Der Scheck
Vor fast genau zwei Jahren, habe ich an dieser Stelle eine Geschichte veröffentlicht, die einen tragischen Ausgang nahm.
Alternative Fakten oder Oktoberdepression im Hause Meier
Alles Gute zum Geburtstag, Camilla
Ich habe den Text fortgesetzt und er beschäftigt sich mit den Folgen dieses Ereignisses. Er ist etwas länger geworden, weswegen ich ihn teilen muss. Und er nimmt diesmal auch kein tragisches Ende. Ich wünsche viel Vergnügen damit.
Der Scheck
Polizeihauptmeister Willi und seine Kollegin standen nach einem anstrengenden Frühdienst in der kleinen Küche. Ulrike hatte eben einen Feierabend-Kaffee zubereitet und sie nippten schweigend an dem dampfenden Gebräu, als der Türsummer schnarrte.
„Nicht wieder ein Zeitungsverkäufer“, murmelte die Polizistin und stapfte zum Eingang, bereit, dem nächsten Hausierer eine ordentliche Abfuhr zu erteilen. Die Platte schien bei derartigen „Mausfallenhändlern“, wie Ulrike die Drücker spaßeshalber nannte, hoch im Kurs zu stehen.
Zu ihrer Überraschung fand sich jedoch eine völlig andere Besucherin. Es handelte sich um Carola Kling, die Gerichtsvollzieherin.
„Caro? Hast Du Dich in der Tür geirrt? Ich hab alle meine Rechnungen bezahlt“, lachte Uli, „komm rein, willste nen Kaffee? Willi und ich haben gerade Feierabend gemacht.“
„Nein Uli, ich bin privat hier und den Kaffee nehme ich gerne.“
Die beiden Frauen schlängelten sich in die winzige Kochnische und Willi rückte zur Seite.
„Na Caro? Wieder Ärger mit einem Deiner Kunden? Der muss bis Montag warten. Wir haben Feierabend“, meinte er gemütlich.
„Nu sag, wo drückt der Schuh?“ Uli goss einen Kaffee ein, „Milch? Zucker?“
„Schwarz. Danke schön. Ja, der Schuh, wo drückt er? Ich bräuchte mal einen Rat und schließlich seid Ihr ja meine Freunde und Helfer“, lächelte sie.
„Sind wir. Schieß los“, fiel ihr Willi grinsend ins Wort, „wir lösen jedes Problem.“
„Das glaube ich Dir aufs Wort, Willi. Es geht um Camilla.“
Ulrike machte große Augen. „Um Camilla? Die ist doch schon fast zwei Jahre tot. Was hat sie denn verbrochen, das die Polizei jetzt noch interessieren könnte?“
„Sie bekommt Blumen. Jeden Freitagnachmittag. Aufs Grab.“
Willi verschluckte sich an seinem Kaffee. Ulrike lachte glucksend. „Und was ist daran so furchtbar? Ich würde mich freuen, wenn jemand nach meinem Abgang an mich denkt.“
„Hmm…“, Carola wirkte verunsichert. „Ja, so gesehen ist das nicht weiter schlimm. Nur… Camilla hatte keine Angehörigen, wie Ihr wisst und ich frage mich, ob es da nicht doch jemanden gab.“
„Haste ein schlechtes Gewissen wegen der Erbschaft?“
„Hab ich nicht. Camilla ist verarmt gestorben und das Wenige, das sie hinterlassen hat, reichte gerade für Beerdigung und Grabstein“, entgegnete Carola, „es würde mich nur interessieren…“, und nach einer Pause, „…war ne doofe Idee. Sorry, dass ich Euch damit belästigt habe. Danke für den Kaffee.“ Carola trank aus und machte Anstalten, zu gehen.
