Der Chef
Es gibt ja immer mal Leute, die andere für sich arbeiten lassen. Im Prinzip ist das in Ordnung, solange das Geschäft auf Gegenseitigkeit beruht. Also fairer Lohn, für faire Arbeit. In manchen Branchen läuft das anders. Einer verdient, die anderen schuften…
Zum besseren Verständnis dieser Geschichte ist es hilfreich, die Erzählung von „Schmetterling und Kolibri“ gelesen zu haben:
Alternative Fakten oder Oktoberdepression im Hause Meier
Die klebrig-schmuddelige Absteige am Stadtrand roch nach fettigen Pommes-Frites und abgestandenem Rauch. Der Chef hatte den Laden zu seinem Hauptquartier erklärt und seine sechs Sklaven auf die drei gemieteten Zimmer verteilt. Ein weiteres bewohnte er selbst. Das wurde auch täglich gereinigt und aufgeräumt. Die Mitarbeiter bekamen alle drei Wochen frische Handtücher und Bettwäsche und mussten sich ansonsten selber kümmern.
Das tägliche gemeinsame Abendessen, meist gegen neun, trug den Charakter eines Rituals. Nach entsprechender Aufforderung musste der oder die Genannte vortreten und die Scheine abliefern. Als Mindestanforderung verlangte der Chef täglich sechs abzuschließende Zeitungsabonnements. Schließlich hatte man Kosten.
Heute würde es leider anders laufen. Einer der „Angestellten“ hatte sich unter Hinterlassung von Schulden und Personalausweis davon gemacht und solche unerhörte Handlung ließ der Chef in der Regel zunächst an den andern aus. Danach fing er den Flüchtling, oft in aller Gemütsruhe, wieder ein, prügelte ihn im Beisein der anderen durch und statuierte auf diese Art gleich ein abschreckendes Exempel für den Rest seiner Gefolgschaft.
„Euer Kollegenschwein Stefan ist heute Abend nicht zum Treffpunkt erschienen. Ich gebe Euch die einmalige Gelegenheit mir mitzuteilen, wo er sich aufhält. Nun?“ Er blickte mit kalter Miene in die Runde und fand zunächst nur leere, ins Nichts starrende Gesichter. „Ok, Leute, Ihr solltet meine Geduld nicht überstrapazieren. Also, wo ist die Sau?“ Keine Antwort.
„Gut, wie Ihr wollt. Alles auf! In Linie zu einem Glied antreten!“
Der Chef hielt sich auf seine militärische Ausbildung einiges zugute. Immerhin hatte er es beim Barras bis zum Stabsgefreiten gebracht. Die zwei jungen Frauen und drei verbliebenen, spätpubertären Jungen sprangen auf und bildeten die befohlene Reihe.
„Ich warte immer noch auf Antwort. Die Frage war doch verständlich, oder?“ Niemand rührte sich.
„OK, dann auf die harte Tour. Vorweg: das Abendessen sparen wir uns heute, das nächste Frühstück auch. Außerdem wird jeder von Euch morgen zwei Scheine mehr schreiben. Schließlich müssen wir den Verlust kompensieren“, lachte er hämisch. Einer der Jungen stöhnte unwillkürlich.
„Aha. Da hat jemand Einwände.“ Er nahm vor dem Burschen, der ihn angstvoll ansah, Aufstellung.
„Vortreten!“
Schlotternd trat der Bengel einen Schritt vor.
„Nun sag mir offen und ehrlich, mein Junge, was Du von meinen Maßnahmen hältst, Du kannst völlig frei sprechen.“ Während er noch sprach, zog er langsam und voller Genuss ein paar lederne Handschuhe über, straffte jeden einzelnen Finger und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was als Nächstes folgen würde.
„Iich bin mit den Aanordnungen des Chefs völlig einverstanden“, stotterte der Sklave.
„Und was hast Du dann zu stöhnen?“
„Iiich hab Hunger“, würgte der Befragte heraus. Die schallende Ohrfeige kam ansatzlos und riss den schmalbrüstigen Jungen von den Beinen.
„Aber dagegen können wir doch was tun“, sagte der Chef mit liebenswürdiger Stimme. „Ist es jetzt besser?“ Er half seinem Opfer, dessen Nase blutete, auf.
„Und nun noch einmal die Frage in die Runde: Wo steckt das Arschloch? Letzte Chance!“
Eines der Mädchen hatte wohl begriffen, dass er keine Ruhe geben würde und resignierte.
