Rothütchen und der Wolf
Das Leben ist kein Zuckerschlecken und so manche(r) tut sich schwer damit gegen seine Lebenserfahrungen anzukämpfen. Dass die Räder dadurch nur tiefer einsinken und der Karren sprichwörtlich eines Tages im Dreck stecken bleiben wird, ist oft nicht ohne weiteres zu erkennen. Wohl dem, der echte, reale Freunde hat, die dem Wortsinn auch gerecht werden, sprich: die Kraft haben, einen gelegentlich in den Hintern zu treten. Von den virtuellen achthundert Best-Buddies siehst du die meisten nicht einmal zu deiner Beerdigung. Was das mit dem folgenden Text zu tun hat? Nichts. Aber so ein wenig philosophisches Geschwätz zu Beginn einer Geschichte kommt immer gut.
Berlin, 13.2.
Elvira Rothut, von Freund und Feind gerne Rothütchen genannt, feierte in diesem Jahr ihren Siebenundfünfzigsten. Seit gut drei Jahren war sie arbeitslos, denn damals kreiste der Pleitegeier über dem Maklerbüro, für das sie tätig und mit dessen Chef sie in einem Anfall von Wahnsinn die Ehe eingegangen war. Dass Lebensstil und geschäftlicher Erfolg nicht zusammen passten, hätte ihr auffallen können, wenn sie denn ein Auge dafür gehabt hätte.
Bei schummrigem Licht und ein bisschen aufgebrezelt sah Elvira allerdings keinen Tag älter aus als neunundvierzig. Das wurde ihr gerade neulich wieder von so einem Milchbubi bestätigt, der sie in ihrer Stammkneipe, der Sonder-Bar angegraben hatte. Er wollte schon immer mal so eine tolle MILF abschleppen, hatte er unumwunden zugegeben und außerdem stehe er auf ältere Frauen, sogar wenn sie nicht mehr ganz so taufrisch seien. Elvira ließ ihn ziemlich kalt abblitzen, nachdem sie zunächst wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft geschnappt und die Backen aufgeblasen hatte. Sie brauchte keine Kneipenbekanntschaften. Das Netz war voll von knackigen Burschen, die sich alle zehn Finger nach ihr schleckten. Klar, sie hatte schon bessere Tage gesehen, aber so was wie dieser Youngster neulich spielte nicht in ihrer Liga und passte nicht im Geringsten in ihr Beuteschema.
Sie nahm noch einen Schluck von dem schal gewordenen Kaffee und verdrängte die trüben Erinnerungen. Ihrem aufgesetzten Selbstbewusstsein taten ihre temporär misslichen Umstände keinen Abbruch, wenngleich das Leben in den letzten Jahren anscheinend vorwiegend Zitronen für sie bereithielt. Natürlich traf sie daran keine Schuld. Im Gegensatz zu den anderen Hartzern hier in der Platte konnte sie auf eine gewisse Bildung und – ja, man darf es wohl so nennen -, intellektuelle Prägung zurückblicken. Die Hausbewohner betrachtete sie darum mit der gerechten Herablassung des Besserwissenden. Bei diesen Elendsgestalten durfte man sich nicht wundern, dass sie es zu nichts brachten und von Stütze leben mussten.
Sie selbst hatte seit Jahren immer auf die falschen Typen gesetzt, aber das konnte man ihr schließlich nicht vorwerfen. Der letzte Kerl hatte sie im Verlauf der Scheidung, vor knapp zwei Jahren, bis aufs Hemd ausgezogen und schlussendlich durfte sie froh sein, ihn von der Backe zu haben, diesen Loser. Die Schulden würde sie ohnehin nicht bezahlen können, also ging sie anschließend in Privatkonkurs. Sollte er glücklich werden, mit seiner Neuen, einer zwanzig Jahre jüngeren Fotze. Der Arsch. Sie würde schon Ersatz finden. Den Kerlen tropfte doch der Geifer, wenn eine wie sie auftauchte.
Im Handumdrehen war sie bei etlichen Single-Börsen und Erotikportalen, von friendship.net bis knatter-mich.de, angemeldet und harrte der sensationellen Dinge, die nun todsicher bald kommen mussten.
Im Moment läuft es noch nicht so gut, dachte sie. Naja, genau genommen läuft es von Anfang an beschissen. Viel Spreu und wenig Weizen, doch das wird sich ändern. Man muss positiv denken. Irgendwo wartet Mister Right. Er muss nur gefunden werden.
