Das wahre Leben
ist in der Regel nicht so sauber gestylt, wie es manche hier als Idealvorstellung beschreiben. In der echten Realität entwickeln sich einfach manche Dinge, ohne dass sie rechtzeitig wahrgenommen werden.
Aus eigener Erfahrung:
Wir kannten uns schon über 7 Jahre, ohne dass da was war. Wir kamen auf einer gemeinsamen Kneipentour zusammen, hatten im Vorfeld schon öfter darüber gescherzt, dass wir uns mal gegenseitig sexuell „ausprobieren“ müssten (immerhin hatten wir viel „Gutes“ übereinander gehört). Es wurde eine zunächst romantische, dann aber auch ziemlich wilde Nacht.
Keine zwei Wochen später waren wir ein Paar. Weitere zwei Monate später zog sie bei mir ein, nach 18 Monaten Verlobung, im Sommer darauf Hochzeit, exakt neun Monate später das erste Kind, 1,5 Jahre später das Zweite.
Wir wussten von Anfang an, wie unterschiedlich unsere Bedürfnisse waren. Ich, der eher intellektuelle, visionäre Rationalist mit einem durchaus ästhetischen Anspruch, sie, die burschikose, pragmatische Macherin, die sowohl auf Stil, Umgangsformen oder Diplomatie pfeifen konnte. Ich lieber in kleiner Runde, zurückgezogen, auf tiefsinnige Gespräche aus, sie dagegen Partygirl, frech, forsch und scharf auf Ramba-Zamba.
Es musste irgendwann an die Oberfläche, auch wenn uns die ersten Jahre der Partnerschaft auf Trab hielten. Und es kam. Ich sehnte mich nach Nähe, Innigkeit, nach Gesprächen und verstanden werden, sie nach Leben, Umtrieb, Neuem, Abenteuer.
An dieser Stelle würde jeder Paartherapeut empfehlen, miteinander zu reden. Aber während ich das laufend mit anderen Menschen tat, war genau das ihr zuwider, sie tanzte lieber (übrigens auch eine Kommunikationsform). Wir bemerkten gar nicht, wie sehr unsere unterschiedlichen Bedürfnisse uns einander entfremdeten. Da hätten uns auch keine zwei arrangierte Wochen geholfen, weil wir gar nicht wahr nahmen, was geschah.
Ich hatte dann irgendwann eine Gesprächspartnerin, mit der ich immer öfter mein Bedürfnis stillte, oft bis spät in die Nacht. Sie fand irgendwann einen Tänzer, der sie immer öfter in ihre schillernde Welt begleitete. Aus der Bedürfniserfüllung durch Dritte wurde dann mehr, bei beiden, fast zeitgleich. Unser Glück: Als wir uns gegenseitig beim „Fremdgehen“ erwischten, war das schon beinahe erleichternd.
Wir haben uns nicht getrennt, sondern uns freigegeben. Daraus wurde eine Trennung auf Raten. Einige Monate lang saßen sie, ihr Liebhaber, ich und meine Geliebte an einem Tisch, meist zum Frühstück. Wir fühlten uns ach so polyamor (obwohl es den Begriff noch gar nicht gab). Am Ende waren zwei neue, strunzmonogame Paare entstanden: Sie und ihr Lover und ich und meine Gespielin.
Das alte Spiel begann von neuem. Und wieder ignorierte jeder Beteiligte die Bedürfnisse des neuen Partners. Denn man war ja verliebt. Alles war gut.
Heute, 11 Jahre später, beschwert sich meine Frau – die Geliebte von seinerzeit – darüber, dass ich zu wenig unternehme und Feiern immer nur im kleinen Kreis genieße (wir erinnern uns: Die redet gerne). Dass ich sie ans Haus fessele, nie ausgehen will und sie damit einschränke. Dass ich ihre Bedürfnisse nicht erfülle.
Dagegen frage ich mich: Was mache ich denn anders als sonst? Ich war doch schon immer so. Wieso kam sie auf die Idee, ich würde an ihrer Seite anders sein? Und warum sollte gerade ich Bedürfnisse erfüllen, die ich nie hatte?
Oh, und sie redet. Und redet. Und redet. Immer dasselbe. Beschwert sich, motzt, meckert, mault. Ich solle doch dies, ich solle doch das. Aber das bin ja nicht ich. Das sage ich ihr auch, immer wieder. Gespräche helfen ja angeblich. Aber sie kapiert offenbar nicht, dass sie es mit mir zu tun hat. Nicht mit einem Geschöpf ihrer Fantasie, sondern mit mir. Und ich von Anfang an so war, wie ich immer noch bin.
Ich sage ihr: Geh aus. Besuch dies, fahr nach dort. Wenn es Dir Spaß macht. Mir macht es keinen Spaß. Sie darauf: Dann ist es nicht dasselbe. Als Familie muss man doch auch mal was gemeinsam…
Resümee: Gegenseitig Bedürfnisse stillen geht nur, wenn einer sich verbiegt. Und wenn dann Weiden und Eichen zusammenleben, wird es schwierig. Dem einen ist es in der Natur, sich laufend zu verbiegen, dem anderen ist genau das zuwider bis unmöglich. Da wird es zwangsläufig ungerecht.
Gerechtigkeit entsteht erst, wenn jeder nach seiner Facon lebt. Zudem gibt es ja noch einen Arsch voll Gemeinsamkeiten, die machen übrigens die Mehrheit des Lebens aus. Wenige Punkte, die diskutiert werden müssen, aber da finden wir schnell einen Konsens (nein, keinen Kompromiss).
Und dann gibt es diese zwei, drei Punkte im Leben, die unvereinbar sind, lange bekannt und im Wesen von jedem verankert.
Warum kann man da nicht lockerlassen und den anderen so lassen, wie er ist? Warum sind genau das die ewigen Streitpunkte, die immer wieder "gesprächstechnisch aufgearbeitet" werden?
96% der Beziehung und des Lebensumfeldes sind okay. Erfüllend. Gemeinschaftlich. Einhellig. Aber um die 4% wird ein erbitterter Krieg geführt. Die müssen noch hingebogen werden. Am Ende werden diese 4% noch entscheidend sein.
Das verstehe ich nicht.
Ach ja. Wegen dieser 4% gibt es auch keinen Sex mehr. Oder es sind nicht 4, sondern 10%, die nicht stimmen, weil es keinen Sex mehr gibt. Darüber reden wir auch (sie redet ja gern, wir erinnern uns). Und sagt: Solange ich nicht bereit bin, mit ihr Ausflüge zu unternehmen hat sie das Gefühl, dass ihr Sex mit mir keinen Spaß macht.
Das verstehe ich noch weniger. Aber ich bin eben leider eine Eiche. Und die verbiegen sich sich nicht, die brechen irgendwann.
Wenn es nicht anders geht, brechen sie aus.