@ lunikus
Gute Frage, lieber Lunikus!
Mir scheint es häufig so zu sein, dass viele nicht offen und ohne vorgefasste Meinung, frei von Scheuklappen und störenden Emotionen und vor allem nicht wirklich aufmerksam
zuhören können.
Allerdings machen es ihnen auch die, die gerade das Wort haben, nicht immer leicht. Wer erst mal am Reden ist, lässt leider häufig nicht einen Beitrag zum Dialog los, sondern einen langen, endlosen Monolog, dem man kaum folgen kann. Und oft ist der dann auch noch gespickt mit Schuldzuweisungen, Unterstellungen und Vorwürfen (meist ohne jede böse Absicht, sondern oft allein durch den Gebrauch von Du-Botschaften anstelle von Ich-Aussagen, also z. B. "Mit dir kann man nirgends hingehen! Immer blamierst du mich!" anstatt "Ich hab mich heute an deiner Seite nicht wohl gefühlt, weil das und das passiert ist. Können wir das beim nächsten Mal vielleicht anders machen?" usw.).
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Zu all den Menschen, die überall nur Feinde sehen und deshalb alles, auch das Harmloseste, meistens nur als Angriff werten, vermute ich Folgendes:
Erstens glauben viele, wenn man etwas an ihnen kritisiert, seien sie als Mensch insgesamt kritisiert - was natürlich Blödsinn ist. Wenn ich z. B. Deinen Beitrag kritisiere oder nicht gut finde, dass Du häufig in der Nase bohrst, muss ich noch lange nicht etwas gegen Dich als Mensch haben, ich kann Dich sogar besonders mögen. Aber viele fühlen sich in ihrer gesamten Persönlichkeit attackiert, wenn man nur mal vorsichtig andeutet, da könnten sie etwas nicht ganz richtig machen. Mangelndes Selbstwertgefühl, würde ich sagen.
Und wenn jemand etwas mit "starker" Überzeugung ausdrückt und behauptet (was an sich ja völlig okay und nichts Schlechtes ist), wird bei vielen Menschen ein Knopf aus der Kindheit gedrückt.
Fast jeder hat Eltern gehabt, die etwas strenger, bestimmender, behauptender im Tonfall wurden, wenn sie sich dem Kind gegenüber durchsetzen wollten. Sie wollten ja auch über das Kind bestimmen, ihm etwas aufzwingen und überstülpen (man nennt das auch "erziehen").
Und nun - sobald ein Tonfall etwas behauptender bzw. durchsetzender wird - "rutscht" man zurück in das Gefühl aus der Kindheit: Der Behauptende wird zu Mutter oder Vater, man selbst wieder zum Kind. Deswegen das Muster: „Ich klein - du groß. Deshalb geht es mir jetzt schlecht. Ich will aber nicht mehr klein sein, ich will mich nicht abgewertet fühlen, ich will nicht über mich bestimmten lassen! Also kämpfe ich gegen dich.“
Es geht also gar nicht mehr um die Sache, sondern darum, sich selbst zu behaupten, gegen vermeintliche (oft gar nicht vorhandene) Fremdbestimmung zu wehren, sich nicht unterdrücken zu lassen. Völlig überflüssig, denn der andere kann in einem Gespräch oder in einer Diskussion weder über mich bestimmen noch mir etwas aufzwingen, er kann mir nichts überstülpen und er ist auch nicht größer als ich – er hat nur eine andere Meinung! Und er will mich vielleicht auf etwas Wichtiges aufmerksam machen - das ich mir anschauen kann oder auch nicht. Ich bin also niemals in einem Gespräch zu etwas gezwungen, gegen das ich mich unbedingt wehren muss!
Doch leider passiert das häufig automatisch. Es ist jedoch ein lösbarer Automatismus, gegen den man selbst etwas tun könnte – denn man ist ja kein Kind mehr …
Nur weil der andere etwas mit Überzeugung und Begeisterung behauptet, muss man sich selbst nicht gleich klein machen, man kann und darf dem anderen dennoch auf Augenhöhe begegnen. Er will einen ja nur für etwas begeistern - nicht etwa einen unterdrücken oder beherrschen wie damals die Eltern. Es gibt also keinen Grund, gegen ihn zu kämpfen oder Widerstand zu zeigen.
Man kann bei der Sache bleiben, auch widersprechen, sich auseinandersetzen, diskutieren ... Oder auch vielleicht mal darüber nachdenken oder es probieren, was der andere so begeistert und bestimmend vertritt. Wonach es einem auch immer ist, man ist dem bestimmend Auftretenden und angeblichen Besserwisser niemals hilflos ausgeliefert.
Doch wenn ich mich ohnehin meistens wie ein kleines Kind fühle, dann wird dieser Knopf aus der Kindheit gedrückt (und das passiert bei Frauen aus irgendwelchen Gründen, wie mir scheint, etwas rascher als bei Männern, aber das ist nur mein persönlicher Eindruck und der mag falsch sein) – und ich bin prompt widerspenstig.
Damit mache ich es dem anderen und vor allem auch mir selbst unnötig schwer.
Vielleicht helfen Dir diese Gedanken und Anregungen ein bisschen weiter?
(Der Antaghar)