Fünfer mit Superzahl
Was der Volksmund über Albert Einsteins Relativitätstheorie zu wissen glaubt, wird meistens mit der Formel “Alles ist relativ” zusammengefasst. Um es kurz zu machen: Es stimmt.
Berlin, 17.7.
„Dit jibs doch nüsch!“ brüllte Kurt Meier, ließ den Lottozettel fallen, drückte die Kippe im schmuddeligen Aschenbecher aus und nahm mit zitternden Händen einen Schluck aus der Wodkapulle. „Dit jibs doch nüsch. Dit jibs doch nüsch. Dit jibs doch nüsch.“
Er konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Fahrig versuchte er sich einen frischen Sargnagel zu drehen, wobei die Hälfte des Tabaks statt auf dem Zigarettenpapier auf dem Tisch landete. Aus alter Gewohnheit schob Kurt die Krümel sogleich wieder zusammen und zurück in den Tabaksbeutel. Er hielt einen Augenblick inne. „Scheiß doch druff! Ick bin reich!“, schrie er und schmiss das Behältnis mit Schwung gegen die Wand. „Ab sofort kann ick mir Konfektionierte leisten. Und anständijen Schnaps!“
Er nahm noch einen kräftigen Schluck aus der Pulle und knallte diese dann zielgenau an dieselbe Stelle, die er schon mit dem Tabaksbeutel getroffen hatte. Mit lautem Klirren zerbrach die Flasche. Der Inhalt zeichnete auf dem Weg nach unten mit bizarren Fingern das Muster der verschossenen Tapete nach.
„Irgendwo ha`ck doch noch, vaflucht…“, tobte er und begann den Stapel Unrat auf seinem Wohnzimmertisch zu durchsuchen. „Wees ick doch jenau. Et war nen Zwanni.“ Nachdem der ganze Plunder Stück für Stück auf dem Fußboden gelandet war, fand sich tatsächlich der gesuchte Geldschein zwischen einer leeren Käsepackung und einem Stück vertrockneter, angegammelter Wurstpelle.
„Wie kann man nur so leichtsinnig mit dit Jeld umjehn, besonders wenn man nie welches hat“, wunderte er sich in einem Anfall philosophischen Tiefsinns. Er warf einen Blick auf sein Handy. „Supi. Der Späti hat noch uff. Nu hau ick dir uffn Kopp“, lächelte er den Zwanni dabei zärtlich an. Er klaubte den Lottoschein vom Boden, faltete ihn sorgfältig, schnappte den Wohnungsschlüssel und verließ wie er war, in Puschen und Unterhemd, die Wohnung. Bei der Hitze brauchte man sonst nix und der Späti befand sich gleich gegenüber.
Cem, der Inhaber des Kiosks, kannte seine Kundschaft gut und wusste genau um die jeweilige finanzielle Lage seiner Klientel. Als er Kurt auf Schlappen andackeln sah, stellte er schon mal einen Sechserpack Maurerbomben auf den Tresen und legte einen Beutel Landewyck Silver dazu. Das war die übliche Einkaufsmenge bis zum 20. eines Monats. Danach gabs meist den billigen „Ja“-Tabak und eine einzelne Halbliterflasche. Zwischen dem 27. und dem 1. wurde angeschrieben und am 2. pünktlich gezahlt, weil Cem sonst stante pede die Belieferung einstellte.
„Na, Kurti? Dit Übliche? Ha´ck Dir schon bereitjestellt, alta Schwede, sollst ooch nüsch leben wien Hund.“ Cem, entgegen seines türkischen Namens, ein waschechter Berliner, vor zweiundvierzig Jahren als Sohn anatolischer Auswanderer im Wedding geboren, hatte ein Händchen für seine Kundschaft. Neben einer gewaltigen Hakennase verfügte er über den merkantilen Geschäftssinn eines levantinischen Wucherers.
„Nee, Alta, heut lass ick die Puppen tanzen. Ne jroße Schachtel Marlboro und ne Flasche Cognac, aber von dem juten.“ Cem bekam große Augen.
„Sachma, Kurti“, wunderte er sich „haste etwa im Lotto?“
„Ja, Mensch, det ha´ck! Fümfa mit Extrazahl!“ freute sich Kurt lautstark.
„Nee, oda? Echt jetzt? Dit jibs doch nüsch.“
„Jenau dit ha´ck ooch jesacht, als die Zahlen rausjekommen sind, aba et stimmt. Hier, kanns gucken…“ Er hielt dem Türken den Lottozettel hin. Der prüfte die Zahlen und nickte anerkennend mit dem Kopf.
„Mensch, Kurti“, meinte er, „dit werden glatt zehn Riesen, zwölf, mitn bisschen Masel.“
„Wattn? Mehr nüsch? Hab doch gelesen da hat schon mal eener Fuffzichtausend für jekriegt?“
„Kann schon sein“, gab Cem zurück. „Is schon vorjekommen, aba selten. Jedenfalls freu ick mich vor Dir. Sollst Deinen Cognac haben und die Kippen. Macht zweeundzwanzigachtzig.“
Enttäuscht blickte Kurt auf den Zwanziger in seiner schmuddeligen Hand. Mist. Nicht mal dafür reichte die Barschaft.
„Na komm, gib her“, kam ihm der gutmütige Cem entgegen. „Die zweeachtzich kannste zahlen wennde flüssich bist.“
Kurt reichte widerstrebend den Blauen über den Tresen. „Sach ma, Cem?“
Der Türke ahnte, was nun kommen würde.
„Wieviel, Kurti?“, fragte er.
„Fünfhundert?“
„Zwei Braune, Kurti und der Lottoschein bleibt als Pfand hier, falls Du vorhast kurzfristig in Urlaub zu fahren.“
„Scheiße, Cem. Ick will ma wieda einen wegstecken. Weeß schon jar nüsch mehr wie dit jeht.“
„Versteh ick, Kurti, versteh ick. Du willst den Rüssel tauchen? Zweihundert, mein letztes Wort!“
„OK“
Cem zählte vier Fünfzigeuroscheine auf den Tisch. „Aber ducemang, Kurti, ducemang. Dit Jeld kriegste frühestens inna Woche. Also tritt was aufe Bremse, wa? Und sieh zu, dit Erna Dir in ihrem Etablissemang nüsch übern Tisch zieht!“
Du kannst mir ma, dachte Kurt. Jetzt lass ick erst ma die Puppen tanzen und den Schampanninger in Strömen fließen. Die Pullabrause in dein Späti kannste selba saufen.
„Und pass mir bloß uff den Zettel uff! Ick komme wieda“, rief er zum Abschied und schlappte mit seiner Ware und dem Geld davon.
Cem seufzte. Er kannte die Menschen. „Allet wird jut“, murmelte er. „Oda ooch nüsch. Allah, mach ihm eine anständige Quote, hörst Du?“