„In dem Block, in dem wir gestern waren, hat er von einer Frau was zu essen gekriegt. Da war mal jemand gut zu ihm. Vielleicht ist er da wieder hin“, sagte sie trotzig.
Der Chef nahm sie ins Visier und bewegte sich, wie in Zeitlupe, auf sie zu.
„Ach? Da war jemand gut zu ihm? Das hört sich ja fast so an, als ob sonst nie jemand gut zu ihm ist? Ich kann nicht zulassen, dass Ihr Euch bei mir nicht wohlfühlt. Ich tue doch alles dafür, oder? Was ist mit Dir? Fühlst Du Dich vernachlässigt, mein Täubchen?“ Das Mädchen gab keine Antwort.
„Ich werde mich um Dich kümmern, Schatz, versprochen. Noch eine kleine Stärkung für mich und dann erwartest Du mich auf meinem Zimmer. Frisch geduscht. Und Du darfst meinen Rasierer benutzen.“ Er fasste ihr mit einer Hand an die Brust. „Haben wir uns verstanden?“ Sie nickte.
„Ich höre Dich nicht“, flötete er. „Haben wir uns verstanden?"
„Ja, Chef.“
„Schön. Alle anderen in die Betten. Morgen früh, Abfahrt sechs Uhr! Wegtreten!“
Die Mannschaft trollte sich und fast alle waren froh, so leichten Kaufes davon gekommen zu sein. Das Mädchen, dem der Chef noch seine besondere Aufmerksamkeit widmen würde, weinte. Ihre Kollegin legte schützend den Arm um sie und führte sie weg.
„Marlene! Ein Jäger mit Pommes und Salat! Und ein großes Bier!“
„Du Arschloch“, brummte die dicke Wirtin leise. „Hoffentlich legt Dich eines Tages einer um.“
*****
Elviras Kopf brummte wie ein Schwarm Hummeln, als sie mit leicht zusammengekniffenen Augen den Späti betrat.
„Kaffee ist alle!“, krächzte sie mit trockenem Mund. „Haste mal ein Alka Seltzer?“ Cem wunderte sich nicht. Nach dem ereignisreichen Abend konnte man mit so etwas rechnen.
„Na klar hab ich“, murmelte er. „War wohl ne lange Nacht?“
„Keine Ahnung“, antwortete Rothütchen, „ich bin heute Morgen in voller Montur in meinem Bett wach geworden. Nur die Strumpfhose und der Slip fehlten. Muss wohl heut Nacht mal pinkeln gewesen sein, aber auch das weiß ich nicht mehr so genau.“
Cem unterdrückte den heftigen Wunsch, schallend zu lachen. Stattdessen meinte er:
„Hattest ja auch ganz ordentlich geladen, mein Schatz, der gute Kurt wird wohl noch pennen.“
„Bestimmt.“ Elvira wurde plötzlich einsilbig und der diplomatische Cem, der sich sein Teil dachte, bohrte nicht weiter nach. Er stellte ein Glas Wasser auf den Biertisch, ließ eine Sprudeltablette hineinfallen und deponierte das Paket Kaffee gleich daneben.
„Vierneunundneunzig für den Kaffee, die Pille geht aufs Haus.“
„Ach gib mir noch ne Tasse zum Wachwerden, Cem. Bis der jetzt zu Hause durchgelaufen ist…“
Ein weiterer Kunde betrat den Laden. Man sah auf den ersten Blick, dass der drahtige Mann im gepflegten Anzug nicht vom Kiez stammte.
„Ah, wunderbar, hier riechts nach Kaffee. Genau das, was ich jetzt brauche. Ich bin mir schon die Füße wund gelaufen heute. Guten Morgen zusammen“, grüßte er freundlich.
Cem mochte solche Typen nicht. Mit professioneller Distanz goss er einen weiteren Becher voll und stellte ihn auf die Theke. Der Fremde griff sich das heiße Getränk und nahm ungefragt bei Elvira Platz. Die schien durchaus angetan von dem gutaussehenden Burschen. Mitte vierzig, volles Haar, gute Figur, eigentlich genau ihr Beuteschema.
„Oh, verzeihen sie gnädige Frau, ich bin unhöflich. Darf ich?“, er sprang wieder auf, verbeugte sich knapp vor Elvira und lächelte gewinnend.
