im Quartier aufzutauchen. Er wusste, was ihm dann blühte.
„Ja“, sagte er einfach.
„Komm mit in die Küche!“, befahl Ulrike und ohne weitere Widerworte trottete der Besucher hinter ihr her.
„Hinsetzen!“ Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den freien Stuhl und nahm selbst den Hocker zwischen Tisch und Spüle, den sie vorher schon innegehabt hatte. Sie schob zwei Scheiben Brot in den Toaster und schaltete im Vorbeigehen den Wasserkocher ein. Bis das Wasser kochte, stand noch genügend Zeit zur Verfügung, die Scherben zusammenzufegen und die Kaffeepfütze aufzuwischen.
„War ich das?“, fragte der Junge schüchtern.
„Nee“, entgegnete Ulrike sachlich, „das war ich schon selber, aber Du warst die Ursache.“ Mit einem Schnarren klapperte der Toast aus dem Automaten.
„Kaffee oder Tee?“
„Kaffee, wenn das okay ist.“
Es fand sich noch ein sauberer Becher auf dem Regal über der Spüle. Ulrike füllte einen reichlichen Löffel Nescafé ein und goss kochendes Wasser auf.
„Bedien Dich!“ Sie deutete auf Milch und Süßstoff, die auf dem Tisch bereitstanden und begann ohne lange Umschweife eine der Brotscheiben mit Butter zu bestreichen.
„Erdbeere oder Aprikose?“
„Erdbeere.“
Eine ordentliche Ladung von Huberts selbst gekochter Erdbeermarmelade landete auf der Schnitte und wurde mit dem Löffel verteilt.
„Hier. Lass et Dir schmecken.“ Sie schob das Frühstückbrettchen zu ihm hin, nahm sich ein weiteres vom Regal und begann die zweite Scheibe Brot herzurichten. Sie kauten schweigend. Bilder stellten sich ein. Ulrike tauchte kurz in die Vergangenheit ab, fing sich aber, bevor eine weitere Träne sich lösen konnte.
„Kann ich noch eine?“, fragte der Junge schüchtern. Bereitwillig schob die Frau zwei weitere Scheiben Brot in den Toaster.
„Na klar. Wann haste zum letzten Mal wat jegessen?“
„Vorgestern.“
Ulrike nickte. Sie kannte die Drückermethoden. Wenn der Sklave erstmal eingefangen war, gab man ihm ein bisschen Geld, nahm ihm seine Papiere weg und bildete ihn ein paar Tage lang aus, indem er den Chef oder den Stellvertreter begleitete. In der Zwischenzeit liefen schon einmal die Schulden für Unterkunft und Verpflegung auf. Nun musste man nur noch sehen, dass der „Mitarbeiter“ aus dieser Falle so bald nicht wieder rauskam.
„Is nich so gut gelaufen, in letzter Zeit, oder?“
„Nee.“
„Schlägt er Dich?“
„Bis jetzt noch nicht. Hab halt nix zu essen gekriegt. Aber wenn ich heute Abend keine sechs Scheine hab…“
Armes Schwein, dachte Ulrike. Sie wusste allerdings aus ihrer praktischen Arbeit, sie würde dem Jungen nicht helfen können. Die Sklaven waren meist so verschüchtert, dass sie nie gegen ihren Chef aussagen würden.
„Hat wohl keinen Sinn, wenn ich Dir sage, Du solltest in anzeigen und die Kurve kratzen.“
„Nee. Der letzte der dit vasucht hat wurde einjefangen und windelweich jeprügelt. Hat tagelang nich arbeiten können und dann warn die Schulden noch höher.“
Er kaute weiter schweigend seine Brote und genoss den heißen Kaffee in kleinen Schlucken.
„Was sind das für Tattoos auf Ihrer Schulter?“ Der Junge deutete auf die bunten Bilder, die unter Ulrikes schräg hängendem T-Shirt hervorlugten. Sie zögerte einen Moment, zog dann das Shirt noch ein paar Zentimeter den Arm hinab, sodass das komplette Bild sichtbar wurde. Es zeigte in bunten Farben einen großen Schmetterling und einen kleinen Vogel.
„Schmetterling und Kolibri“, erklärte sie bemüht sachlich.
„Sieht schön aus. Warum gerade diese beiden Tiere?“ Ulrike konnte nicht verhindern, dass ein paar weitere Tränen in ihren Augenwinkeln erschienen. Sie schwieg und auch der junge Mann fragte nicht weiter.
„Darf ich dit ma anfassen?“
„Was?“
„Das Tattoo, darf ich es einmal anfassen?“ Die Polizistin hob die Brauen.
„Warum?“
„Bitte!“ Seinem Kindergesicht konnte sie nicht widerstehen. Sie hielt ihm die Schulter hin. Mit den Fingerspitzen berührte er sehr sacht den kleinen Vogel und strich dann in einer zärtlichen Geste hinüber zum Schmetterling.
„War das Ihr Kind, der Schmetterling?“
„Ja.“
„Ist er weggeflogen?“
„Ja.“
„Und Sie sind der Kolibri?“
„Ja.“
Der Junge nickte und ließ seine warme Hand auf Ulrikes Schulter liegen. „Meine Mama hatte auch ein paar Tattoos“, meinte er mit trauriger Stimme.
In Ulrike zerbarst etwas. Sie hielt die Tränen nicht länger zurück. In zwei silbernen Rinnsalen flossen sie ihr über die Wangen.
„Danke für den Kaffee und die leckeren Marmeladenbrote. Ick muss weiter.“
„Verstehe.“ Ulrike wischte sich das Gesicht mit einem Papiertaschentuch trocken. „Danke fürs Streicheln und für die Erinnerungen. Alles Gute.“
Sie sahen einander noch einen Augenblick an und für einen winzigen Augenblick entstand so etwas wie ein geheimes Einverständnis. Dann stapfte er zur Tür. Ulrike saß noch eine ganze Weile, hing ihren Gedanken nach, seufzte schließlich und begann die Küche aufzuräumen.
„Vielleicht hat Deine Mama ja auch einen Schmetterling“, murmelte sie.
*****
Gegen halb zwölf am Abend, müde und hungrig vom Spätdienst, stapfte Ulrike in voller Dienst-Montur die Treppe zum vierten Stock hoch. Sie fand ihn auf dem oberen Absatz. Die Nase dick angeschwollen, die Augen blau geschlagen, das Gesicht blutverkrustet.
„Ick hätt uff Sie hören sollen“, krächzte er leise.
„Ja, das hättest Du“, nickte Ulrike, während sie mechanisch zum Handy griff, um einen Sanka zu rufen. Der Anruf war schnell erledigt.
„Ja, das hättest Du“, wiederholte sie leise, setzte sich auf die Treppe und legte den Arm um seine Schulter.