Auf den gelegentlichen Hedonistenpartys, für die sie sich das Eintrittsgeld buchstäblich vom Munde ab sparte, sah es genauso beschissen aus. Jede Menge Blender. Die roch sie schon Meilen gegen den Wind. Wenigstens fanden sich immer ein paar Jungs, die ihre Drinks bezahlten und nach dem dritten Cocktail wurde es meistens recht lustig.
Gott sei Dank, wenigstens die einschlägigen Clubs waren für Frauen kostenlos. Man konnte sich nach Herzenslust satt essen und trinken und im günstigsten Fall gab es noch einen mehr- oder minder guten Fick als Zugabe. Wenn nicht – auch kein Problem. Schließlich war sie ja nicht bedürftig und hatte die freie Wahl.
Ihre diversen elektronischen Postfächer quollen bald über vor Angeboten und sie sah sich schnell genötigt, ein Lastenheft zu erstellen, eine Ankreuzliste, auf der zumindest die unabdingbaren Voraussetzungen postuliert waren. Dieser Liste fielen meist schon mehr als achtundneunzig Prozent der Schreiberlinge zum Opfer. Deren Post beantwortete sie gar nicht. Der Rest kam in die Feinfilterung und wenn sie damit fertig war, blieb - leider - in der Regel nichts.
An diesem trüben Wintermorgen, das Frühstück, bestehend aus vertrocknetem Toastbrot und billigem Aldi-Kaffee, ist noch nicht verdaut. Elvira, ungewaschen, etwas übernächtigt und frustriert von der langen Nacht in ihren Lieblings-Chatrooms, raucht bereits die vierte Kippe. Sie bemüht sich redlich, mit dem raubkopierten Fotoshop ein paar freizügige Selfies aufzupimpen, die sie heute als zusätzlichen Anreiz ins Netz stellen wird. Sie spielt mit dem Gedanken, die Qualmerei aufzugeben. Einfach zu teuer. Schlimm genug, dass sie ihren Flurnachbarn, diesen schmierigen Kurt Meier, bei dem die Gerichtsvollzieher aus und ein gehen, von Zeit zu Zeit anschnorren muss. Zudem will der Idiot jedes geborgte Gramm Tabak zurückhaben. Mit Zinsen. Die Alte von gegenüber, Camilla oder so ähnlich, rümpft auch immer die Nase, wenn sie über den Flur schleicht. Rauchen sei ungesund, wird sie nicht müde zu wiederholen.
Es klingelt an der Haustür. Elvira öffnet sie und sieht, wie ein adretter Typ im sauberen Blaumann mit einem Koffer in der Hand die steinernen Treppenstufen heraufkommt. Sie bleibt in der halbgeöffneten Tür stehen, rafft den dünnen, schäbigen Bademantel vor der Brust zusammen und schiebt schnell noch eine fettige Haarsträhne hinters Ohr. Auf den ersten Blick scheint der Blaumannträger gar nicht so übel. Groß, dunkelhaarig, gute Figur, Südländer vielleicht. Dem wird sie gleich einmal auf den Zahn fühlen.
Der Besitzer des Koffers hat indessen den Treppenabsatz erreicht und richtet das Wort an Elvira:
„Sind Sie…?“, beginnt er, wird aber sofort mit keifender Stimme und der Eloquenz, die frau nach etwa tausend genossenen Folgen von „Das Familiengericht tagt“ zur Rächerin der Enterbten qualifiziert, eingebremst:
„Bevor du überhaupt den Mund aufmachst, hör dir gefälligst erstmal an was ich zu sagen habe oder bist du auch einer von den Typen die eine Frau nie ausreden lassen? Ich kanns auf den Tod nicht ausstehen, wenn ihr Kerle schon beim ersten Blick nur an das Eine denkt. Als Frau habe ich schließlich auch Ansprüche und ich kann wohl erwarten, dass diese berücksichtigt werden. Schließlich habe ich studiert und muss mich nicht mit jedem Erstbesten abgeben. Ich treffe mich nicht mit Männern außerhalb meines Beuteschemas, damit das gleich klar ist. Wenn du jünger als 42 oder älter als 43 bist, kannst du gleich wieder abrauschen. Mit gebundenen Kerlen fange ich nichts an. Also schwirr ab zu Frau und Kind, wenn du zu dieser Kategorie gehörst.“
An der Stelle geht Elvira die Luft aus und sie holt tief Atem. Ihr stattlicher Busen hebt sich und der Mann mit dem Koffer sieht eine Gelegenheit den Redefluss zu unterbrechen. Mit wichtiger Miene legt er seine Stirn in Falten und streckt den Zeigefinger in die Luft:
„Ich komme…“, doch zu spät, Elvira reagiert sofort auf das Reizwort.