„Jetzt mal langsam, junge Frau“, hielt sie die praktisch denkende Ulrike zurück. „Wenn Dich das so bedrückt, mache ich Dir einen Vorschlag: Heute ist Freitag, ich wollte schon lange mal wieder auf den Friedhof, meinen Sohn besuchen. Das Wetter ist auch schön. Was hältst du davon, wenn wir eben bei Cem ein paar Blumen kaufen und gemeinsam einen Spaziergang machen? Vielleicht treffen wir ja Deinen Unbekannten, ist doch seine Zeit, oder?“
Carola nickte. „Danke, Uli. Du bist super.“
„Weiberkram“, murmelte Willi. „Ich geh dann mal nach Hause und fange schon mit dem Wochenende an.“
Uli warf die schwere Polizeijacke über und die beiden Frauen machten sich auf den Weg. Cems Blumenauswahl konnte zwar mit der eines Fachgeschäftes nicht konkurrieren, aber sie fanden einen leidlich brauchbaren Strauß und liefen die wenigen Schritte bis zum Stadtteilfriedhof. Und tatsächlich: als sie sich Camillas Grab näherten, konnten sie bereits einen Mann erkennen, der sich dort zu schaffen machte.
„Haben wir Dich, Du Verbrecher!“, griente Uli, „Dann wollen wir Dir mal auf den Zahn fühlen.“ Ohne lange Umstände stiefelte sie, Carola im Schlepptau, drauf los. Der Besucher ließ sich durch die beiden nicht stören. Er stand, ein wenig versunken lächelnd, an Camillas Grab und schien ein Gebet zu sprechen.
„Verzeihen Sie, wenn ich Sie in Ihrer Kontemplation störe“, sprach Ulrike ihn an. Boah, kennt die Wörter, dachte die Gerichtsvollzieherin, man sollte wirklich mehr Hochachtung vor der Polizei haben. „Kannten Sie Frau Dr. Engler?“
Der Mann reagierte nicht gleich. Er sammelte sich einen Augenblick, wandte den Blick vom Grabstein und realisierte, offenbar erst jetzt, die hinter ihm stehende Polizistin.
„Guten Tag, meine Damen“, und dann zu Ulrike gewandt, „fragen Sie dienstlich, Frau Kommissar? Hab ich was falsch gemacht?“
„Hauptmeisterin genügt“, strahlte diese ihn an. „Nein, ich bin privat hier. Lassen Sie sich durch die Uniform nicht täuschen. Wir haben uns nur über die wöchentliche Blumenlieferung gewundert.“
„Dann gestatten Sie bitte zunächst, dass ich mich vorstelle“, entgegnete der Mann förmlich, „ich heiße de Freyming, Sébastien de Freyming und Sie haben richtig vermutet: Ich kannte Frau Dr. Engler. Warum interessiert Sie das?“, fragte er verbindlich.
Carola musterte den Friedhofsbesucher unauffällig. Eine attraktive Erscheinung, Glencheck-Anzug, Fliege, ein hellblaues Hemd und offenbar tadellose Manieren.
„Nun, Camilla, Frau Dr. Engler hatte meines Wissens keine Angehörigen und ich wundere mich seit geraumer Zeit über die frischen Blumen“, griff Carola in das Gespräch ein.
„Gehe ich in meiner Vermutung recht? Sie sind Carola Kling, Camillas Nichte, die Gerichtsvollzieherin?“
„Nichte ist eigentlich unrichtig, obwohl ich sie als Kind oft Tante nannte. Eigentlich bin ich die Tochter ihrer Freundin…“
„Sybille!“, fiel ihr de Freyming ins Wort.
„Sie sind erstaunlich gut informiert, Herr… - Verzeihen Sie, nun habe ich Ihren Namen vergessen.“ Carola errötete über den Fauxpas.
„Das ist nicht weiter tragisch. Dem kann ich abhelfen.“ Er zückte ein kleines goldenes Etui, das er in der Brusttasche trug „Hier, dann muss ich auch die französische Schreibweise nicht erklären“, lächelte er und drückte Carola die Karte in die Hand.
„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Herr de Freyming. Ich bin immer davon ausgegangen, Camilla sei nicht nur alleinstehend, sondern auch ohne weiteren Bekannten- und Freundeskreis. Sie sehen mich verblüfft. Ob Sie mir wohl berichten würden, warum uns Camilla so einen attraktiven Mann unterschlagen hat?“ Carola bis sich auf die Zunge. Habe ich das gerade wirklich gesagt, fragte sie sich?