„Aber selbstverständlich“, flötete die zurück und sorgte sich gleichzeitig um ihr Make-up, das noch vom Vorabend stammte. Shit, dachte sie, wenn ich das gewusst hätte…
Sie nahmen beide schweigend einen Schluck Kaffee. Der Fremde lächelte Elvira schüchtern an. Ach ist der süß, fand sie. Das war ein ganz anderes Kaliber als Kurt Meier. Sie beschloss auf der Stelle ein wenig mit dem Typen zu flirten. So würde sie schon sehen, was dabei herauskam.
„Was hatten Sie denn schon so schwieriges zu erledigen?“, lächelte sie ihn an.
„Wie meinen Sie?“, antwortete er, scheinbar etwas irritiert.
„Na, wegen der wundgelaufenen Füße?“
„Ach so. Ja. Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn.“
„Wohnt der hier in der Gegend?“
„Eigentlich nicht, aber er soll hier gesehen worden sein. Er hatte einen Unfall und ist möglicherweise verletzt. Ich mache mir große Sorgen um ihn.“
Mist, der Arsch ist verheiratet. Dacht ichs mir doch. Elvira beschloss noch ein wenig auf den Busch zu klopfen.
„Ohje, da macht sich Ihre Frau bestimmt auch nen Kopp.“
„Nein, nein die Mutter des Jungen ist bei der Geburt gestorben“, erklärte er mit traurigem Gesicht. „Seitdem hat er nur noch mich.“
„Ach herrje, wie traurig. Wie alt ist denn Ihr Sohn und wie sieht er aus? Vielleicht ist er hier ja schon wem begegnet."
„Alle die ich bisher gefragt hab, wussten leider nichts. Er ist neunzehn, hoch aufgeschossen schlank, dunkelblond, noch ´n paar Pickel und er soll eine Verletzung im Gesicht oder am Kopf gehabt haben.“
Stimmlage und Gesichtsausdruck verrieten deutlich die Sorge eines liebenden Vaters um sein verlorenes Kind.
„Das ist ja toll. Nein, natürlich nicht toll, aber ich glaube ich kann ihnen helfen: So einer ist mir übern Weg gelaufen.“
„Wenn das wahr wäre. Wo, wo? Sagen Sie, schnell, damit ich losrennen und ihn holen kann!“, die aufkeimende Hoffnung ließ die Züge des Mannes leuchten. „Bitte Fräulein… Sagen Sie mir: wo haben sie ihn gesehen?
Elvira ließ sich nicht lange bitten und erklärte ihm haarklein, wo er den Gesuchten finden könne, nämlich in ihrem Plattenbau, genau in der Wohnung über ihr. Da sei in den letzten Tagen ein verschüchterter Junge aufgetaucht.
Der Chef strahlte Elvira an: „Gnädiges Fräulein, sie retten mir das Leben. Würden sie hier auf mich warten? Ich bin in einer Viertelstunde zurück. Damit ich mich gehörig bei Ihnen bedanken kann“, fügte er charmant hinzu.
Elviras Begeisterung kannte keine Grenzen. Natürlich würde sie warten. Sie hatte auch schon ein paar Ideen, wie dieser Dank aussehen könnte. Und die Viertelstunde konnte sie nutzen, um sich auf Cems Toilette etwas zu restaurieren. Schließlich wollte frau ja einen ordentlichen Eindruck machen.
Derweil war der Mann aufgesprungen, hatte überschwänglich Elviras Hand geküsst und mit den Worten „Bis gleich!“ den Späti verlassen.
*****
Eine gute halbe Stunde später betrat Kurt Meier schwungvoll und mit einem Schwall frischer Luft das Etablissement.
Dich kann ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen, dachte die etwas zappelige Elvira, die nach einigen Renovierungsarbeiten an ihrem Make-up unruhig auf ihrem Barhocker saß.
„Moin Kurt“, brummte sie missmutig. „Was machstn Du schon hier?“
„Kaffe!“, befahl der lakonisch und Cem griff nach der Kanne und einem frischen Becher.
„Stellt Euch vor! Gerade ham se een vahaftet. Son Typ in Anzuch, wahrscheinlich Jeheimpolizei, hat son dünnen Kerl abjeführt. So richtich mit Arm aufem Rücken und so. Hat im Jesicht jeblutet. Sicher son Stricher oder Rauschgiftdealer. Find ick ja richtich, dit die Bullerei die gleich aussem Verkehr zieht. Schade dit Ulrike nich dabei war. Is ja schließlich auch ihr Kiez.“
Elvira sah auf die Uhr. Na gut dachte sie. Die Wiedersehensfreude wird ihn übermannt haben. Ne halbe Stunde geb ich ihm noch. Und ansonsten, weiß er ja, wo ich wohne.