„Aha du gehörst also zu der Sorte, die schon kommt, wenn frau noch nicht mal warm geworden ist. Solche Burschen wie du stehen auf meiner „Geht-gar-nicht-Liste“ ganz oben. Wenn du nicht mal warten kannst bis das Vorspiel eingeläutet wurde, brauch ich weder dich noch deinen Scheißkoffer. Ich bin anspruchsvoll und habe meine Vorstellungen von einem Kerl, wie man das von einer Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht, auch erwarten kann. Ein bisschen Rücksichtnahme auf die weiblichen Bedürfnisse ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Darüber hinaus schadet es nicht, wenn Mann ein paar Gramm Hirn in der Rübe hat und nicht nur mit dem Schwanz denkt. Schließlich will ich mich nach dem Sex ja auch noch gepflegt unterhalten. Ein Nichtraucher kommt übrigens überhaupt nicht infrage. Keine Lust auf moralinsaure Vorträge, wenn ich nach dem Pimpern noch eine qualmen will. Eine sportliche Figur, ein BMI von unter fünfundzwanzig sowie die Fähigkeit auf gesellschaftlichem Parkett zu glänzen sind ja wohl Selbstläufer und müssen nicht extra erwähnt werden. Ich stehe nämlich auf Männer in Anzügen. Ach so und ehe ich es vergesse: Haare sind nur auf dem Kopf eine Zier. Sonst wo am Körper haben sie nichts verloren.“
Neuerliche Sauerstoffknappheit nötigt Elvira zu einem weiteren Atemzug und der Besucher riecht eine zweite Chance, sein Anliegen vorzutragen:
„Ich wollte…“ Weiter kommt er nicht, denn Elviras rauchgeschädigte Lungen füllen sich blitzartig wieder und sind somit mühelos in der Lage, den benötigten Luftstrom an die Stimmritze abzugeben.
„Haha! Du wolltest? Ja das denke ich mir. Jeder von euch Lumpen will irgendwas. Zuhören ist nicht. Immer erst mal die eigenen Wünsche durchsetzen aber so läuft das nicht bei mir. Ich habe die Muschi, also darf ich auch bestimmen und zur Abwechslung hörst du
mir nun mal zu und
ich setze dir meine Wünsche auseinander: ich stehe auf Big Dicks und wenn du keine 22x6 Zentimeter vorweisen kannst, hast du die Arschkarte gezogen. Zu den Techniken, die für mich unabdingbar sind, gehören: küssen, Cunnilingus, streicheln, Massagen, harter Sex, Anal, Squirting, Handjob und Jüngere. Was gar nicht geht, damit du das auch gleich weißt, ist Fetisch, Nylons, Strip und Fisting. Keine Tattoos. Ich suche nicht, denn ich werde gefunden und das ist ein für allemal mein letztes Wort zu diesem Thema.“
Der Mann mit dem Koffer wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß ab, während Elvira nach Luft schnappt. Er dreht sich wortlos um und macht Anstalten die Treppe wieder hinabzusteigen. Elvira starrt ihm atem- und verständnislos hinterher.
„Was wolltest du nun eigentlich, Koffermann?“, keucht sie.
„Mein Name ist Ede Wolf“, antwortet der Besucher und dreht sich noch einmal halb um. „Ich bin Installateur und soll im Auftrag der Hausverwaltung ihren Gasanschluss prüfen. Aber zu unserer besseren Kundschaft geht mein Chef gerne selbst. Der ist auch fürs Rohrverlegen zuständig. Ich sag ihm Bescheid, er meldet sich dann.“ Wolf rumpelt kopfschüttelnd davon. Der Koffer rattert am Treppengeländer entlang.
Elvira knallt die Tür hinter sich zu, steckt sich eine weitere Kippe an und widmet sich wieder ihren Bildern. „Na, dem Vollpfosten hab ich mal gezeigt, wo der Hammer hängt. Wohin du schaust, nur Pfeifen. Ja, verpiss dich du Lusche und schick mir deinen Chef. Dich setz ich auf Igno, zu den andern dreihundertvierundsiebzig Jammerlappen. Mal sehen, was es im Netz Neues gibt.“