Ulrike grinste und deutete auf den Blumenstrauß. „Ich hab noch was zu erledigen. Darf ich Dich hier im Stich lassen, Caro?“ Ohne die Antwort abzuwarten, nickte sie den beiden freundlich zu und trollte sich.
„Sehr gern, Frau Kling. Wenn Sie mögen, können wir uns miteinander verabreden. Meine Nummer haben Sie ja jetzt.“
„Bitte… Es läge mir sehr am Herzen. Haben Sie noch etwas Zeit? Es ist schon fast Abend. Vielleicht könnten wir eine Kleinigkeit zusammen essen?“, sie deutete seinen fragenden Blick als Ablehnung und bemühte sich hinterher zu schieben: „Bitte verzeihen Sie, ich muss Ihnen wie ein Trampel vorkommen. Normalerweise lade ich auf dem Friedhof keine fremden Herren zum Essen ein.“ Ich werde schon wieder rot, dachte sie. Vielleicht sollte ich besser nach Hause gehen und die ganze Aktion verschieben. Wieso irritiert mich der Kerl so?
„Sie sind bezaubernd. Camilla hat in unserer Unterhaltung sehr gut und liebenswürdig von Ihnen gesprochen und ich wäre wirklich erfreut, wenn Sie mir ein wenig Ihrer Zeit schenkten“, drehte er den Spieß um. „Auf mich wartet niemand und die Aussicht, etwas mehr über die Verstorbene, die ich sehr mochte, zu erfahren, ist mir mehr als ein Abendessen wert.“
„Sie sind natürlich eingeladen.“
„Nein, machen Sie mir die Freude und seien Sie mein Gast, einverstanden?“
„Das kann ich nicht akzeptieren. Schließlich will ich ja etwas von Ihnen.“
De Freyming nickte. „Dann los. Es wird langsam frisch.“
Die überschaubare Auswahl an Lokalen in der Nähe führte die beiden zwangsläufig zu Angelos Pizzeria, gleich neben Cems Spätie gelegen. Um diese Zeit hielt sich der Betrieb in Grenzen. In einer Nische am Fenster saßen Elvira Rothut und Kurt Meier. Erstere nickte Freyming freundlich zu, was ihm einen fragenden Blick aus den grauen Augen der Gerichtsvollzieherin eintrug. „Kennen Sie die Dame?“, raunte sie.
„Das erzähle ich Ihnen gleich.“
Freyming fand einen passenden Tisch, rückte Carola den Stuhl zurecht und nahm selbst auch Platz. Den eifrig mit der Karte herbei wieselnden Angelo beschied Carola mit der Bitte um einen Barolo sowie einer Portion Gnocchi mit Käsesauce und ihr Begleiter schloss sich in beiden Punkten an. Während der Patron sich auf den Weg zur Küche machte, begann Sébastien mit der Erklärung über seine Bekanntschaft zu Frau Rothut.
„Ich lernte Camilla am Vorabend ihres siebzigsten Geburtstages kennen.“
„Da erst?“, warf Carola ein, „das war die Nacht in der sie… starb.“
„Ja. Einige Tage nach diesem Ereignis, versuchte ich erneut zu Ihrer Tante Kontakt aufzunehmen. Mein mehrfaches Klingeln an deren Wohnungstür blieb erfolglos. Allerdings rief es diese Dame“, er deutete mit dem Kinn auf Elvira, „auf den Plan, die mir ungefragt jedes ihr zugängliche Detail über Camillas Todesumstände auftischte. Eine Einladung auf einen Kaffee in ihre Wohnung lehnte ich allerdings dankend ab. Ich war völlig schockiert. Was konnte eine, aus meiner Sicht, dem Leben zugewandte Dame von Camillas Zuschnitt zu einer solchen Tat bewogen haben? Gleichzeitig nagten bittere Selbstvorwürfe an mir. Hätte ich ihre Absicht nach dem Verlauf des Gespräches erkennen können? Hätte ich sie retten können? – Vermutlich nicht, denn unser Treffen nahm ein recht abruptes, von ihrer Tante initiiertes Ende, das fast einem Rauswurf gleichkam.“
Angelo servierte den Rotwein.
„Auf Camillas Wohl. Ich wollte, ich hätte sie besser gekannt.“ Sébastiens ernster Miene entsprachen die Tränen, die in Carolas Augen stiegen. Sie nickte wortlos und auch de Freyming schwieg, nachdem sie getrunken und ihre Gläser wieder abgesetzt hatten. Einige Minuten stockte die Konversation. Jeder der beiden hing den Erinnerungen nach, die man mit dem schrecklichen Ereignis verband.
Indessen schleppte der Kellner die bestellten Speisen herbei, wünschte guten Appetit und überließ die Gäste sich selbst.
„Ich kann die Geschichte meines Zusammentreffens mit Camilla nicht erzählen, ohne etwas weiter auszuholen“, begann de Freyming schließlich.
„Nur zu. Auch ich habe heute nichts mehr vor und Sie werden in mir eine gute Zuhörerin finden“, lächelte Carola. Und so berichtete Sébastien so ausführlich, als es ihm tunlich erschien und diskret genug, um das Ansehen der Verblichenen nicht zu schädigen, von jenem Abend, dem Besuch, dem Essen, einigen Teilen des Gesprächs bis hin zu dem von ihm fast als „Rauswurf“ empfundenen, plötzlichen Ende des Abends.
Derweil hatten die beiden ihre Teller geleert, noch einen weiteren Wein getrunken und de Freyming hatte je einen Espresso mit Sambuca für sie bestellt. Der Mann wusste fesselnd zu erzählen, was nicht ohne Wirkung auf Carola blieb. Immer wieder stahlen sich einige Tränen in ihre Augen und irgendwann hatte ihre Hand de Freymings Zeigefinger erobert und während des weiteren Gesprächs nicht mehr losgelassen. Er ließ diesen Kontakt zu, mehr noch, fühlte er stattdessen eine angenehme Wärme in sich. Carola unterbrach ihn nicht, obwohl ihr die eine oder andere Frage auf der Zunge lag, genoss die angenehme Stimme und lauschte. Als er geendet hatte, saßen sie noch eine Weile still, bis sie irgendwann seufzte und unvermittelt fragte:
„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, lieber Herr de Freyming, aber einige Dinge hätte ich gerne noch gewusst. Würden Sie mich nach Hause begleiten? Ich möchte Ihnen einige Hinterlassenschaften zeigen, deren Umstände und Herkunft wir vielleicht gemeinsam aufklären könnten.“
„Wenn ich Ihnen damit helfen kann, sehr gerne, liebe Frau Kling.“
„Bitte nennen Sie mich einfach Carola“, entgegnete diese schlicht.
„Sébastien.“ Er bestätigte sein Einverständnis mit einem Nicken. Carola beglich, wie versprochen, die Rechnung und sie machten sich auf den Weg.
Die Gerichtsvollzieherin wohnte in einer geräumigen Altbauwohnung, in der sie auch ihr Büro unterhielt. Das Gebäude hatte, wie etliche seiner Nachbarn, auf wundersame Weise den Krieg und die sozialistische Abrissbirne überstanden und barg drei schöne Behausungen, von denen Carola die im Dachgeschoss gemietet hatte. Sie führte ihren neuen Bekannten ins Wohnzimmer, hieß ihn Platz nehmen, verschwand in der Küche und brachte wenige Minuten später duftenden Kaffee, je einen Cognac und einen Aschenbecher. Sébastien blickte sie fragend an.
„Sie wundern sich über das Arrangement? – Nun, ich war diejenige, die Camilla nach ihrem Suizid auffand. Sie hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, die Küche aufzuräumen und sie rauchte normalerweise auch nicht. Ich kann also die vorgefundenen Überreste wohl ohne Mühe Ihnen zuordnen“, lächelte sie.
„Sicher braucht man in Ihrem Beruf auch eine gehörige Portion detektivischen Spürsinn“, nickte ihr Gast anerkennend. „Tatsächlich haben sie meine drei größten Schwächen herausgefunden. – Darf ich?“ Er zog eine Packung wohlriechender Meharis Mocca aus der Jackentasche.